Die List der Schildkröte. Elisabetta Fortunato

Die List der Schildkröte - Elisabetta Fortunato


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auf dem Bett auf, bevor er damit begann, diesen anzulegen. Giovanna zählte fünfzehn Stück. Die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen, schaute sie ihm neugierig zu. Da öffnete Sonny das Fenster, griff nach dem Schnee auf dem Fenstersims und kam mit ausgestreckter Hand zu ihr ans Bett.

      Sie beugte sich vor, dachte, er wolle ihr den Schnee zeigen. Aber er drückte den Klumpen zu einer Kugel zusammen und fuhr ihr damit über die Lippen. Frisch prickelten die Schneekristalle auf ihrer empfindlichen Haut. Dann schüttelte Sonny den geschmolzenen Rest auf sie. Erst als sie sich kreischend unter der Decke versteckte, hörte er auf, nahm die Tasse Espresso vom Boden und verließ lachend das Zimmer.

      Giovanna stand schon in der Nähe der Eingangstür, als er das Bad verließ und seinen langen Lammfellmantel anzog. Sie erwartete eine eilige und nichtssagende Verabschiedung, so, wie es immer war, wenn sie nachts einen Mann im Hotel zurückließ. Stattdessen kam er auf sie zu, umarmte sie und vergrub das Gesicht lange in ihrem Haar.

      »Du bist eine faszinierende Frau, Giovanna Greifenstein. Sehen wir uns wieder?«

      Statt »Nein«, wie sonst, sagte sie »Vielleicht« und meinte »Ja.«

      Er gab ihr einen kräftigen Klaps auf den Hintern und ging.

      Verblüfft legte Giovanna eine Hand auf die brennende Stelle. Ihr Lover hatte sie markiert, wie ein Rancher sein Vieh.

K3

      Sonny.

      Giovanna hatte ihn am Vorabend in der Lounge des Main Towers kennengelernt. Sie kam von der Ausstellungseröffnung im Liebieghaus, zu der ihr Nachbar, Professor von Schacht, geladen hatte. Für einen Dienstag war das Lokal überraschend voll gewesen. So fand sie Tommaso und Joschka, ihre Chefs und besten Freunde, nicht wie üblich in den Sesseln vor der Fensterfront, sondern an der Theke. Seit sie den beiden einmal im Scherz gesagt hatte, dass sie zusammen wie Schneewittchen und zwei ihrer sieben Zwerge aussahen, setzte sich Joschka immer gleich hin. Zu dritt fielen sie tatsächlich auf: eine hochgewachsene Frau mit schweren braunen Locken und zwei gedrungene, leicht dickbäuchige Männer über sechzig. Der eine sogar mit Bart.

      So standen sie diesmal eingequetscht zwischen zwei stark parfümierten Blondinen und einer Gruppe von jungen Bankern, stießen auf Tommasos Geburtstag an und aßen Antipasti, während sie ausgiebig über die Leute lästerten, die Giovanna bei der Vernissage zu der großen Ausstellung über die vorrömischen Dauner getroffen hatte. Vor allem Tommaso konnte sich nicht zurückhalten, sein Speckbauch hüpfte bei seinen Lachattacken fröhlich mit. Erst beim zweiten Glas Wein hatten sie alle durch und kamen auf die Ausstellung zu sprechen.

      »Allora«, fragte Tommaso. »Hatte dein Professor recht?«

      »Und wie!«, antwortete Giovanna. »Ich schäme mich nicht zuzugeben, dass mir beim Anblick die Tränen gekommen sind.«

      »Bei seinem Anblick«, sagte Joschka, während er nach dem Barkeeper Ausschau hielt, »würde ich auch weinen.«

      Tommaso rollte mit den Augen. »Sie meint das Hauptausstellungsstück, du Trottel, nicht den Professor.«

      »Ganz so falsch …«

      Giovanna schnitt Joschka das Wort ab. »Die gesamte Ausstellung über die Dauner ist toll. Ich glaube, es gibt keinen Gegenstand, der nicht für sich stehen könnte. Doch der bronzene Kultwagen«, sie suchte nach dem richtigen Ausdruck, »der Kultwagen ist eine Klasse für sich.«

      »Dann beschreib ihn uns!« Tommaso hing förmlich an ihren Lippen.

      Joschka hatte sich über den Tresen gelehnt und bestellte für sie neuen Wein.

      Sie überlegte kurz. »Ich muss anders beginnen. In den ersten Räumen stehen die typischen daunischen Gegenstände wie Trichterrandgefäße und Krüge mit tönernen Tierfiguren und viele steinerne Grabstelen. Dazu in großen Sammelkästen Schmuck, Waffen und andere Dinge des täglichen Gebrauchs. An den Wänden hängen riesige Infotafeln, die die offiziellen Ausgrabungsarbeiten des Professors in Apulien dokumentieren. Leider auch die Schäden von späteren Raubgrabungen.«

      »Ah, die illegalen Raubgrabungen! Das Lieblingsthema deines Nachbarn«, warf Joschka dazwischen.

      Giovanna wollte ihm sofort widersprechen, doch Tommaso hob beschwichtigend die Hände. »Ignoriere ihn einfach, heute ist er besonders unausstehlich.«

      Sie nickte ergeben.

      »Wie gesagt, du läufst durch die Ausstellung und stehst plötzlich in einem dunklen Raum, in dem das Grab der Fürstin von Arpi nachgebaut worden ist.«

      »Veramente?«

      »Tommà, es ist alles da! Vom Frauenskelett im vollen Ornat, über die prächtigen Grabbeigaben bis hin zu der Originalverkleidung der Grabkammer. Genau so, wie es Karl-Friedrich vor vierzig Jahren in Apulien entdeckt hat.«

      »Wie schade, dass der apulische Boden, dieser miese Verräter, den Kultwagen so viel später herausgespuckt hat«, sagte Joschka.

      Giovanna lachte laut. »Wohl wahr! Nun, der Kultwagen steht in der Rotunde und dich trifft fast der Schlag, wenn du ihn im Schaukasten siehst. Die Bronze schimmert besonders satt vor den blutroten Wänden. Der Wagen selbst ist nur wenig größer als zwei nebeneinanderliegende Hände, trotzdem stehen zahlreiche Statuetten darauf. Es sind Frauen, Männer, berittene Krieger und Tiere. Aber das besondere ist eine schlanke, weibliche Figur, die sie alle überragt. Auf ihrem Kopf liegt eine reich verzierte Opferschale mit süditalischen wie keltischen Ornamenten. Zusammengefasst: Der Kultwagen ist absolut geheimnisvoll und schlichtweg grandios!«

      Tommasos Augen glänzten im Licht der Bar. »Dann gehen wir gleich morgen Nachmittag …«

      »Was für ein Glück also, dass die italienischen Tankstellenwärter den Streik beendet haben und das Stück noch rechtzeitig aus Apulien gekommen ist«, unterbrach ihn Joschka und an Giovanna gewandt: »Denn mit diesen Eindrücken kannst du übermorgen zusätzlich punkten, bei dem Vorstellungsgespräch, das du, ich wiederhole es immer wieder gerne, mir zu verdanken hast. Nicht wahr?«

      Voller Euphorie schob er ihnen die vollen Weingläser zu.

      Um nicht darauf antworten zu müssen, steckte sich Giovanna eine Scheibe Parmaschinken in den Mund. Das mit dem Glück war so eine Sache. Der Transporter mit dem Sensationsfund war nur knapp zwei Stunden vor der Vernissage aus Apulien eingetroffen. Genug Zeit, um den Bronzewagen noch an seinen vorgesehenen Platz zu stellen, aber zu wenig, als dass der Professor die vertiefenden Untersuchungen mit dem Elektronenmikroskop hätte machen können. Diese musste sie unbedingt abwarten, bevor sie das Konzept für ihre erste Publikation als deutsch-italienische Programmleiterin eines renommierten Kunstbuchverlags schrieb. Denn wenn sich unter der kleinen, unauffälligen Delle der Stempelabdruck befand, der sich auf allen Grabbeigaben der Fürstin von Arpi wiederholte, würde sich in der Geschichtsschreibung der süditalischen Völker alles ändern. Wirklich alles! Allerdings wollte sie ihren Chefs lieber nichts davon erzählen. Ihnen fehlte schlichtweg die Fantasie, sich vorzustellen, dass die verbleibenden eineinhalb Tage ausreichen würden – mussten, korrigierte sie sich gleich selber –, um vorbereitet ins wichtigste Vorstellungsgespräch ihres Lebens zu gehen. Außerdem wollte sie die fröhliche Stimmung nicht kaputt machen. Die Buchmesse in Leipzig stand an und zum ersten Mal hatten die beiden einen politischen Kracher im Gepäck, mit dem sie Geld verdienen konnten.

      »Auf die süditalische Kunst!«, rief Joschka und rempelte, leicht weinselig, einen der Banker an. »Die wahre Heldin der italienischen Archäologie, die …«

      »Auf Giovanna und ihre zukünftige Stelle«, unterbrach ihn Tommaso.

      Auf die Entdeckung, dachte sie, hob das Glas und stieß mit beiden an.

      Als wollte das Licht in der Bar mitfeiern, flackerte es einige Male kurz auf, bevor es erlosch. Im Raum war es pechschwarz.

      »Schaut mal raus!«, kam es aus der Nähe der Fenster, noch bevor sich Panik unter den Bargästen ausbreiten konnte. Alle reckten die Hälse und … nichts. Sprichwörtlich.


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