Die List der Schildkröte. Elisabetta Fortunato
in die Leipziger Straße gefahren. Dass sie bei ihren Freunden übernachten würde, stand außer Frage. Nun schaute sie zu, wie Tommaso, eine Zigarette im Mundwinkel, in der Küche die Vorräte studierte. Sie beide kamen aus Süditalien und es war nur natürlich, dass auch er in dieser schrecklichen Situation gut essen wollte.
Es gab tatsächlich Menschen, die nur aßen, wenn es ihnen gut ging. Warum eigentlich, fragte sie sich dann, Essen ist doch zum Trösten da. Sie zum Beispiel hatte von ihrer nonna immer etwas bekommen, wenn sie sich wieder einmal mit ihrer Mutter gestritten hatte. Manchmal, wenn sie im Stall ein warmes Ei fand, war es eine frisch aufgeschlagene Zabaione, manchmal ein in warme Tomatensoße getunktes Stück Brot, oft nur eine getrocknete Feige. Das alles begleitet von einem einzigen, liebevollen Streicheln über den Kopf. Nicht mehr und nicht weniger, aber Giovanna hatte es nach dem Tod ihrer Oma mehr als einmal vermisst.
»Ich mache uns spaghetti aglio e olio«, rief Tommaso aus der Küche.
»Und ich öffne uns einen Jahrgangswein«, kam es aus dem Gästezimmer. »Die Niederschlagung der Burkhardts muss gefeiert werden.«
Giovanna wollte sofort protestieren, doch Tommasos Mundwinkel zuckten und er fing an zu glucksen, angesteckt von Joschka, der kichernd ins Wohnzimmer zurückkam. Ihr Blick ging von einem zum andern, dann ließ sie sich mitreißen. Sie lachte und weinte gleichzeitig, es wollte nicht mehr aufhören. So entlud sich der Schock, der sie hatte erstarren lassen, und nach den Spaghetti, selbstverständlich von edlen Flüssigkeiten gebührend begleitet, erzählte sie den beiden, was genau passiert war.
Sie lag schon im Bett, als noch einmal an die Zimmertür geklopft wurde. Tommaso trat ein und stellte ihr eine Tasse Tee hin. Dann setzte er sich aufs Bett. Er trug einen quer gestreiften Pyjama, der gefährlich über seinem Bauch spannte.
»Giovà, was ist los?«
Sie nahm die Tasse und trank einen Schluck.
»Ich habe der Polizei erzählt, ich sei gestern Nacht alleine zu Hause gewesen. Alle haben es gehört.«
»So ein Mist. Und wieso?«
»Warum wohl …«
»Versuch jetzt zu schlafen, heute ist zu viel passiert. Morgen erzählst du mir dann, was dich wirklich quält. Buona notte.« Er stand auf und ging.
Giovanna konnte nicht einschlafen. Ein Schneegestöber an Bildern und Satzfetzen wirbelte in ihrem Kopf herum. An allem war sie schuld, das war die Wahrheit. Weil sie am Morgen das Horn von Padre Pio weggeworfen hatte, hatte sie das Unglück geradezu heraufbeschworen.
Sie schrieb ihrem Mann eine SMS. »Professor von Schacht ist gestorben.«
Nach zehn Minuten die Antwort aus Hongkong. »Das tut mir leid, kümmerst du dich um den Blumenkranz? Die Verhandlungen laufen nicht wie geplant. Bin in Eile, melde mich später. Kuss, Julius.«
Jetzt nahm sie den Schildkrötenring in die Hand, den sie ins Bücherregal über sich gelegt hatte, und spielte mit ihm.
Wieder verschickte sie eine Nachricht: »I miss you, G.«
»Me too«, kam es prompt von Sonny zurück.
Aber auch danach konnte Giovanna nicht einschlafen.
Ziellos wanderte ihr Blick über die wackeligen Regale, die über dem Bett hingen. Sie waren mit den Zeugnissen der bewegten politischen Vergangenheit ihrer Freunde vollgestopft. Was hatte sie sich immer gefürchtet, dass sie herunterfielen und sie im Schlaf von Karl Marx’ Kapital erschlagen würde. Beim Professor waren die Bücher sogar alphabetisch geordnet und wehe, Maria pustete den fingerdicken Staub auch nur …
Ein großer Klumpen Traurigkeit suchte sich einen Weg von irgendwo zwischen Herz und Magen nach oben und zerplatzte in einem lauten, sehr verzweifelten Weinen. Ihr Gesicht, das Kissen, sogar die Haare waren feucht, als sich eine fleischige Hand auf ihren Kopf legte und zärtlich die Locken zu streicheln begann. Sie erkannte Tommaso an seinem Tabakgeruch.
Das regelmäßige Streicheln ihrer Haare hatte etwas Tröstliches, sie fühlte sich geborgen. Langsam ging das Weinen in ein trockenes Schluchzen über und mit dem dankbaren Gedanken, in ihm und Joschka ihre Herzensfamilie gefunden zu haben, schlief Giovanna endlich ein.
»Giovanna, Giovanna, wach auf!«
Sie wollte nicht aufwachen, sie musste zum Professor, ihn warnen. Sie …
Jemand packte sie an der Schulter und schüttelte sie heftig.
»Wach endlich auf, im Museum ist etwas passiert!«
Verwirrt rieb sie sich den Schlaf aus den Augen und sah direkt auf einen behaarten Speckbauch. Tommaso stand über sie gebeugt, er trug noch seinen elastischen Pyjama, der unbemerkt ein Stück nach oben gerutscht war.
»Wir sind in der Küche«, sagte ihr Freund und verließ das Zimmer.
Vorsichtig setzte sie sich auf. Ihr Kopf war so schwer, dass sie glaubte, er würde sich jeden Moment von ihrem Hals lösen und auf den Boden plumpsen. Sie griff nach der Tasse, die auf dem Nachttisch stand. Ein caffè corretto, roch sie sofort, ein mit Grappa korrigierter Espresso. Es musste etwas wirklich Schlimmes passiert sein.
Mit einem schwachen »Buongiorno« trat sie in die Küche.
Zwei besorgte Augenpaare schauten sie an.
»Er ist aus dem Museum verschwunden!«, legte Joschka gleich los. »Wir haben es vorhin im Radio …«
»Endlich«, antwortete Giovanna aus dem Bauch heraus.
Ihr Freund schaute sie verstört an.
»Nicht der Direktor, du Dummkopf, der Kultwagen«, sagte Tommaso.
»O Gott, dann hat der Anruf aus Apulien gestimmt!«
»Setz dich sofort hin«, befahl Tommaso. »Wir wollen alles wissen.«
Am späten Vormittag gaben sie auf. Zusammen hatten sie versucht, aus den im Internet gefundenen Informationen, die Situation zu erfassen: Das wertvolle Ausstellungsstück war noch in der Nacht der Vernissage aus dem Museum verschwunden. Keine Einbruchspuren, kein Alarm, keine Auffälligkeiten. Alle Online-Ausgaben der großen Tageszeitungen berichteten über das geheimnisvolle Verschwinden des Sensationsstücks, je nach Couleur begleitet von Statistiken über die gestiegene Kriminalität aus Osteuropa, Aufzählungen anderer aufsehenerregender Kunstdiebstähle oder Interviews mit Experten, allen voran dem Museumsdirektor.
»Etwas verstehe ich überhaupt nicht«, sagte Tommaso, während er akribisch ein Papierblättchen mit Tabak füllte. Er wandte sich an Giovanna, die mit krummem Rücken auf dem Stuhl saß, den Kopf auf die linke Hand gestützt. »Der Notarzt hat dir doch gesagt, dass der Professor schon Dienstagnacht gestorben sein muss.«
»Ja, er war sich relativ sicher.«
»Gut. Denn da frage ich mich, wieso nicht schon gestern Morgen jemand nach von Schacht …«
»… gesucht hat!«, rief Joschka dazwischen.
Die lauten Worte fuhren wie ein Blitz in ihren Kopf. »Non gridare – Schrei nicht so!«
»Entschuldige, aber er sagt gerade, dass die Polizei gepfuscht hat, da kann ich nicht ruhig bleiben.«
»Das stimmt doch gar nicht«, korrigierte ihn Tommaso. »Mir fällt nur auf, dass …«
»Vielleicht steckt sogar Absicht dahinter.«
Mit großen Augen schaute Tommaso Joschka an. »Inwiefern?«
»Ich sage euch nur: Copland mit Silvester Stallone.«
»Der Film geht doch ganz anders«, mischte sich Giovanna ein. »Ein Polizist legt eine falsche Spur,