Die Giftmischerin. Bettina Szrama

Die Giftmischerin - Bettina Szrama


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ihr Gesicht zur Seite und hauchte Christoph einen Kuss auf die Wange. Mit weiblicher List flötete sie: »Ach Christoph, was denkst du nur von deiner Schwester? Ich verstehe deine Worte nicht. Gott möge mich strafen, wenn auch nur eine Silbe deines Vorwurfes wahr ist.«

      »Liebe Gesche, beruf dich doch nicht ständig auf den Herrgott. Hier glaubt dir ja ohnehin keiner mehr, dass er dich auf der Stelle für deine Sünden bestraft. Oder wie war das, als du damals deine französischen Übungsarbeiten von Diedrich, dem Tischlergesellen aus der Nachbarschaft, ausarbeiten ließest, obwohl der Vater für den Französischunterricht stolze 100 Taler bezahlte.« Christoph lockerte die Umarmung, drehte Gesche so, dass sie ihm geradewegs in die blauen Augen sehen musste, und umschloss ihr Gesicht mit beiden Händen. Er überragte sie um eine Kopfeslänge. Sein Mund umspielte ein überlegenes Lächeln. Das Lächeln des heranwachsenden Mannes, der die schlummernde Frau in ihr wachrief. Die wohlgestalteten Gesichtszüge kamen ihr plötzlich erwachsener vor als sonst, und der süße Duft, der seinen Händen entströmte, verwirrte sie ein wenig. Für einen Augenblick bedauerte sie es, dass dieser so ganz andere Christoph ihr Bruder war. Eher käme er ihrer Vorstellung von einem Ehemann nahe. Aber solcherlei Gedanken waren sündiger Natur, und so senkte sie züchtig den Blick und holte sich schnell eines derjenigen Gebete ins Gedächtnis zurück, welches die Mutter die Kinder beim samstäglichen Wäschewechsel auswendig hersagen ließ, um Zucht und Schamhaftigkeit beständig in Erinnerung zu rufen.

      Christoph bemerkte es amüsiert, zog die Hand der Schwester an seine Lippen und hauchte sanft einen Kuss darauf. Er verharrte einen Moment gedankenverloren und versenkte den Blick in das hübsche Mädchengesicht. Es bedrückte ihn auf einmal, dass er vorhatte, die Schwester zu verlassen. Aber seine nach Freiheit dürstende Seele hielt es in der kleinbürgerlichen Enge der Schneidermeisterei einfach nicht mehr aus. Die überschwängliche Liebe der Eltern erdrückte ihn ebenso wie deren sagenhafter Geiz.

      »Ich habe mich bei den französischen Husaren einschreiben lassen«, sagte er leise, erleichtert, dass es nun heraus war.

      Gesche erschrak. Weshalb, vermochte sie sich nicht zu erklären. Oft genug war sie eifersüchtig auf ihn gewesen und hatte ihn heimlich zum Teufel gewünscht, um in den Genuss der Aufmerksamkeiten zu kommen, die ihm von der Mutter mehr zuteilwurden als ihr. Jetzt aber brach es ihr beinahe das Herz, und sie rief zutiefst verwirrt: »Was willst du? Wissen es die Eltern schon?«

      Gleichzeitig griff sie sich an die Stirn und täuschte eine beginnende Ohnmacht vor. Kraftlos und mit blassen Wangen stürzte sie in seine Arme und hauchte hilflos: »Oh, mon dieu, Christoph! Wie kannst du mir das antun?« Über die blauen Augen schien sich ein Schleier zu legen.

      Es war nicht das erste Mal, dass Christoph sich von ihr täuschen ließ. Erschrocken über die drohende Ohnmacht, drückte er sie sanft zurück auf den Stuhl, hob ihre Füße an und schob eine Fußbank darunter. Dann griff er nach der Glaskaraffe auf der Fensterbank, um ihr die Stirn mit Wein zu benetzen. Doch Gesche erholte sich schnell wieder, schob ihn heftig zurück und wendete sich wieder den ungezählten Münzen zu. Während er noch mit dem Weinkrug in der Hand unschlüssig ihren geschickten Fingern zusah, die flink, als hätten sie nie etwas anderes getan, immer genau 13 Groten übereinanderstapelten, mimte sie die Beleidigte und strafte ihn mit ablehnendem Schweigen.

      Als sie die errechnete Summe von exakt einem Taler mit etwas ungelenken Schriftzügen in das Buch eintrug, trat er von hinten an sie heran und legte ihr sanft die Hand auf die schmale Schulter. An deren leichtem Zucken spürte er, dass sie leise weinte. Gesche weinte oft. Er wusste, dass sie zu großen, beinahe theatralisch zu nennenden Gefühlen fähig war, und war sich wieder einmal nicht sicher, ob seine Schwester nicht im Grunde vielleicht doch ein weiches Herz hatte.

      »Nimm es doch nicht so schwer, Gesche«, versuchte er ein paar tröstende Worte und küsste den schlanken blonden Nacken. »Was haben wir denn im Elternhaus bisher von unserem jungen Leben gehabt außer Arbeit? Im Grunde genommen taugen wir doch beide nicht für das Schneiderhandwerk. Du bist viel zu hübsch, um dir die Finger zu zerstechen und dein Augenlicht für die Liebe der Eltern zu opfern. Ich dagegen habe im letzten Jahr meiner Wanderschaft viel gesehen und für mich beschlossen, in die Welt hinauszuziehen. Napoleon wird die Welt erobern, und ich kann später von mir sagen, ich sei dabei gewesen. Dann habe ich die ganze große Welt kennengelernt und kehre als reicher Mann zurück.«

      Gesche hatte ihm mit gesenktem Haupt zugehört. Nun tupfte sie sich mit einem Tuch eine Träne von der Wange und wandte ihm dann das Gesicht wieder zu. Die Augen, eben noch voller Traurigkeit, sprühten nun geradezu vor Begeisterung. So hätte ihn der Vater mal erleben müssen, dachte sie bei sich und staunte über das Leuchten in seinen Augen und die wie im Fieber geröteten Wangen. Die euphorischen, mit Leichtigkeit gewählten Worte sprachen auch ihre Sehnsüchte an. Nachdenklich besah sie sich den Groten in ihrer Hand. Spielerisch ließ sie ihn zwischen den Fingern hin und her gleiten. Christoph sprach eindeutig die Wahrheit. Wann hatte sie jemals, außer damals zur Konfirmation, ein Seidenkleid getragen? Wann hatte sie jemals die Freuden eines Balls genossen, abgesehen von den Annehmlichkeiten der kleinen Gesellschaft, die einmal jährlich das stille, ehrbare Elternhaus aufheiterte? Sie erinnerte sich dunkel an die kleine Feier, die zum Beginn der Gesellenarbeit stattfand und auf der sie bisher lediglich der traditionelle Kräuselbraten erfreut hatte. Beschämt sah sie an sich herab, herab am schmucklosen grauen Schultertuch und dem Rock aus dunklem Wollstoff. Dann wanderte ihr Blick mit einem Ausdruck unstillbarer Sehnsucht zum Fenster hin­aus in die Nacht. Und Christoph erriet ihre Gedanken.

      »So ein Leben wie das des reichen Miltenberg würde dir gefallen, was, Schwesterchen?«, fragte er und öffnete dabei für sie das Fenster. Rasch zog er sie an seine Seite und legte den Arm um ihre Hüfte. Als er bemerkte, dass sie an der kalten Nachtluft fror, zog er rasch den Rock aus und legte ihn ihr um die fröstelnden Schultern. Dann musterte er nachdenklich die hell erleuchteten Fenster des herrschaftlichen Steinhauses gegenüber. »Genau aus diesem Grunde möchte ich die häusliche Enge hier verlassen, die mir solche Freuden ein Leben lang vorenthalten wird«, äußerte er verträumt. »Ich werde bald ein Mann sein, und da draußen liegt das ganze Leben vor mir wie ein einziges großes Abenteuer. Du, liebe Gesche, solltest deine Tugenden nutzen, so wie ich die meinen. Vielleicht gelingt es dir ja mit List und Schläue, deinen Weg mit goldenen Talern zu pflastern. Taler, die uns die Eltern vorenthalten. Mit deiner Schönheit und deinem guten Ruf bist du für die Freier da draußen wahrlich keine schlechte Partie. Der junge Miltenberg im Haus gegenüber ist wieder frei. Du solltest diese von Gott gegebene Chance ergreifen. Der wohlhabende Sattlersohn hat eine schlechte Ehe hinter sich und wird sich nach einer Frau wie dir alle zehn Finger lecken. Erinnerst du dich, wie er vor ein paar Jahren seiner ehrlosen Konkubine das Jawort vor unserem göttlichen Richter gegeben hat?«

      Stolz darauf, sich vor der Schwester mit dem neuesten Klatsch brüsten zu können, fuhr er mit verschwörerischer Miene fort: »Nun stell dir vor, bereits kurz nach der Hochzeit soll es einen entsetzlichen Skandal um dieses Frauenzimmer gegeben haben! Angeblich soll sie deutlich älter gewesen sein, als man zunächst vorgab, und auch ihr sogenannter Brautschatz, mit dem sie überall prahlte, bezog sich auf lächerliche 1.000 Taler. Madame Miltenberg war damals schon 30 Jahre alt und im fortgeschrittenen Alter mit allen sinnlichen Lüsten bestens vertraut. Außerdem soll sie eine Trinkerin gewesen sein und von Eifersucht geradezu zerfressen. Die Zeitungen berichteten, dass ihre grenzenlose Unordnung seinen Geschäftsbetrieb und ebenso den väterlichen Haushalt völlig durcheinandergebracht hat. Veruntreuungen und andere sitt-

      liche Verfehlungen sollen seitdem bei den Mägden und Knechten an der Tagesordnung sein. Der junge Miltenberg hat da-raufhin auf der Flucht vor seiner übermächtigen, ewig betrunkenen Gattin auf diversen zweifelhaften Vergnügungen sein Heil gesucht. Hast du denn nichts von dem Skandal in der Komödie gelesen, Schwesterchen?«

      Gesche hielt den Kopf geneigt und hing erwartungsvoll an den Lippen des Bruders. Ihre Augen saugten sich förmlich an ihnen fest. Bisher hatten sie die Eltern von derartigen Ereignissen bewusst ferngehalten. Jetzt bewunderte sie das Weltmännische ihres sonst so menschenscheuen Bruders zutiefst. Der grinste selbstbewusst. »Stell dir vor, das Weib ist ihm in seiner Trunkenheit gar in die Komödie gefolgt und hat ihn dort vor allen Freunden bloßgestellt, indem sie sich zunächst bewusstlos soff und ihn und sich dann vor der feinen Gesellschaft auch noch verunreinigte. Na ja,


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