Die Blaue Revolution. Peter Staub
global seit 40 Jahren verhandelt wird, haben wir weitergemacht wie vorher und sind diese Krise nicht angegangen», konstatierte Ökologie-Professor William Ripple, der die Gruppe der Wissenschaftler mit seinem Kollegen Christopher Wolf von der Oregon State University in den USA anführte. Der Klimawandel beschleunige sich dabei noch schneller als viele Wissenschaftler erwartet hätten.
Die Forscher forderten in ihrem Beitrag im Fachjournal «Bioscience» Veränderungen vor allem in sechs Bereichen:
Umstieg auf erneuerbare Energien
Reduzierung des Ausstosses von Treibhausgasen wie Methan
Schutz von Ökosystemen wie Wälder und Moore
Weniger Konsum von tierischen Produkten
Nachhaltige Veränderung der Weltwirtschaft
Eindämmung des Anwachsens der Weltbevölkerung
Obwohl sich die Wissenschaftler*innen über das zunehmende Umweltbewusstsein und die Proteste der Fridays for Future-Bewegung freuten, machten sie auch klar, dass noch viel mehr passieren muss. Und sie erklärten sich bereit, «bei einem gerechten Wandel hin zu einer nachhaltigen und gleichberechtigten Zukunft zu helfen».[9] Bisher erhielten die über 11 000 Wissenschaftler von der Weltgemeinschaft allerdings keine konkreten Möglichkeiten, ihre Bereitschaft in die Tat umzusetzen.
Bereits zwei Monate vor dem weltweiten Aufschrei der Forscher*innen zeigte ein Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), des Weltklimarates der UNO, dass das Eis schneller schwand, die Meeresspiegel höher stiegen und die Ozeane stärker versauerten als vorhergesehen. Die deutsche Wissenschaftsjournalistin Alina Schadwinkel wusste schon vorher, dass die Ozeane eine wichtige Rolle spielten, um die weltweite Temperatur zu regeln. Die Dimension hingegen überraschte sie: Die Ozeane hatten rund 90 Prozent der Hitze aufgenommen, die seit 1970 durch das von Menschen produzierte CO2 verursacht worden war. Doch lange könne das die Ozeane nicht mehr durchstehen, wie der IPCC dokumentierte. Die Autor*innen des Berichts gingen von zwei Szenarien aus. Das erste Modell, das Paris-Agreement-Szenario, stellte den besten Fall dar, wonach die globale Temperatur bis ins Jahr 2100 «nur» um 1,6 Grad Celsius steigen würde. Das zweite Modell ging von der realistischeren Einschätzung aus. Im Business-as-usual-Szenario würde die globale Erwärmung bereits im Lauf des 21. Jahrhunderts die Zwei-Grad-Marke durchbrechen. Bis ins Jahr 2100 könnte die weltweite Durchschnittstemperatur um bis zu 4,3 Grad steigen.
Wie sich die Szenarien auswirken, zeigt sich am Anschaulichsten beim Anstieg des Meeresspiegels. Weil das Eis an den Polen schmilzt, stieg der Meeresspiegel seit 1993 um jährlich 3,3 Millimeter. Zuletzt erfolgte dieser Anstieg schneller als erwartet. Gemäss Schadwinkel dürfte der Anstieg künftig «noch mal höher ausfallen.» Nach dem zweiten, realistischeren Szenario des IPCC könnte das Wasser bis ins Jahr 2100 im globalen Durchschnitt um über einen Meter ansteigen. Ein halber Meter könnte es im optimistischeren Paris-Agreement-Szenario sein.
Dabei liegen die Klima-Forscher*innen bei ihren Prognosen wohl unter den tatsächlichen Veränderungen. Denn unterdessen steigt der Meeresspiegel doppelt so schnell wie am Ende des 20. Jahrhunderts, «und das wird sich weiter beschleunigen, wenn Treibhausgasemissionen nicht drastisch verringert werden», sagt der deutsche Meereswissenschaftler Hans-Otto Pörtner, der am IPCC-Sonderbericht mitgeschrieben hat. Die Rekordtemperaturen in der Antarktis vom Januar 2020 waren ein deutlicher Hinweis, welche Folgen der Rückgang des Eises in der Antarktis und in Grönland zeitigt.
Dass sich der Meeresanstieg global unterschiedlich auswirkt, ist unbestritten. «Flache Koralleninseln und flache Küstenstaaten wie Bangladesch, die nur wenige Meter über dem Meer liegen und nur wenig finanzielle und räumliche Schutzmöglichkeiten haben, werden vor allem vor den zunehmenden Wellendynamiken und Sturmintensitäten an die Grenzen ihrer Anpassungsfähigkeit und Bewohnbarkeit kommen», sagte Beate Ratter, IPCC-Autorin und Professorin für Geographie an der Universität Hamburg. Falls der Meeresspiegel um einen Meter steigt, werden rund 20 Prozent von Bangladesch überschwemmt. 30 Millionen Menschen wären unmittelbar davon betroffen.
Mumbai, Shanghai, New York, Miami, Bangkok, Tokio, Jakarta, Barcelona oder Marseille – an den Küsten der Erde leben rund 1,9 Milliarden Menschen. Rund 380 Millionen davon leben weniger als fünf Meter über dem Meeresspiegel. Wenn der Meeresspiegel auch bloss um einen halben Meter steigt, kann das allein in den 20 am meisten bedrohten Hafenstädten der Welt Kosten von rund 27 Billionen US-Dollar verursachen.[10]
Wie sehr die Ozeane das von den Menschen produzierte CO2 absorbierten, zeigte Mitte Januar 2020 eine neue Studie noch deutlicher. Ein Team von 14 Wissenschaftler*innen aus elf Instituten verschiedener Länder publizierte seine Ergebnisse im Fachjournal «Advances in Atmospheric Sciences». Darin belegten sie, dass die vergangenen zehn Jahre die höchsten Temperaturen der Meere seit Mitte des letzten Jahrhunderts brachten. Und sie wiesen auf die Folgen dieser Erwärmung hin: Wirbelstürme und heftige Niederschläge, dazu Sauerstoffarmut, Schäden für Fische und andere Lebewesen in den Meeren. Um zu zeigen, wie gigantisch die Wärme-Energie war, welche die Ozeane in den letzten 25 Jahren absorbierten, machten die Forscher*innen Vergleich: Die Menge entsprach der Energie von 3,6 Milliarden Atombomben von der Grösse der Bombe von Hiroshima.[11]
Praktisch gleichzeitig publizierte auch die amerikanische Unternehmensberatungsfirma McKinseys ein Szenario zum Klimawandel. McKinsey mit seinen weltweit rund 30 000 Mitarbeiter*innen ist kein systemkritisches Unternehmen, eine versteckte politische Agenda kann also ausgeschlossen werden. Dennoch befürchtet McKinsey Ernteausfälle, überflutete Flughäfen und ausbleibende Touristen. McKinsey sieht die Folgen der Erderwärmung für die Volkswirtschaften als verheerend an. Geschehe nichts, könne der Klimawandel «Hunderte Millionen Menschenleben, Billionen von Dollar an Wirtschaftskraft sowie das physische und das natürliche Kapital der Welt gefährden», prognostizierten die Berater von McKinsey in ihrer Studie «Climate Risk and Response». Darin analysierte das McKinsey Global Institute die Folgen des Klimawandels für 105 Staaten in den kommenden 30 Jahren. Für ihre Prognosen gingen die Autor*innen von der bisher realistischen Annahme aus, dass die CO2-Emissionen weltweit weiter steigen, da nennenswerte Massnahmen ausbleiben.
Von den volkswirtschaftlichen Folgen der Klimakrise wird besonders Indien betroffen sein, da dort ungefähr die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts unter freiem Himmel erwirtschaftet wird. Weil Hitze und Luftfeuchtigkeit zunehmen, wird diese Arbeit immer öfter unerträglich. Das könnte Indien bis 2030 bis 4,5 Prozent an Wirtschaftsleistung kosten. Doch Indien ist nicht allein, besonders betroffen sind auch Länder wie Pakistan, Bangladesch oder Nigeria. Falls die CO2-Emissionen weiter ansteigen, werden im Jahre 2030 gegen 360 Millionen Menschen in Regionen mit tödlichen Hitzewellen leben; bis 2050 könnte die Zahl bis auf 1,2 Milliarden wachsen.
Konsequenzen hat die Klimaerwärmung aber auch in anderen Regionen. Bis ins Jahr 2050 werden auch der Tourismus und die Lebensmittelproduktion am Mittelmeer leiden; das Klima in Marseille wird jenem von Algier von heute entsprechen. Die Gefahr durch Wirbelstürme und Flutwellen könnte den Wert von Immobilien im US-Staat Florida um 30 Prozent reduzieren. Die Erwärmung der Ozeane wird den Fischfang um rund acht Prozent verringern und die Lebensgrundlage von 650 bis 800 Millionen Bürgern weltweit beeinträchtigen. Und weil ein Viertel der wichtigsten 100 Flughäfen weniger als zehn Meter über dem Meeresspiegel liegen, werden diese ernsthaften Gefahren durch Flut und Sturm ausgesetzt sein, heisst es in der McKinsey-Studie.[12]
Forscher*innen und Wirtschaftsfachleute reden in ihren Untersuchungen und Studien zwar vom worst case, wenn sie davon ausgehen, dass sich kein wirksamer Klimaschutz durchzusetzt. Dabei ist der schlimmste Fall noch viel schlimmer. Und er ist die Realität.
Der worst case ist nicht, dass es beim bisherigen CO2-Ausstoss bleibt. Der schlimmste Fall ist, dass der CO2-Ausstoss weiter massiv ansteigt. Die globalen Treibhausgas-Emissionen stiegen in den letzten zehn Jahren um 1,5 Prozent jährlich. Deshalb wurde 2018 ein neuer Höchstwert erreicht. Deshalb wird die Menge Treibhausgase, die reduziert werden muss, immer grösser statt kleiner. Ende November 2019 veröffentlichte das Umweltprogramm