Die List der Schildkröte. Elisabetta Fortunato

Die List der Schildkröte - Elisabetta Fortunato


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Landstraße staute sich der Feierabendverkehr und nur mit nervenzerreißender Langsamkeit näherte sie sich der großen Kreuzung an der Bockenheimer Warte. Giovanna hatte das Radio eingeschaltet, aber es wäre besser gewesen, sie hätte es nicht getan. Tommaso hatte nicht gelogen. Die Jagd auf den Professor war eröffnet. Sie konzentrierte sich wieder auf die Straße. Wenn sie die falsche Fahrspur erwischte, kam sie auf die Zeppelinallee und konnte lange nicht mehr wenden.

      Die Ampel sprang auf Grün und alle fuhren los. Auch der Bus, der ihr zuerst die Sicht auf das Straßenschild versperrt hatte und jetzt die Vorfahrt nahm. Giovanna hupte, um nicht gerammt zu werden. Die Ampel schaltete auf Rot. Ihr Fiat hatte sich keinen Zentimeter bewegt. Da fiel ihr auf, dass die Bockenheimer auf beiden Seiten mit neuen Plakaten gesäumt war, in einer Menge, wie sie sie noch nie gesehen hatte. THE WAITING IS DONE, stand in grellen Buchstaben auf schwarzem Hintergrund. Und darunter Lady G.

      Auch wenn Giovanna nicht wusste, wofür so viel Werbung gemacht wurde, die Warterei im Auto war sicher nicht damit gemeint. Aus Langeweile begann sie aufzuräumen. Die Parkscheibe steckte sie in die Türablage, ein Bonbonpapier und eine Parkquittung fanden ihren Platz im Aschenbecher. Hinter der Sonnenblende lugte die Ecke des Fahrzeugscheins heraus. Jetzt, wo der Professor ihren Wagen nie mehr benutzen würde, konnte sie das Dokument direkt in ihrem Portemonnaie verstauen. Bei dem Gedanken schluckte sie schwer. Was war sie froh, die Einladung von Tommaso angenommen zu haben.

      Die Ampel sprang erneut auf Grün, doch der Verkehrsstrom, der vom Palmengarten kam, verhinderte ihre Weiterfahrt. Jemand hupte entnervt. Sie wollte den Fahrzeugschein weglegen, da stutzte sie. Das Plastikmäppchen war unerwartet dick und hart und ließ sich nicht biegen. Giovanna drehte es um und schüttelte es über ihrer offenen Handfläche aus. Ein klobiger, nummerierter Schlüssel rutschte langsam heraus. Sie hatte ihn noch nie gesehen.

      Endlich tat sich vor ihr eine Lücke auf. Sofort drückte sie auf das Gaspedal und schaffte zwei Meter, bevor sie wieder zum Stehen kam. Doch jetzt hatte sie wenigstens das Straßenschild vor Augen, das ihr anzeigte, dass es Zeit war, den Blinker zu setzen. Wie gebannt starrte sie darauf. Bockenheim, stand da, der Pfeil zeigte geradeaus. Daneben stand Bahnhof, der Pfeil zeigte nach links. Bahnhof?

      Sie zog die zerknitterte Parkquittung aus dem Aschenbecher und studierte sie im schummrigen Licht der Innenbeleuchtung. Was, verdammt noch mal, hatte der Professor Dienstagnacht zweiundvierzig Minuten am Hauptbahnhof gemacht, fast zeitgleich mit ihr um kurz nach Mitternacht? Als sie aus Spaß mit Sonny gemeinsame Passfotos gemacht hatte?

      Zwei und zwei ergaben immer vier, hatte schon ihre Oma gesagt.

      Giovanna wurde abwechselnd heiß und kalt, und je mehr sie sich der Kreuzung näherte, desto stärker wuchs die innere Beklemmung. Am liebsten hätte sie das Fenster heruntergekurbelt, um Schlüssel und Quittung in die Büsche zu werfen, aus Angst, Dinge über einen Mann zu erfahren, den sie zu kennen geglaubt hatte. Und dem sie vertraut hatte, was noch viel schlimmer war. Den Gedanken, zum Bahnhof zu fahren, verwarf sie augenblicklich. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie diesen Schritt bitter bereuen würde. Somit blieb ihr nur die vernünftige Lösung, nämlich Tommaso abzuholen und mit ihm zur Polizei zu fahren. Schon suchte sie nach ihrem Handy, um ihren Freund vorzuwarnen.

      Die Ampel wechselte wieder die Farbe. Giovanna blieb in ihrer Spur und folgte dem Autokorso. Sie hatte fast das andere Ende der Kreuzung erreicht, da riss sie abrupt das Lenkrad herum. Mit einem waghalsigen Manöver und leicht durchdrehenden Rädern bog sie nach links, zum Bahnhof. Das Protestgehupe war ohrenbetäubend. Im Rückspiegel sah sie, dass sowohl ein Kastenwagen als auch ein Alfa Romeo ihrem Beispiel folgten. Der Verkehr an der Kreuzung brach endgültig zusammen.

      Mit dem Hupkonzert im Ohr und den zwei Gesinnungsgenossen im Schlepptau bretterte sie Richtung Bahnhof. Es ging nicht anders. Sie musste wissen, was im Schließfach war, auch wenn sie vor Angst fast starb.

K11

      Ratten waren gefährliche Tiere, hatte Giovanna schon als Kind gelernt. Sie brachten Krankheit und Verderben. Die neapolitanischen, von ihrer Oma auch zoccole genannt, waren die schlimmsten ihrer Sorte; Ungeheuer von der Größe einer Katze, die nachts aus der Kanalisation herauskrochen und in den heruntergekommenen Krankenhäusern der Stadt ihr Unwesen trieben. Wem am Morgen nur eine Zehe fehlte, der hatte Glück.

      Die deutschen Ratten waren anders. Wählerischer. Bei ihnen musste es gleich der Stromverteiler des Frankfurter Hauptbahnhofs sein. Eine gewisse Dramatik in der Wirkung war den Vierbeinern nicht abzusprechen, aber am Ende erwiesen sie sich als dumm.

      »Zwei haben sich selber gegrillt«, erklärte eine käsig aussehende Frau allen, die wegen der defekten Schließfächer am Schalter für Gepäcksicherheit anstanden. »Um den Rest kümmern sich die Kammerjäger.«

      Endlich verstand Giovanna, was sie soeben erlebt hatte.

      Sie war keine fünf Schritte aus der Tiefgarage des Hauptbahnhofs gekommen, als sie in den Sog einer Menschengruppe gezogen wurde, die sich, mit Fahnen und Plakaten gewappnet, gerade in Bewegung setzte und Richtung Rolltreppe marschierte. Eine Frau gab den Lauftakt vor.

      »Recht auf Leben, Recht auf Leben!«, schrie sie kraftvoll ins Megafon und alle aus der Gruppe schrien mit.

      Giovanna konnte nicht sagen, wie viele Menschen protestierten, aber mehr als genug, denn sie war in der Menge eingekeilt und musste mitlaufen.

      Das ungemütliche Untergeschoss war noch schummriger als sonst, und erst als sie die Treppe in die Haupthalle hochstiegen, sah sie die Fahnen genauer: vom Tierschutzverein, vom Tierschutzbund, vom WWF und eine einzelne vom DGB Frankfurt.

      Free Rats hatten die Demonstranten auf Pappkartons geschrieben. Giovanna verstand nichts mehr. Was hatte die Gewerkschaft mit den ekligen Viechern zu tun? Sie wagte nicht, danach zu fragen, aber wenigstens war sie nicht unter Nazis geraten.

      Irgendetwas stimmt hier nicht, hatte sie noch Zeit zu denken, da erreichten sie schon die Bahnhofshalle. Außer dem Lärm der Gruppe war nichts zu hören. Keine Zugbremsen, keine Ansagen, keine Gespräche von den Reisenden, die dicht gedrängt herumstanden. Die hohe Halle vervielfältigte den Schlachtruf der Protestler und es schien, als würde eine Armee einmarschieren. Giovanna hielt sich die Ohren zu. Die Stimme aus dem Megafon brach ab, die Gruppe blieb stehen. Sie wurden angestarrt, als kämen sie direkt aus dem Zoo.

      Eine unangenehme Unruhe breitete sich aus.

      Plötzlich stürmten von den Seitenarmen Polizisten in voller Montur in die Halle und kämpften sich zu den verstummten Demonstranten vor. Diese wollten ausweichen, aber wohin? Genau in dem Moment knackste es in den Lautsprechern und eine modulierte Stimme kündigte die Einfahrt des ICE 101 aus Berlin an. Der Zug hatte zwei Stunden Verspätung.

      Die gereizte Stimmung, die schon die ganze Zeit über allem gewabert hatte, entlud sich in Chaos und Tumult: Fahrgäste griffen nach ihrem Gepäck und rannten auf den einzigen Zug los, der es in den Bahnhof geschafft hatte. Sie drängelten und schubsten, stießen Koffer um und benutzten das Handgepäck als Rammbock, ungeachtet dessen, ob sie andere Reisende oder die Polizisten erwischten, die ihrerseits versuchten, die unübersichtliche Gruppe von Demonstranten einzukesseln. Instinktiv wollten die Staatsdiener die unkontrollierte Masse bändigen, während die Tierschützer die Gunst des Moments nutzten, um in den Untergrund abzutauchen. Nur Giovanna schlüpfte durch eine Menschenlücke und begab sich endlich auf die Suche nach dem Schließfach, das zum gefundenen Schlüssel passte.

      Der Schalter der Gepäcksicherung glich einer belagerten Burg. Von den Wartenden erfuhr sie, dass es im gesamten Bahnhof ein Blackout gegeben hatte. Die Ticketautomaten, die Rolltreppen, die Tafeln mit den Fahrgastinformationen und die Schließfächer waren noch immer tot.

      »Mausetot«, sagte ein Junge mit Bommelmütze, der sich aus der langen Warteschlange verabschiedet und auf einen Rucksack gesetzt hatte. Der Junge und ein kleiner, aufgepumpter Mann in einer altmodischen Lederjacke, der entspannt am Schaufenster des nebenan liegenden Blumenladens lehnte, schienen die Einzigen zu sein, die sich nicht vom Chaos mitreißen ließen. Giovanna beneidete sie darum. Sie selber fror und schwitzte im Wechsel, ein unangenehmer


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