Geschmackssache oder Warum wir kochen. Günther Henzel

Geschmackssache oder Warum wir kochen - Günther Henzel


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(autonome) Nervensystem, das der direkten willkürlichen Kontrolle weitgehend entzogen ist.118

      3.7 Nachtrag: Flüssiges »Brot«

      Als Abschluss zum Thema Wasser (als Faktor der Kochentwicklung) soll eine weitere zufällige Beobachtung dienen, die aus Wasser ein nährwerthaltiges Getränk werden ließ. Nahrung könn(t)en wir für eine begrenzte Zeit (einige Wochen) entbehren, nicht aber Wasser. Als nach der Sesshaftwerdung im fruchtbaren Halbmond in Mesopotamien erste Großstädte entstanden (etwa 4000 Jahre v. Chr. – z. B. Uruk, mit 2,5 Quadratkilometern Fläche und bis zu 50 000 Bewohnern) (PODREGAR 2015), galt es, alle Stadtgebiete mit Wasser zu versorgen. Separate Wasserbehältnisse waren problematisch, da mikrobielle Verunreinigungen stehendes Wasser rasch kontaminierten. Für das Lagerproblem von Frischwasser sollte sich (wieder mal) eine Zufallsentdeckung gleich mehrfach als nützlich erweisen: Regenwasser, das durch Leckagen in der Abdeckung oder Bedachung in wasserdichte Getreidevorratsgefäße (RIEGER 2012)119 gelangt war, blieb »keimfrei«. Daraus war ein hefevergorenes (obergäriges) und mit Nährstoffen angereichertes Getreidewasser entstanden, dessen leichte Säure und geringer Alkoholanteil (beides wirkt antiseptisch, bakteriostatisch) die Lagerfähigkeit erhöhten. Der bessere Geschmack und die stimmungshebende Wirkung dieses Getreidetranks (ob es ein »Bier« war, ist strittig)120 führten dazu, dass anstelle von neutralem Wasser nunmehr diese Flüssigkeit getrunken wurde – die Nährstoffgehalte machten es in den Regionen des »Fruchtbaren Halbmonds« (der Wiege des Getreideanbaus) zum »flüssigen Brot« – auch in Ägypten gehörte es zur täglichen Ration (FISCHER 2016).121

      3.8 Der Faktor 'Trocknung'

      Dass die Verdunstung (das Entweichen von Wasser aus Rohstoffen) auch zur Entwicklung von Kochtechniken beigetragen haben könnte, scheint im Widerspruch zu vorangegangenen Betrachtungen zu stehen. Ohne Wasseranteile in den Rohstoffen, ohne Quellvorgänge, die nur in Gegenwart von Wasser ablaufen, wären Resorptions- und Verdauungsvorgänge nicht möglich. Wie sollten vor diesem Hintergrund ausgerechnet Trocknungseffekte die Entwicklung von Zubereitungstechniken befördert haben? Zunächst: Eine Zubereitung zielt nicht nur auf die Herstellung der Essbarkeit der Rohstoffe, sondern vor allem auf deren Geschmackshebung. Besonders Letzteres lässt sich mit Hilfe getrockneter Anteile erreichen.

      Ob ein Rohstoff in seiner natürlichen Beschaffenheit viel oder wenig Wasser enthält oder ob er dieses durch Verdunstung verloren hat, sind verschiedene Sachverhalte. Insbesondere Verdunstungseffekte bewirken eine Aromaintensivierung, weil der Wasserverlust die Konzentration der Anteile erhöht, die nicht verdunsten (können). Deshalb haben getrocknete Gewürze einen etwa 10-fach höheren Anteil aromawirksamer Inhaltsstoffe (KAHRS-LEIFER 1965) und wirken als 'Geschmacksverstärker' – genauer: Aromaverstärker. Sie verleihen dem Essen die gewünschte Aromanote, die auch pharmakologisch bedeutsam ist. Warum wir kein fades, aromaarmes Essen mögen, betrachten wir genauer in Abschn. 16, S. 233 ff.

       Hintergrundinformationen

      Die Wasseranteile in Lebensmitteln unterscheiden sich erheblich: Früchte und andere wasserreiche Pflanzen enthalten bis zu 96 % freies Wasser (teilweise mehr);122 tierisches Muskelgewebe etwa 70–72 % (je nach Fettgewebsanteil, der nahezu wasserfrei ist). Sehnen und Bindegewebe haben nur etwa ein Zehntel des Wassergehalts des Fleisches. Fischfleisch hat im Vergleich zu Warmblütern meist einen höheren Wasseranteil (zwischen 61 und 81 %) (BELITZ; GROSCH 1987), der je nach Fettgehalt schwankt. Getreidekörner enthalten, je nach Reifegrad, zwischen 20 % und 50 % Wasser,123 ebenso Nussfrüchte. Damit ist der Wasseranteil in allen Rohstoffen (bis auf wenige Ausnahmen) der Größte. Dieser Anteil ist allerdings janusköpfig: Einerseits ist er, wie betont, relevant für die Ernährungstauglichkeit des Rohstoffs und andererseits begrenzt Wasser die Lagerfähigkeit. Freies Gewebewasser (aw-Wert) beschleunigt den Verderb, da Mikroorganismen und Enzyme in einem wasserhaltigen, nährstoffreichen Milieu ideale Lebensbedingungen finden. Verdunstungseffekte senken zwar den aw-Wert (er ist der zentrale Bakterienwachstumsfaktor), vermindern aber den von uns gemochten Frischewert – dieser ist jedoch nicht für jeden Rohstoff entscheidend.

      Rohstoffe, die im angetrockneten Zustand kaum geschmackliche Mängel hatten, wurden von unseren Vorfahren bevorzugt bevorratet – besonders jene, die getrocknet problemlos roh und ungewässert gegessen werden konnten (Früchte, Datteln u. a. m.). Auch eiweißreiche Nahrung (Fisch und Fleisch) ließ sich trocknen. Vermutlich hatte schon Homo erectus Trocknungseffekte erkannt, wenn beispielsweise nach großem Fang einige gelagerte Fische von Winden, besonders an Steilküsten, zunehmend trocken wurden. Die Technik, Rohstoffe mittels Trocknung lagerfähig zu machen, entsprang also nicht einer spontanen Eingebung, sondern war – wie viele andere 'planvolle' Tätigkeiten – der Natur abgeschaut.

       Hintergrundinformationen

      Zu den einfachen und ältesten Lagertechniken von Fischen (geöffnet, auf Felsgestein auslegt oder an Stöcken in den Wind gehängt) kamen vermutlich in der Phase der Sesshaftwerdung weitere Verfahren hinzu, die deren Haltbarkeit verbesserten: mittels Einsalzen oder Räuchern – oft auch unter Verwendung von Kräutern und Gewürzen. Insbesondere ließen sich damit eiweißreiche Rohstoffe vor Verderb (Schimmel-, Hefen-, Bakterienbefall) schützen und länger bevorraten. Weil diese Verfahren den Zellen Gewebewasser entziehen, sinkt die Wasseraktivität (der aw-Wert) in den Zellen, und der enzymatische Abbau wird gestoppt.

      Welche Technik die frühen Menschen entwickelten, hing von den jeweiligen klimatischen Bedingungen ihrer Habitate ab. In eisnahen, kälteren Gebieten verdarben Fleisch-/Fischvorräte (durch das im Muskelgewebe vorhandene Enzym Kathepsin) aufgrund niedriger Temperaturen wesentlich langsamer als in wärmeren. Andererseits wachsen in warmen, tropischen Regionen die für die Haltbarkeit so nützlichen bakteriziden und fungiziden Gewürze – die in Speisen feuchtwarmer Klimazonen geradezu verschwenderisch verwendet werden.

      Es ist zu vermuten, dass Trocknungseffekte besonders in Zeiten des Überflusses auftraten, weil Fleisch, Pflanzen, Knollen oder Früchte vor Tierfraß geschützt gelagert werden mussten. Beerenfrüchte, Datteln, Feigen, Nüsse, Esskastanien und Pilze gehörten vermutlich auch zum Nahrungsspektrum von Homo erectus und waren für ihn (an)getrocknet sicher genauso begehrt wie für uns. Je nach Trocknungsdauer erhöht sich im Obst die Süße, das immer dann besonders schmackhaft ist, wenn noch eine gewisse Restflüssigkeit erhalten bleibt. Diese Erfahrungen sollten sich als hilfreich in Zeiten des Mangels erweisen, da diese Rohstoffe über Monate lagerfähig waren. Blieb der Sammel- und Jagderfolg aus, konnte man so auf getrocknete »Reserven« zurückgreifen. Schließlich führten diese Bevorratungstechniken auch dazu, Fleisch und Pflanzen differenzierter zu betrachten: nicht allein nach ihrer Essbarkeit, sondern auch unter Aspekten ihrer Lagerfähigkeit.

      Das Gehirn von Homo erectus benötigte energiereiche Nahrung, die zudem dauerhaft verfügbar sein musste.124 Hier konnten getrocknete Rohstoffe (deren Nährstoffkonzentration und Energiewerte insgesamt erhöht sind) den täglichen Bedarf nicht nur in Notzeiten decken, sondern ermöglichten auch, weitere Wegstrecken zurückzulegen und für längere Zeit in unbekannten Gebieten zurechtzukommen. Wir wissen, dass in nahezu allen Kulturen Fisch und Fleisch,125 Obst und Pflanzen an der Luft getrocknet wurden und werden (KAHRS LEIFER 1965). Fleisch wurde am Lager (meist zwischen Baumästen hängend) getrocknet (LEAKEY 1980). Dabei sind immer wieder Rauchschwaden des Lagerfeuers, das vor allem nachts brannte,126 über das »hängende« Fleisch hinweggegangen. Es war eine Frage der Zeit, bis Trocknungs- und Haltbarkeitseffekte des Rauches erkannt und gezielt eingesetzt wurden (s. auch Tab. 1, S. 97).

      76 Von engl. »to chop« = hacken; die ersten (einseitig behauenen) Steinwerkzeuge (»Chopper«) markieren den Beginn der Steinzeit vor 2,6 Mio. Jahren; vor etwa 1,6 Mio. Jahren wurden zweiseitig (bifacial) zugerichtete »Chopping Tools« (tropfenförmige Faustkeile mit Schneide) entwickelt. Diese Steinwerkzeuge werden als Acheuléen-Tradition bezeichnet (nach einem Fundort in Frankreich Saint-Acheul). Aus den Grabungen in der Olduvai-Schlucht lässt sich die Geschichte typischer Steinwerkzeuge (Oldowan, Acheuléen) und damit die Entwicklung menschlicher Kultur fast 2 Millionen Jahre lang


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