Die Blaue Revolution. Peter Staub
in den nächsten Jahren», sagte die Unep-Direktorin Inger Andersen.[13]
So alt diese Forderung war, erhört wurde sie nicht. Im Gegenteil, das Wachstum des CO2-Ausstosses wird vorerst weitergehen. Es gibt keinen weltweiten Plan, den Neubau von Kohlekraftwerken zu verbieten oder die Erschliessung von neuen Öl- oder Erdgas-Feldern innerhalb nützlicher Frist zu stoppen. Dabei ist der Fall klar: Um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, dürfte die Menschheit gemäss Weltklimarat insgesamt maximal noch 580 Gigatonnen CO2 produzieren, um spätestens bis zum Jahr 2050 CO2-neutral zu werden. Doch eine Studie, die im Juli 2019 im Fachmagazin Nature veröffentlicht wurde, zeigte, dass allein die bereits existierenden Verbrennungskraftwerke – Kohle, Öl und Gas – mit 658 Gigatonnen CO2 weit mehr Kohlendioxid ausstossen werden, wenn sie wie geplant weiter betrieben werden.[14]
Und es wird noch viel schlimmer.
Obwohl die Europäische Union Mitte Januar unter Propaganda-Getöse Tausend Milliarden Euro Investitionen in einen «Green Deal» ankündigte, um die EU bis ins Jahr 2050 klimaneutral zu machen[15], stimmte das EU-Parlament einen Monat später für eine von der EU-Kommission vorgelegte Liste mit 32 Gas-Infrastrukturprojekten. Für die Grünen war dieser Entscheid «eine Schande», weil er den Green Deal der EU untergrabe und mithelfe, den Planeten weiter aufzuheizen. Auch das Climate Action Network kritisierte den Entscheid: «Diesen Gasprojekten Priorität und Geld zu geben, bedeutet, Europas Zukunft über die nächsten 40 bis 50 Jahre in Gasabhängigkeiten zu zementieren und bis zu 29 Milliarden Euro an EU-Steuergeldern in unnütze Anlagen zu verschwenden.»[16]
Weltweit sieht es nicht besser aus. Im Oktober 2018 befanden sich über 1300 neue Kohlekraftwerke in Planung. Zudem planten mehr als die Hälfte der 746 Kohlekraftwerksbetreiber weltweit, ihre Anlagen zu erweitern. In rund 60 Staaten trieben Unternehmen und Investoren den Bau von Kohlekraftwerken voran. Über 200 Unternehmen bauten ihren Kohleabbau aus. Das publizierte die Global Coal Exit List, die von einer Gruppe von 28 Nichtregierungs-Organisationen geführt wird. Dabei war nicht der Energiehunger der Industrie oder der Bevölkerung für den Bau der neuen CO2-Schleudern entscheidend. Nein, es waren grössten Teils die Kohleminenbesitzer selbst, die ihre Kohle verfeuern wollten, um daraus Profit zu schlagen.[17] Und keine Regierung war im Jahr 2020 bereit, ihnen den Riegel zu schieben. Selbst das reiche Deutschland will erst im Jahr 2038 aus der Kohle aussteigen. «Die Inbetriebnahme eines neuen Kohlekraftwerks und das weitere Abbaggern von Dörfern lässt sich weder national noch international erklären», sagte Bundestags-Fraktionschef der Grünen Anton Hofreiter zu Recht.[18]
Der Klimawandel ist unterdessen so weit fortgeschritten, dass er nicht mehr bloss in Langzeitvergleichen, sondern gar im täglichen Wetter nachweisbar ist. «Seit April 2012 hatten wir weltweit betrachtet keinen einzigen Tag mit ‹normalem› Wetter», sagte Sebastian Sippel im Januar 2020. Der Forscher am Institut für Atmosphären- und Klimaforschung der ETH Zürich war Hauptautor einer Studie, die kurz zuvor im Fachmagazin «Nature Climate Change» veröffentlicht wurde. Neue Daten öffneten eine neue Perspektive in der öffentlichen Wahrnehmung des Klimawandels. Denn der Mensch orientiert sich an einzelnen und aktuellen Wetterereignissen, wie Mitautor und ETH-Forscher Reto Knutti sagte. Die Studie zeigte, dass nicht nur die Häufung von Extremereignissen Zeichen für den Klimawandel sind, sondern dass sich die Erderwärmung global gesehen sogar an jedem einzelnen Tag bemerkbar macht.[19]
Ein anderes Beispiel, wie stark die Klimakrise bereits eingesetzt hat, sind die zunehmenden Feuersbrünste. Sie haben Stephen Pyne dazu veranlasst, vom Pyrozän, dem Zeitalter des Feuers, zu sprechen, das nun angebrochen sei. Der Forscher der Arizona State University gilt als Pionier der Feuerökologie. Seine These des Pyorzäns belegt er unter anderem dadurch, dass es im Frühsommer 2019 in Alaska und Sibirien so intensiv brannte wie noch nie. Die Forscher im des Copernicus-Programms beobachteten im gleichen Jahr mehr als hundert Brandherde, für sie eine klare Folge der heissen und trockenen Bedingungen. In Indonesien brannten Torflandschaften, im Amazonasgebiet in Brasilien und Bolivien der Regenwald und die Brände in Australien waren verheerend wie selten zuvor. In den Bundesstaaten New South Wales und Queensland brannte es gar so stark wie noch nie, seit die Brände mit Satelliten erfasst werden.[20]
Der Klimanotstand war aber allerdings schon vorher soweit anerkannt, dass sich sogar die Menschenrechtsorganisation Amnesty International damit auseinandersetzte. «Millionen von Menschen leiden bereits jetzt unter den Folgen extremer Katastrophen, die durch den Klimawandel verschärft wurden: von anhaltender Dürre in Subsahara-Afrika bis hin zu tropischen Stürmen über Südostasien, der Karibik und dem Pazifik. Da der Klimawandel nicht nur für die Natur, sondern auch für die Menschheit verheerende Folgen hat, ist er eines der drängendsten Menschenrechtsthemen unserer Zeit», heisst es auf der Webseite von Amnesty International. Und weil der Klimawandel die bestehenden Ungleichheiten vergrössert, werden Menschenrechte «durch die globale Erwärmung direkt bedroht: das Recht auf Leben, Wasser, Nahrung, Zugang zu Sanitätseinrichtungen und auf eine angemessene Unterkunft.»
Die immer extremeren Folgen der Klimaerwärmung gefährden heutige und zukünftige Generationen unmittelbar. «Beim Engagement für den Klimaschutz geht es deshalb ums Überleben,» konstatiert Amnesty International. Doch nicht nur diese Gefahren machen der Menschenrechtsorganisation zu schaffen, sondern auch dass «in verschiedenen Weltregionen Umweltaktivist*innen bedroht, manche sogar ermordet» werden. Laut Global Witness wurden allein im Jahr 2017 über 200 Umweltschützer*innen getötet, weil sie ihr Land und dessen natürlichen Ressourcen verteidigten.[21]
Carola Rackete zitiert dazu in ihrem Buch «Handeln statt Hoffen» den UNO-Bericht Climate Change and Poverty aus dem Jahr 2019, der ebenfalls darauf hinwies, dass der Klimawandel «für Menschen, die unter Armut leben, verheerende Folgen haben» wird. Selbst im besten Fall werden Hunderte Millionen Menschen von Ernährungsunsicherheit, erzwungener Migration, Krankheit und Tod bedroht sein. «Der Klimawandel bedroht die Zukunft der Menschenrechte und birgt das Risiko, dass die Fortschritte der letzten 50 Jahre in den Bereichen Entwicklung, globale Gesundheit und Armut zunichte gemacht werden.»[22]
Für Rackete ist es deshalb eine Frage der Klimagerechtigkeit, anzuerkennen, dass «die Menschen, die am wenigsten zu diesem Desaster beigetragen haben, es am frühesten und am heftigsten zu spüren bekommen.» Die Folgen der Klimakrise werden zunächst vor allem jene Teile der Erde betreffen, in denen die Menschen viel schlechter geschützt sind als in den Industrieländern. «Diese Menschen besitzen keine Versicherung für ihre Häuser, keine medizinische Versorgung, keine Infrastruktur für Rettungsdienste.»[23]
Der Schweizer Chemie-Nobelpreisträger Jacques Dubochet bringt es den Punkt, wenn er sagt, die Menschheit stehe vor der grössten Herausforderung, die es je gab. Sein öffentliches Engagement gegen die Klimakrise begründet er so: «Ich bin seit kurzem Grossvater. Im Jahr 2100 wird unser Enkel 81 Jahre alt sein. Mit grosser Wahrscheinlichkeit werden dann die Lebensumstände wegen der Klimaerwärmung sehr schwierig sein. Es wird wahrscheinlich eine chaotische Welt sein, wenn wir die Lage nicht unter Kontrolle bringen, und zwar schnell.»[24]
Tatsächlich sprach sich Ende 2019 langsam herum, dass es allmählich höchste Zeit war, zu handeln. Der Grossteil der verantwortlichen Politiker*innen hatte es seit dem Umwelt-Gipfel der UNO in Rio von 1992 versäumt, in die Gänge zu kommen. Unterdessen ist es zwar bis weit ins bürgerliche Lager hinein Kosens, dass etwas getan werden muss. Aber Lösungen, die etwas kosten und die gezwungenermassen einen Teil des Lebensstils der satten Mehrheit in den industrialisierten Staaten infrage stellen, lassen weiterhin auf sich warten. Noch immer glauben zu viele, man müsse bloss ein paar Schräubchen am Getriebe des Systems anders einstellen.
Da braucht es neben den Naturwissenschaftler*innen auch Historiker*innen wie Philipp Blom, die Klartext sprechen: «Es geschieht alles viel zu langsam! Wenn wir erst 2050 tatsächlich carbonfrei werden, hat London die gleichen Sommertemperaturen wie Barcelona.» Blom wies Ende 2019 unmissverständlich darauf hin, dass nun «sehr schnelle radikale Handlungen notwendig wären.» Und er stellte zurecht die Fragen, ob die Fridays for