Die List der Schildkröte. Elisabetta Fortunato
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Per Franco
Wenn es stimmte, dass der Verlauf eines Tages gleich nach dem Erwachen zu erkennen war, dann würde der heutige eine Katastrophe: Im Ehebett lag ein Mann, der nicht der ihre war, und draußen schneite es. Sie dachte nur noch an Flucht, und diese führte sie geradewegs in die Küche.
Die Wanduhr zeigte kurz vor halb acht. Automatisch rechnete Giovanna nach. In Hongkong war es halb zwei Uhr nachmittags und Julius auf dem Weg zu wichtigen Verhandlungen. Ihr Ehemann wusste von ihren Affären, das war nicht das Problem. Er selbst hatte sie dazu gedrängt. Doch war sie immer ins Hotel gegangen, aus Respekt und Diskretion. Warum also diesmal nicht? Noch dazu mit einem solchen Mann? Im Schlafzimmer lag nicht irgendwer, sondern Sonny, ein knackiger Diamantenhändler aus Nigeria, der am Abend so viel Schmuck getragen hatte, dass dieser sich jetzt auf ihrer Kommode türmte wie die Schwester des Vesuvs. Mit anderen Worten: Wenn die Nachbarn ihn zu sehen bekamen, war ihr Ruf ruiniert. Und der ihres Ehemannes gleich mit.
Ja, sie hatte einen Fehler gemacht, und ja, sie musste ihn geradebiegen. Das war sie ihrem Mann schuldig. Aber deswegen ihre gute Erziehung vergessen? Nein ! Giovanna holte die Moka aus der Anrichte, die jeder Italiener besaß, der etwas auf sich hielt, und begann sie zu füllen. Zum Abschied würde sie ihrem Lover einen ordentlichen Espresso mit auf den Weg geben.
Die Kaffeekanne stand auf dem Herd und, eingelullt vom Zischen der Gasflammen, wartete Giovanna darauf, dass das Wasser im Tank zu brodeln begann. Da blieb ihr Blick am corno hängen, das genau vor ihr an einem Nagel hing. Das knallrote Plastikhorn konnte jedes Unglück abwenden, zumindest in Neapel. Heute hatte sie keine Zeit für geografische Befindlichkeiten; sie brauchte Hilfe, und zwar sofort. Mit einer einzigen Bewegung zog sie das Horn von der Wand, schloss die Augen und rief nach Padre Pio. Der familiären Legende nach hatte der Schutzheilige es persönlich mit seinen blutenden Händen gesegnet. Doch spätestens seit dem Ableben ihrer Oma wusste sie, dass sie nicht alles glauben durfte, was ihr einst erzählt worden war.
»Beweise dich, oder ich schmeiß dich weg«, beschwor Giovanna das Horn.
Dann sprach sie die zwei Wünsche aus, die ihre Probleme beseitigen sollten: Es musste aufhören zu schneien und ihre Nacht mit Sonny ohne Zeugen bleiben.
Zum Glück sah niemand sie in diesem Zustand. Sie, die Texte von Rosa Luxemburg, Antonio Gramsci und Karl Marx verkaufte. Aber wo waren die gescheiten Ideen, wenn sie gebraucht wurden? Dann lieber das Horn und der kampanische Aberglaube. In der Not war alles erlaubt.
Ob sie mit ihrer Beschwörung zu früh aufgehört oder etwas falsch gemacht hatte, konnte sie im Nachhinein nicht sagen. Tatsache war, dass, als sie die Augen wieder aufschlug, der Schnee noch da war, sogar dichter als zuvor. Den zweiten Wunsch konnte sie sich also wohl auch gleich abschminken. Sie warf das Horn in den Mülleimer und trat fröstelnd ans Fenster.
Es war nicht nur die Kälte, die ihr auf die Nerven ging, sondern es waren vor allem die Schneeflocken. Deutsch wie sie waren, fielen sie sauber und geordnet herunter. Nicht wie in Kampanien, wo man sich immer fragen musste, ob es die schwächlichen Flocken überhaupt bis zum Boden schaffen würden, um sich dort mit dem Unrat der Nacht zu einem gräulichen Matsch zu vermischen. So oder so, sie mochte den Winter nicht, nicht dessen Kälte und schon gar nicht dessen Trübheit. Und davon gab es in Frankfurt mehr als genug.
Die Maschine begann zu fauchen und der Kaffee floss in dunklen Strömen die Düse hinab. Dann brodelte er ein letztes Mal auf. Giovanna drehte den Gashahn zu und wandte sich zum Küchentisch, wo sie ein Tablett mit Tasse und Zuckerbehälter bereitgestellt hatte.
Es war nur eine Bewegung, die sie aus den Augenwinkeln wahrnahm. Sie schaute zur Tür, schrie auf und wich einen Schritt zurück. Etwas fiel scheppernd zu Boden. Vor ihr stand Maria D’Onofrio, die Putzfrau der Kronberger Straße 28c, eine hagere 62-jährige Neapolitanerin.
»Madonna mia!«, rief Maria erschrocken und legte demonstrativ die Hand auf die Brust. Eine automatische Geste, seit bei der Frau eine leichte Herzrhythmusstörung festgestellt worden war. Vor ihren Füßen lag eine grellfarbene Tüte ihres Stammdiscounters.
Trotz allem fasste sich die Ältere als Erste. Ächzend griff die Putzfrau nach der zerknitterten Plastiktüte, trat wie selbstverständlich in die Küche und legte sie auf den Tisch.
»Was machst du hier?« Giovannas Stimme überschlug sich vor Aufregung. »Um diese Zeit?«
»Sie brauchen nicht so zu schreien, Signora Greifenstaina. Auch wenn ich alt bin, höre ich noch sehr gut.«
»Du hast mich erschreckt!«
»Vor acht stehen Sie doch nie auf, und ich dachte, Sie freuen sich, wenn Sie frische biscotti zum Frühstück haben.«
Marias