Die List der Schildkröte. Elisabetta Fortunato
war, gab sie zuerst den Schlüssel ab und folgte dann einem gestresst wirkenden Mitarbeiter, der das Schließfach mit einem Spezialgerät öffnen musste. Je mehr sie sich ihm näherten, desto schlechter fühlte sie sich. Die Prozedur dauerte keine fünf Sekunden, dann war das Fach offen. Der Mann trat diskret zur Seite.
Giovanna traute ihren Augen nicht. Es war noch schlimmer als befürchtet. Nicht nur wegen der Kiste, die groß genug war, um darin vieles, auch einen daunischen Kultwagen zu lagern, sondern vor allem wegen dem, was auf dem Deckel geschrieben stand: »Im Notfall Giovanna Greifenstein benachrichtigen.« Sie atmete tief ein und zog die Kiste heraus.
Sie war leichter als erwartet. Aber nicht so leicht, als dass sie hätte hoffen können, sie sei leer. Im Gegenteil. Das, was darin war, schien ihr eine hohe energetische Dichte zu haben, ja, radioaktiv zu sein, denn sie hatte das Gefühl, als würde sich das Holz in ihre Hände einbrennen, so heiß fühlte es sich an. Matt verabschiedete sie sich von dem Mann und lief in die Haupthalle zurück. Plötzlich kamen fünf Polizisten um die Ecke geschossen und rannten direkt auf sie zu. Sie erschrak und wollte schon die Hände hochreißen und sich ergeben, doch die Beamten liefen an ihr vorbei. Erst jetzt bemerkte sie den Lärm der Tierschützer, die vor dem Hauptbahnhof zu neuer Stärke gefunden hatten.
Auch wenn man dachte, auf das Schlimmste vorbereitet zu sein, war die Situation, wenn sie eintraf, trotzdem unerträglich. Die Machtlosigkeit vor dem Unerklärbaren, wie sie sie als junge Frau beim Tod ihrer Großmutter verspürt hatte, war wieder da. Giovanna hatte die verräterische Kiste in den Kofferraum des Fiats gelegt und den Deckel geöffnet. Der Kultwagen war zwar dick verpackt, doch erkannte sie ihn an seinen Konturen. Kurz wurde ihr schwarz vor Augen, so brutal waren die Fakten: In ihrem Auto lag das Diebesgut, nach dem halb Europa suchte, und ein Mensch, dem sie vertraut hatte, hatte sie ohne ihr Wissen in eine schlimme Geschichte hineingezogen. Tommaso hatte recht, sie hatte von Schacht zu wenig gekannt.
An der Parkschranke steckte sie das Ticket in den Schlitz. Die Karte wurde eingezogen und gleich wieder ausgespuckt. Sie versuchte es noch einmal. Und noch einmal. In Giovanna zerbarst etwas und sie begann, mit der Faust auf das Lenkrad zu schlagen. Bis sie die Hupe traf. Der kahle Kassenwart, der gerade seine Zigarettenpause machte, zuckte zusammen und kam mit grimmigem Gesicht zu ihr ans Auto.
»Was werden Sie gleich hysterisch?«
Ohne zu antworten, hielt sie ihm mit zittrigen Fingern das Ticket hin. Der Mann steckte es in den Schlitz und die Schranke öffnete sich.
Giovanna legte den ersten Gang ein, löste die Kupplung und drückte das Gaspedal. Der Wagen röhrte nur ins Leere. Sie zog den Schaltknüppel zurück und drückte ihn wieder in den ersten Gang, dann betätigte sie die Fußpedale. Der Cinquecento stotterte kränklich.
In ihrem Rücken hatte sich eine Autokolonne gebildet und der Parkwächter wartete mit verschränkten Armen. Giovanna war so heiß, dass sie glaubte zu ersticken. Sie wollte die Heizung herunterfahren, aber sie wusste nicht mehr, wie das ging. Die eigene Verwirrung versetzte sie in Panik, sie atmete immer schneller. Da berührte ihre Hand die angezogene Handbremse, und gerade als der Wächter sich wieder näherte, löste sie sie. Wie eine Rakete schoss das Auto auf die Ausfahrtsrampe zu. Bevor sie im Tunnel verschwand, erhaschte sie im Rückspiegel noch einen letzten Blick auf den Mann, der, von ihren Abgasen eingenebelt, so stark hustete, dass er sich krümmen musste.
Direkt zur Polizei? Oder lieber zuerst Tommaso abholen und dann zur Polizei? Beide Möglichkeiten ließen sie zögern. Statt sofort in den Abendverkehr einzufädeln, hielt sie am Ende der Rampe an, fischte ihr Handy aus der Tasche und nahm eine Nachricht auf. »Tommaso, ich komme nicht. Professor von Schacht hat … Er ist … Ich melde mich später von zu Hause aus.«
Giovanna hatte sich entschieden. Sie würde nach Hause fahren und in Ruhe nachdenken. Nicht erst seit sie den Kultwagen gefunden hatte, ging die Geschichte nicht auf.
In der Kronberger Straße war der Kastenwagen endlich weg. Giovanna parkte direkt vor der Einfahrt und holte die Kiste aus dem Kofferraum. Ächzend stemmte sie die Haustür auf, die noch immer nicht einschnappte, drückte den Lichtschalter und drehte sich um. Fast traf sie der Schlag. Auf der Treppe saß ein afrikanischer Gott, der bei ihrem Anblick strahlte, als würden tausend Sonnen aufgehen.
»Hi«, sagte Sonny.
Hinter Giovanna knallte die Tür zu.
»Was machst du hier?«
Sonny antwortete nicht gleich, sondern musterte sie interessiert.
»Nice look.«
Was meinte er damit? Sie war doch bis auf die Knochen durchgeweicht und …
Ihre Hand fuhr zum Kopf hoch. Sie war die ganze Zeit mit einem tierischen Turban herumgelaufen! Schnell löste sie den Leopardenschal und legte ihn sich über die Schultern.
»Dein Ring …«, begann sie.
»I know«, antwortete er und schaute sie weiter an.
Giovanna fuhr sich mit der Hand durch die feuchten Haare.
Sonny stand auf und kam auf sie zu.
»You are so crazy«, sagte er, während er ihren Schal an beiden Enden packte und über seine Hände aufzurollen begann. Dann, mit rauerer Stimme, »and so fuckin’ hot.«
Mit dem Schal zog er sie zu sich und küsste sie.
Abrupt fuhr Giovanna hoch. Ihr Herz raste und sie bekam kaum Luft. Es war dunkel, zu dunkel. Sofort langte sie mit der Hand nach der Nachttischlampe, doch sie stand nicht an ihrem üblichen Platz. Panisch strampelte sie sich von der Decke frei und setzte sich auf. Wo war die Lampe? Wieso schwankte alles? Und dieser Lärm, dieser schreckliche Lärm von Tieren, die vor Angst schrien.
Nonna, wollte sie rufen. Aus ihrem trockenen Hals kam nur ein Krächzen. Nonna.
Eine Tür fiel ins Schloss, dann Stimmen. Fröhliche Stimmen. Das konnte nicht sein. Sie hatten doch alle geschrien, gerufen, geweint, geklagt in dieser verfluchten Nacht, als das Erdbeben ihr Leben zerstört hatte.
Wieder hörte Giovanna Geräusche, die nicht passen wollten. Ein Wagen, der gerollt wurde, eine Tür, die aufgeschlossen wurde, neue Stimmen, diesmal gedämpft und ruhig. Sie strich sich die verschwitzten Haare aus dem Gesicht und versuchte, den Atem zu kontrollieren. Sie war nicht bei ihrer Oma. Sie war auch nicht in ihrem Schlafzimmer. Wo war sie dann? Erst jetzt sah sie, dass es im Zimmer nicht stockdunkel war. Die Vorhänge am Fenster standen eine Handbreit offen. Draußen wurde es gerade hell. Konzentriert schaute sie sich um und erkannte die Konturen einzelner Möbelstücke: Schreibtisch, Konsole mit Flachbildschirm und in der Ecke einen Sessel. Ein Hotelzimmer. Neben ihr raschelte das Laken. Sie machte sich steif. Wer lag da? Mit der Hand tastete sie vorsichtig auf die andere Seite des Betts und fand eine glatte, durchtrainierte Schulter. Mit einem Schlag waren die Nachtgespenster weg.
Giovanna setzte sich auf und lehnte sich an die lederne Bettpolsterung. Das kühle Material tat ihr gut. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er von spitzen Zähnen zerbissen. Die stechenden Schmerzen strahlten bis in die Haarspitzen. Sie hob die Hände, um sich an den Schläfen zu massieren, aber noch in der Bewegung zuckte sie zurück. Sie hätte schwören können, dass sich ihre Locken bewegt hatten, dass sie lebten. Sie sprang aus dem Bett und lief ins Bad.
Im Spiegel blickte ihr keine Medusa entgegen. Jedoch war das Bild, das sie abgab, nicht weniger beunruhigend. Ihre Gesichtshaut schimmerte fahl, zwischen der Nasenwurzel und den Mundwinkeln hatten sich zwei tiefe Kerben eingegraben und die Augen, die grünen sonst so leuchtenden Augen, verschwanden fast in den Tiefen einer dunklen Bucht. Sie war über Nacht hässlich geworden! Automatisch fasste sich Giovanna in die Haare, um sie zu einem dicken Knoten zu drehen, und entdeckte einen knallroten Knutschfleck am Hals. Auch das noch. Sie ließ die Haare los, füllte das Waschbecken mit kaltem Wasser und