Hedi war hier. Katharina Günther

Hedi war hier - Katharina Günther


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Pass auf …!“ Und dann war er da … Der Name: „Pass auf Hedi auf“, denke ich, als der Arzt mir mein Fruchtwasser entnimmt.

      Ja, Hedi soll sie heißen. Was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Hedi bedeutet süße Kämpferin. Wie passend der Name ist, werden wir erst die nächsten Wochen merken.

      Hedi stand schon, neben 3-4 weiteren Mädchennamen von Beginn an auf unserer Namensliste. Eigentlich schon seit Florenz. Seit Arndt in unserem letzten Urlaub in einer florentinischen Weinbar diesen wunderschönen, seltenen Namen durch Zufall entdeckte. Als wir vor 11 Monaten in der Toskana über die Zukunft sprachen, die wir da noch hatten. Als wir uns vorstellen konnten, einfach nicht mehr zu verhüten, es einfach passieren zu lassen. Und es war passiert – nur 6 Monate nach Florenz.

      Und jetzt, weitere 5 Monate später liege ich da in der übergroßen, sterilen Praxis eines Pränataldiagnostikers und habe eine Nadel im Bauch. Eine Nadel, die Gewissheit geben soll, über etwas, was längst ausgesprochen ist: Hedi ist unheilbar krank. Sterbenskrank.

      Ich hatte große Angst vor der Fruchtwasser-Entnahme. Trotzdem habe ich zugestimmt. Schweigend, versteinert habe ich nur genickt. Was kann schon noch Schlimmeres in diesem Moment passieren, habe ich gedacht. Alles besser, als noch einmal hierher kommen zu müssen, in diese Praxis des Grauens. Denn das ist sie. Diese weiße, hochmoderne, viel zu schicke und viel zu große Praxis.

      Ich zittere. Ich weiß nicht warum. Ist mir kalt? Oder ist es die Angst? Oder der Schock? Mein Bauch wird schon wieder entblößt. Dass ich zittere, scheint aber niemanden zu interessieren.

      Ich will mir den Arm über meine Augen legen, einfach nichts sehen. Aber ich darf es nicht, sagt der Arzt. Meine Hände müssen neben meinem Körper liegen. Nicht mal Arndt darf in meiner Nähe sein. Er ist unsteril, sagt der Arzt. Weit weg in diesem großen Praxisraum platziert der Doc des Grauens ihn auf einen Stuhl. Dabei brauche ich ihn gerade jetzt in meiner Nähe. Seine Hand, die meine hält. Aber ich muss da allein durch.

      Der Arzt setzt die Nadel an, ein riesen Teil direkt neben meinen Bauchnabel. Ich starre an die Decke. Weine stille Tränen. Bete zu meinem Vater. Das ist der Moment, als aus unserer bis dahin noch namenlosen Tochter Hedi wird.

      Die Arzthelferin hält mir die Hand. Ich kann einfach nicht aufhören zu zittern. Nachdem der Arzt mein Fruchtwasser hat, will er auch noch Nabelschnurblut. Gierig wie ein Vampir, denke ich. Wofür denn, du hast doch schon das Wasser?!

      Er sticht wieder zu. Diesmal aber macht Hedi ihm einen Strich durch die Rechnung. Sie legt sich einfach VOR die Nabelschnur. Innerlich muss ich kurz grinsen, über meine listige, eigensinnige Tochter, die offenbar so dickköpfig ist, wie Arndt und ich. Eine süße Kämpferin eben.

      Der Art versucht trotzdem mit der Nadel um Hedi herum an die Nabelschnur zukommen. Es tut unfassbar weh. Aus meinen stillen Tränen wird lautes, schmerzhaftes Weinen. Endlich bricht er den Versuch der Entnahme ab. „Das Fruchtwasser reicht auch“, sagt Doktor Grauen. Ach auf einmal, denke ich wütend. Und wofür dann diese Tortur mit den extra Schmerzen? Gott, wie ich diesen Arzt hasse. Ich will einfach nur hier raus. Nach Hause. Mich verkriechen. Doch der Arzt hat uns noch was zu sagen: „Sie müssen sich entscheiden, was Sie nun tun wollen! Austragen oder Einleiten!“ Wie bitte? denke ich. Wie soll ein Mensch das entscheiden.

      „Denken Sie darüber nach. Sie dürfen ab dem dritten Ta g nach der Diagnose die Schwangerschaft abbrechen“ erklärt uns der Arzt, „überlegen Sie nicht allzu lange.“

      Ich bin schockiert Die Schwangerschaft abbrechen? In 3 Tagen? Oder austragen? Entweder-oder? Gibt es denn nichts dazwischen? Doch das gibt es. Nur wissen Arndt und ich das zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Unser einziges Glück in diesen Momenten ist es, dass wir das meiste ganz unterbewusst und intuitiv entscheiden. Das hat uns am Ende zwei weitere Monate mit unserer Tochter geschenkt.

      Dann reicht uns Doc Grauen zum Abschied die Hand, murmelt irgendwas von „Wünsche Ihnen viel Kraft“ und das wars. Mehr nicht. Dabei schaut er auf seinen Schreibtisch, statt uns in die Augen. Feigling.

      Ich will da nur noch raus. Weg von dieser Praxis. Arndt fährt. Mein Auto, womit ich eigentlich weiter zur Arbeit wollte – es war ja „nur“ eine Routineuntersuchung - lassen wir stehen.

      MAMA WERDEN ODER NICHT?

      Zuhause beginnt das Gedankenkarussell in meinem Kopf. Was nun? Wie geht es weiter? Was machen wir? Sollen wir wegziehen? Untertauchen? Ein neues Leben beginnen? Alles ist so wirr, so anders als noch vor 2 Stunden. Ich schäme mich. Schäme mich für die Krankheit meiner Tochter. Dafür, dass ich es nicht vermag, ein gesundes Kind auf die Welt zu bringen.

      Alles prasselt auf mich ein. Alles dreht sich. All diese unvorstellbar quälenden Fragen: Was sollen wir jetzt machen? Wie sollen wir uns entscheiden? Das Baby austragen? Die Geburt einleiten? Was ist danach? Wird sie wirklich sterben? Oder hat sie eine Chance? Leben erhalten oder Leben beenden? Beerdigen, Einäschern? Ich bin so durcheinander. Alles passiert gefühlt auf einmal in meinem Kopf. Ich fühle mich ausgeliefert. Und ich weiß, die Gedanken werden mich noch so oft quälen. Immer und immer wieder.

      Die Erinnerungen an den Tag des Schwangerschaftstest kommen zurück. Jede einzelne Vorsorgeuntersuchung ist wieder präsent – jedes Detail.

      Und dann die Frage: Werde ich wieder schwanger werden? Will ich es überhaupt noch mal und wenn ja: Wird es überhaupt klappen? Darf ich das überhaupt denken, jetzt wo Hedi in meinem noch Bauch lebt?

      Ich fühle mich schuldig. Und frage mich: Bin ich zu alt für eine Schwangerschaft? Bin ich zu egoistisch gewesen? War mein Lebensstil vor der Schwangerschaft zu ungesund? Schließlich habe ich vorher gelebt wie eine partysüchtige Studentin im Körper einer 38-Jährigen mit einer Minimum 50 Stunden Arbeitswoche. Habe ich mein Gen-Material selbst zerstört? Ist es Zufall was Hedi hat oder wird es wieder passieren? Nur eine von vielen tausend Fragen, die mich quälen. Jetzt und auch noch die nächsten Wochen. Auf eine dieser Fragen werde ich bald eine Antwort bekommen, wenn die Ergebnisse der Fruchtwasseruntersuchung vorliegen. Und zwar auf die Frage: Ist Hedis Krankheit Zufall oder tragen Arndt oder ich kaputtes Genmaterial in uns.

      Mein Kopf ist voll und gleichzeitig leer. Ich will etwas tun und bin doch wie gelähmt. Nur Aufschreiben meiner wirren Gedanken geht gerade. Und dummerweise lesen. Das wohl dümmste, was mir jetzt einfallen kann, ist es Internetartikel über Trisomien, Wahrscheinlichkeiten, Ursachen zu lesen. Immer wieder steht da: Das Alter der Mutter! Je höher das Alter der Mutter, desto höher die Wahrscheinlichkeit….

      Wahrscheinlichkeit, immer dieses Wort Wahrscheinlichkeit! War sie doch so gering. Bis heute. Dachten wir zumindest. Jetzt ist sie es nicht mehr. Jetzt ist aus „unwahrscheinlich“ und „selten“ Realität geworden.

      Ich bin doch nicht die erste und einzige 38-Jährige, die ihr 1. Kind erwartet. War ich, bin ich verantwortungslos? Sollte ich den Gedanken, nochmal schwanger zu werden, direkt abhaken?

      Doch während ich alle wirren Gedanken hin und her schiebe, über die Krankheit lese und meine Gefühle niederschreibe, vergesse ich wenigstens mal kurz den Schmerz um meine sterbenskranke Tochter in meinem Bauch. Aber ich weiß, er ist nur kurz mal weg, er wird wiederkommen. Immer und immer wieder. Und auch das Gefühl, dass uns heute - an diesem 11. September 2019, unserem ganz eigenen 11. September – unsere Zukunft genommen wurde.

      Werde ich wieder glücklich? Irgendwann?

      Ich muss daran denken, was mir oft vor der Schwangerschaft durch den Kopf ging: „Brauche ich ein Kind, um glücklich zu sein? Warum gilt in unserer Gesellschaft die ‚Familiengründung‘ als das A und O? Bin ich als Frau ohne Mutter zu sein weniger wert? Wird mein Leben unerfüllter sein ohne Kind?“. Diese Fragen gingen mir schon vorher oft durch den Kopf.

      Denn lange Zeit hatte ich geglaubt, dass es zum Frausein dazu gehört, ein Kind zu haben. Ich meine, viele meiner Freunde, meine Geschwister, so viele leben es mir Tag für Tag vor. Und ich? Ich war bis jetzt immer die „Andere“ oder die „Späte“, die „ewig Unvernünftige“, die „nicht-Erwachsenwerden-wollende-Lebefrau“. Muttersein schrieben sie mir nicht zu, dachte ich zumindest immer. Ehrlich gesagt, traute ich es mir selbst manchmal nicht zu. Falsche Zeit, falscher Mann, zu


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