Die List der Schildkröte. Elisabetta Fortunato
Mephistos in Größe 45, sie musste nicht zweimal hinschauen.
»Prof…«
Eine schwere Hand legte sich auf ihre Schulter. Giovanna schrie erschrocken auf. Mit dem Ellenbogen schlug sie nach hinten, drehte sich um die eigene Achse und zog das Knie hoch. Vor ihr ging Herr Burkhardt, der pensionierte Lehrer, zu Boden. Die Flasche flutschte unter ihrem Arm heraus und zerbarst auf dem Steinboden. Giovannas Hausschuhe und Hosenbeine sogen sich mit dem Passito voll.
»Martin!«, kreischte Frau Burckhardt.
»Karl-Friedrich!«, rief Giovanna.
Herr Burckhardt würgte und übergab sich. Von irgendwo in der Wohnung kam ein Winseln.
»Professore?«, rief sie noch einmal. Sein Fuß bewegte sich nicht.
Eine Unterzuckerung! Wieder einmal.
Giovannas Verstand schaltete sofort auf Erste Hilfe um. Sie wusste, was sie zu tun hatte, und sie musste es schnell tun. Doch einer Furie gleich, krallte sich Frau Burkhardt in ihren Arm und hielt sie zurück. Ihr Mann, grau im Gesicht, zog sich ächzend an der Wand hoch, die Hände auf seine Brust gepresst.
»Einen Arzt«, röchelte er, »einen Arzt.«
»Hallo?«, rief eine Frau vom Kulturverein im Erdgeschoss. »Ist alles in Ordnung?«
»Wählen Sie den Notruf und sagen Sie, dass ein schwer Diabeteskranker im Zuckerkoma liegt!«
Sie musste zu Karl-Friedrich, doch die Frau ließ sich nicht abschütteln. Erst als sie ihr fest in den Arm kniff, lockerte sich der Griff. Giovanna drehte sich um, stieg über Pfütze und Glasscherben und betrat die Wohnung.
Auf zittrigen Beinen lief Giovanna direkt in die Küche. Die vollgesogenen Hausschuhe schmatzten bei jedem Schritt wie ein nasser Schwamm. Immer stärker stank es nach altem Hundefutter und Exkrementen. Giovanna hielt die Luft an. In der Küche zog sie die Schublade für Notfälle auf, entnahm ein paar Tütchen Traubenzucker und eine Cola. Es war nicht das erste Mal, dass von Schacht die sich anbahnende Unterzuckerung nicht rechtzeitig bemerkte und zu spät spritzte. Schon fast an der Tür, entdeckte sie auf der Küchenablage eine benutzte Insulinspritze.
Im Arbeitszimmer machte sie Licht. Dann kniete sie sich neben den regungslosen Körper, hob seinen Kopf und hielt ihm die Plastikflasche an den Mund.
»Trink, Karl-Friedrich.«
Die Flüssigkeit floss wie ein schmutziges Rinnsal von seinen Mundwinkeln über sein Kinn und nässte ihre Hose. Sie stellte die Flasche ab. Noch während sie hektisch ein Tütchen aufriss, hielt sie inne, und schaute sich ihren Nachbarn genauer an. Sie hatte genug Totenwachen gehalten, um zu erkennen, dass er nicht mehr lebte. Voller Verzweiflung schüttelte sie den liegenden Körper.
Cazzo, Professore, konntest du nicht besser aufpassen?!
Giovanna ließ sich auf den Boden sinken und lehnte sich gegen den Schreibtisch. Ihre Beine schienen aus Gummi, sie glaubte nicht, dass sie sie jetzt tragen würden. Sie betrachtete den Verstorbenen. Von Schacht trug noch den Anzug vom Vorabend, den für besondere Anlässe. Die weiße Mähne, die er immer hingebungsvoll gepflegt hatte, war zerzaust und dort, wo der Kopf auf dem Boden lag, dunkel und verklebt. Ein Arm lag angewinkelt unter dem Oberkörper, der andere ausgestreckt über dem untersten Regalboden der Bücherwand. Giovanna folgte dessen Linie und hob den Blick. Vor ihr standen seine geliebten Bücher und die roten Buchstützen, die sie ihm zur Eröffnung der Ausstellung geschenkt hatte. Alpha und Omega, Anfang und Ende, eine Parabel auf seine größte Entdeckung, wie er gleich selbst bemerkt hatte.
Alpha und Omega, Alpha und Omega, wiederholte sie wie eine Beschwörung, als wolle sie die Schlange der Trauer in Trance versetzen.
Doch ein Misston torpedierte ihre Bemühungen. Sie schaute genauer hin und sah, dass die Stützen verkehrt herum standen. Omega und Alpha. Ende und Anfang. Auf allen vieren krabbelte sie zum Regal und stellte sie um. Wenn Karl-Friedrich etwas nicht ausstehen konnte, dann Unordnung in seiner Bücherwand.
Zuerst tauchten die Sanitäter auf, gleich darauf der Notarzt, später die Polizei. Giovanna hatte Platz gemacht. Von der Türschwelle aus beobachtete sie das Tun. Sie stand im Luftzug und fröstelte ohne Jacke. Die Wohnungstür stand offen. Herr Burkhardt saß noch immer vornübergebeugt auf dem Boden, während seine Frau und die Angestellte aus dem Kulturverein am Treppengeländer lehnten und miteinander flüsterten.
Als endgültig feststand, dass der Professor nicht mehr wiederzubeleben war, erhob sich einer der Sanitäter und ging hinaus, um sich um den pensionierten Lehrer zu kümmern. Ab und zu wandte sich der pausbäckige Mann zu ihr um. Giovanna wurde klar, dass er gerade eine ungeschönte Version ihrer Attacke auf Herrn Burkhardt zu hören bekam.
Der Notarzt gesellte sich zu ihr und erkundigte sich nach von Schachts Vorerkrankungen. Dann nach seinem Hausarzt. Während des Gesprächs musste sie sich zwingen, nicht auf etwas Grünes zu starren, das zwischen seinen Zähnen steckte. Ein klägliches Jaulen ließ alle Umstehenden auffahren. So ein Mist, sie hatte Barni, von Schachts dreißig Kilo schweren Golden Retriever, vergessen! Sie entschuldigte sich beim Arzt und mit einem Beamten machte sie sich auf die Suche nach dem Tier.
Der Hund lag schlapp in seinem Korb. Als er sie sah, wedelte er kurz mit dem Schwanz, sprang aber nicht auf wie sonst, um sie freudig zu begrüßen. Breitbeinig stellte sich der junge Polizist vor den Hundekorb.
»Was ist mit ihm?«
»Keine Ahnung«, antwortete sie. »Aber mir scheint, dass es ihm nicht gut geht.«
Der Mann beugte sich forsch über das Tier und wollte es am Halsband packen, doch Barni japste auf und schnappte nach seiner Hand. Erschrocken wich der Beamte zurück und verließ die Küche.
»Und der Hund?«, rief sie ihm hinterher.
Sie erhielt keine Antwort.
Giovanna bückte sich und begann einfach den Hundekorb – mitsamt Barni –, in die Diele zu schieben.
Die Bestatter kamen als Letzte: zwei Männer in dunklen Jacken und mit einem grauen Sarg. Die Frau vom Kulturverein begann zu weinen. Während die Neuankömmlinge den Leichnam für den Abtransport vorbereiteten, suchte Giovanna Barnis Sachen. Sie hatte Tommaso angerufen und gebeten, sie abzuholen. Der Hund musste in die Tierklinik.
Vor dem Fenster im Treppenhaus umarmte sie die Frau vom Kulturverein, bevor diese ins Erdgeschoss zurückkehrte. Die Nachbarhäuser leuchteten in regelmäßigen Abständen blau auf, als der Krankenwagen mit Herrn Burkhardt wegfuhr. Weder er noch seine Frau hatten sich von ihr verabschiedet. Verdacht auf Rippenbruch, glaubte sie, gehört zu haben. Wie spät es wohl war?
Endlich verließen die Bestatter die Wohnung und begannen vorsichtig, die Treppe hinunterzusteigen. Giovanna drückte sich gegen die Wand. Sie wollte eine Hand auf den Sargdeckel legen, tat es dann doch nicht.
Tommaso und Joschka warteten in der Hofeinfahrt neben ihrem alten Renault auf sie. Beide umarmten sie fest und setzten sie mit dem Hund auf die stoffbezogene Rückbank. Alles lief sachlich und gefasst ab, worüber sie in diesem Moment froh war. Im Auto blieb es still. Nach wenigen Metern merkte Giovanna, dass Barni schrecklich stank. An ihm klebte mehr, als sie wissen wollte. Ihre zwei Freunde verloren kein Wort darüber. Auch wenn sie auf der Fahrt in die Tierklinik fast erfroren, weil in dieser Winternacht alle Fenster offenblieben.
»Wisst ihr was, ich koche uns was«, verkündete Joschka.
Tommaso und Giovanna schreckten auf. »Nein!«, riefen sie gleichzeitig.
»Und wieso nicht?« Sofort rötete sich Joschkas Gesicht.
Ein heikler Moment, den Tommaso gekonnt umschiffte. »Weil du zuerst das Gästebett beziehst und dich dann zu Giovanna aufs Sofa setzt. Da wirst du mehr gebraucht als in der Küche.«
Zufrieden über die Antwort trottete Joschka davon. Giovanna und Tommaso seufzten erleichtert.
Giovanna