Die List der Schildkröte. Elisabetta Fortunato
sie sich in der Nacht von Sonnys Küssen betäuben lassen. Umso heftiger brachen jetzt die Fragen hervor, die sie sich seit dem Erwachen unablässig stellte: Warum der Professor den Kultwagen aus dem Museum gebracht und sie in diese Geschichte mit hineingezogen hatte. Und, was am schlimmsten war, ob sie jetzt dafür bezahlte, nicht früher auf andere gehört zu haben.
Viele hatten sie davor gewarnt, sie würde sich ihre Chancen auf eine Arbeit im Museum verbauen, wenn sie mit von Schacht verkehrte. Der Professor war mit seiner radikalen Haltung in Bezug auf illegal ausgegrabene Stücke in der Szene umstritten und hatte schon für einige Skandale gesorgt. Wie in dem Fall eines unschätzbar wertvollen Goldgefäßes aus einem geplünderten Königsgrab im Südirak, das er im Museumstresor versteckt und sogar vor dem Zoll zurückgehalten hatte, damit es nicht in den Kunsthandel zurückgelangen konnte.
Damals hatte sie seine Haltung bewundert, diese Kompromisslosigkeit, die ans Fanatische grenzte, das Brennen für eine Sache. Und heute? Heute wusste sie nicht, was sie denken sollte. Sie verwünschte ihre eigene Naivität bis sie vor der Kronberger Straße 28c den Blinker setzte, in den Innenhof fuhr und den Wagen abstellte. Endlich war sie zu Hause.
Was Maria, ihre Putzfrau, auszeichnete, fehlte deren Mann gänzlich. Pietro war als Hausmeister so wortkarg wie faul. Der Schnee in der seit Tagen ungeräumten Einfahrt war am Vorabend unter dem Regen aufgetaut und in der Nacht wieder zugefroren. Jetzt hatte er sich in eine bizarre Eislandschaft verwandelt, auf der man ausrutschen und sich den Hals brechen konnte. Giovanna tastete sich vorsichtig an der Hausmauer entlang.
Im Treppenhaus war es fast so kalt wie draußen und fröstelnd öffnete sie ihren Briefkasten. Dieser quoll über vor Werbung und Sendungen für ihren Mann. Sie leerte den Kasten und zupfte auch die Post ihres Nachbarn aus dem Briefkastenschlitz. Wer würde ab nun für alles zuständig sein? Für die Todesanzeige, die Beerdigung, die Auflösung der Wohnung? Mühevoll erklomm sie die Stufen. Sie fror immer mehr, obwohl sie innerlich brannte. Hoffentlich werde ich nicht krank, dachte sie, und glaubte zu spüren, wie die Schwäche in ihre Beine kroch. Sie sehnte sich nach einer heißen Dusche, ihrem Pyjama und jemandem, der ihr Kaffee und Kekse ans Bett brachte.
»Nonna«, sprach sie leise aus, während sie den Schlüssel in das Schloss der Wohnungstür steckte.
Die Tür ging von alleine auf, sie war nicht abgeschlossen.
Eh no, diesmal war es kein Versehen wie am Mittwochabend. Sie wusste genau, dass sie abgeschlossen hatte.
Mit vor Angst klappernden Zähnen stieß sie die Holztür auf und steckte vorsichtig den Kopf in die Wohnung. Die Diele schien in Ordnung. Von der Konsole blinkte ihr der Anrufbeantworter entgegen, so wie immer. Unschlüssig blieb sie auf der Schwelle stehen und hielt den Atem an. Außer ihrem eigenen Herzklopfen hörte sie keine anderen Geräusche. Sie streckte den Arm zum Schalter und machte Licht. Alles schien an seinem Platz zu sein. Doch etwas störte.
Die Kälte, dachte sie.
»Sei still«, antwortete ihr Verstand. »Wegen dir kommen wir heute ins Gefängnis.«
Giovanna reckte sich Richtung Küche. »Maria?«
Niemand antwortete, aber ihre eigene Stimme zu hören, beruhigte sie. Sie überlegte und kam zu dem Schluss, dass sie sich doch nicht genau daran erinnern konnte, ob sie abgeschlossen hatte oder nicht. Nach dem Radiointerview hatte sie nur noch den Museumsdirektor im Kopf gehabt und die Wohnung überstürzt verlassen. Warum nahm sie Tommasos Geschwätz über osteuropäische Einbrecherbanden ernst und bekam wegen nichts Angst?
Ohne die Tür hinter sich zu schließen, betrat Giovanna die Diele. Sie legte die Schlüssel auf die Konsole und lief zum Schlafzimmer, woher die Kälte zu kommen schien. Sie trat ins Zimmer und unterdrückte einen Schrei. Ein offenes Fenster schwang im Rhythmus der Windstöße hin und her. Und auf dem Bett lag ein toter Vogel.
Die Post, die sie sich unter dem Arm geklemmt hatte, fiel auf den Boden, als sie in die Diele zurückstolperte, hastig nach dem kabellosen Telefon griff und hinausrannte.
In der Einfahrt rief sie die Polizei an. Dann ihren Mann. Diesmal nahm er sofort ab.
»Komm zurück, hier geschehen so viele Dinge, bitte, bitte, bitte, komm zurück, ich habe Angst!« Ihre Stimme überschlug sich, während ihre zitternden Hände kaum den Hörer halten konnten.
»Was ist passiert? Warte …« Er sprach mit jemandem auf Chinesisch. »Giovanna? Bist du noch dran?«
»Die Mafia ist hinter mir her!«
»Jetzt beruhige dich, du bist kaum zu verstehen. Ist es wegen des Professors? Eine schlimme Geschichte, hatte ich dich nicht vor ihm gewarnt?«
»Ich brauche dich, ich stecke in großen …«
»Giovanna«, unterbrach sie ihr Mann, »du bist durcheinander und in diesem Zustand neigst du zur Übertreibung.«
Diesmal nicht, dachte sie. »Julius, bitte!«
Wieder wurden sie unterbrochen, im Hintergrund hektische Stimmen.
Während sie auf die Antwort ihres Mannes wartete, verstand sie erst, was er ihr gesagt hatte. Die Erkenntnis legte sich wie eine Eisschicht auf ihr überhitztes Gemüt: Sie war mit ihrem Problem allein.
Ein Rascheln aus dem fernen Hongkong: »Hör zu, sei vernünftig, ich kann nicht einfach weg. Hier ist es kompliziert, sie vertrauen nur mir … Der Deal ist zu groß.«
»Ich hatte vergessen, dass die Welt ohne Julius Greifenstein stehenbleibt«, sagte sie leise.
»Was ist in dich gefahren? Ich fliege zurück, wenn du darauf bestehst. Aber denk daran, dass von diesen Verhandlungen Tausende Arbeitsplätze abhängen.«
Giovanna kaute auf der Innenseite ihrer Wangen, was konnte sie darauf schon antworten?
»Soll ich kommen, ja oder nein?«
Über ihr flog lärmend ein Krähenschwarm vorbei und nahm auf dem Dach des Nachbarhauses Platz.
Ein Seufzer, dann leise und zärtlich: »Ricciola, wenn du willst, fliege ich zurück. Heute noch.«
Ricciola – Krauskopf, den Kosenamen hatte sie lange nicht mehr zu hören bekommen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Julius …«
»Nun, soll ich kommen? Entscheide dich bitte.«
»Ja. Ich meine nein, ich kriege das hin.«
»Davon war ich überzeugt.« Die Erleichterung in seiner Stimme war unüberhörbar. »Du kannst sicher ein paar Tage bei deinen Freunden … Warte, Frau Wittler sagt, dass dir das Büro die Rede für die Benefizveranstaltung geschickt hat. Du wirst sehen, das lenkt dich ab«.
»Nein, Julius, das schaffe ich …«
»Wir müssen hinein.«
»… nicht.«
Aber er hatte schon aufgelegt.
Sie passte nicht auf und rutschte aus. Es tat höllisch weh. Am frühen Morgen und mitten in der Einfahrt sitzend, weinte sie. Sie heulte wie eine Wölfin, laut und verzweifelt.
Ich schaffe das nicht alleine.
Eine Hand legte sich auf Giovannas Schulter.
»Sind Sie Frau Greifenstein?«
Durch den Tränenschleier blickte sie in zwei besorgt schauende Augen. Dunkelblaue Augen. Sie ignorierte die hingehaltene Hand und stand auf.
Misstrauisch musterte sie den jungen Mann. »Und wenn?«
»Kriminalhauptkommissar Ben Köhler. Ich suche Sie seit gestern.«
Giovanna nickte nur. Gestern war weit weg.
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