Die List der Schildkröte. Elisabetta Fortunato

Die List der Schildkröte - Elisabetta Fortunato


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aus, dafür konnte sie klarer denken. Aber das war auch nicht schön. Denn erst jetzt, in diesem anonymen Badezimmer, alleine mit sich und dem grausamen Spiegelbild, erfasste sie die volle Tragweite ihres Handelns vom Vorabend. Sie hatte eine große Dummheit begangen, una grande cazzata. Und wieso? Weil sie an die Unschuld ihres Freundes geglaubt hatte, der wohl so unschuldig nicht war.

      Sie musste sofort zur Polizei und die Kiste, die sie unter Sonnys erstauntem Blick mit ins Hotelzimmer genommen hatte, abgeben, ansonsten würde es schwierig, wenn gar unmöglich, zu erklären, dass sie mit der Sache nichts zu tun hatte. Nichts, obwohl sie die einzige Vertraute des Professors gewesen war. Nichts, obwohl er den Schließfachschlüssel in ihrem Wagen versteckt hatte. Und schon gar nichts, obwohl auf der Holzkiste eine an sie gerichtete Botschaft geschrieben war. Wenn sie nicht gleich handelte und der Polizei zuvorkam, würde aus der Dummheit eine Straftat werden. Andere kamen für weniger ins Gefängnis.

      Allein der Gedanke daran machte sie schwindlig und sie musste sich am Waschbecken festhalten.

      Als sie in Neapel Geisteswissenschaften studiert hatte, war sie morgens und abends an den hohen Mauern des Carcere di Poggioreale entlanggelaufen, einem der größten und berüchtigtsten Gefängnisse Italiens. Sie hatten sie verfolgt, die Stimmen, die über die Mauern flüchteten und von Gewalt und Willkür erzählten. Die körperlosen Hände, die jenseits der Gitterfenster verzweifelt nach Gerechtigkeit suchten, aber nur leere Versprechungen zu fassen bekamen.

      Diese und viele andere Tropfen des kaputten neapolitanischen Alltags hatten sie innerlich ausgehöhlt und genau eine Woche nach ihrem Studienabschluss war sie nach Bologna geflüchtet.

      »Beruhige dich, Giovanna«, sprach sie sich Mut zu. »Du bist nicht in Süditalien. Hier in Deutschland ist die Polizei anders. Ihr kannst du vertrauen, sie ist gewissenhaft. Weder lässt sie sich belügen, noch begnügt sie sich mit einfachen Lösungen. Sie wird so lange den Fall verfolgen, bis sie ohne Zweifel sagen kann, was Karl-Friedrich getan hat. So lange, bis klar ist, wieso. Ja, Giovanna, hab keine Angst. Die Polizei wird das tun. Die Polizei muss das tun. Ohne Vorurteile. Bis die Wahrheit ans Licht kommt. Sie ist unbestechlich.«

      Mochte ihr noch so vieles an Deutschland nicht gefallen, auf die Staatsgewalt konnte sie sich verlassen.

      Giovanna stieß sich vom Waschbecken ab. Jetzt, wo die Entscheidung gefallen war, ging es ihr nicht schnell genug mit der Morgentoilette. Bevor sie das Bad verließ, rieb sie den Knutschfleck dick mit der Bodylotion des Hotels ein und zog die noch feuchten Haare darüber lang. Dann machte sie das Licht aus und kehrte ins Schlafzimmer zurück.

      Wie kann ein Mensch nur so ruhig schlafen, fragte sie sich irritiert, während sie im halbdunklen Zimmer ihre Kleider zusammensuchte. Sonny lag noch so, wie sie ihn verlassen hatte, auf der Seite, den Arm über der Decke ausgestreckt, das Bein angewinkelt. Nur sein Atem war tiefer geworden.

      Als sie angezogen war, stellte sie sich ans Bett und betrachtete ihn. Am liebsten hätte sie sich neben ihn gelegt und sich von seiner Ruhe wie von einer Krankheit anstecken lassen. Aber sie musste weg. Um sich zu retten. Sie war ihm am Vorabend ohne zu zögern ins Hotel gefolgt, gegen jede Vernunft. Lag es an den verwirrenden Ereignissen der vergangenen Tage, die sie zugänglich für seine Nähe machten? Oder lag es an ihm? Es machte keinen Unterschied. Im Kokon des Hotelzimmers hatte es nur einen Mann und eine Frau gegeben, und ihre Lust aufeinander.

      Viel hatten sie in der Nacht nicht geredet. Schon gar nicht über das, was zwischen ihnen war. Was Sonny wollte, was sie ihm bedeutete, wusste sie nicht. Sie wollte es auch nicht wissen, so wenig, wie sie wissen wollte, wie das Gefühl hieß, das sich wie ein Ölteppich auf ihrem inneren Meer ausbreitete und sie mit seinem geheimnisvollen Glitzern zu locken versuchte, während sie selber nur bis zu den Knöcheln im Wasser stand, zaudernd, ob sie hineinspringen sollte oder nicht. Einfach, weil sie nicht sehen konnte, was sich darunter verbarg.

      Mir fehlt der Mut für dich, Sonny Omowura.

      Giovanna beschloss zu gehen, ohne sich von ihm zu verabschieden. Sie griff nach der Kiste mit dem Kultwagen und war schon an der Zimmertür, als sie es sich anders überlegte und noch einmal zurückkehrte. Vor der Konsole zog sie sich den Leopardenschal vom Hals und legte ihn neben seinen aufgereihten Schmuck. Dann verließ sie das Zimmer, angestrengt darauf bedacht, sich nicht dem aufgewühlten Meer zu nähern.

K13

      Der Kultwagen hatte sich in der Nacht nicht in Luft aufgelöst. Leider. Dick verpackt lag er in der Kiste, die sie hoffnungsvoll geöffnet hatte, kaum dass sie die Hotelgarage betreten und ihren Wagen aufgesperrt hatte. Giovanna verschloss den Holzdeckel und schlug den Kofferraum so fest zu, dass der Fiat erzitterte. Sie setzte sich ins Auto, parkte aus, fuhr aus der Garage und schlängelte sich im morgendlichen Verkehr Richtung Polizeipräsidium. Schon nach wenigen Metern war Schluss. In der Stephanstraße hatte es einen Auffahrunfall gegeben. Seufzend nahm sie den Gang raus und zog sich die Ärmel des Pullovers über die Hände. Die italienische Heizung kam gegen die deutsche Kälte nicht an.

      Selten war sie so früh in der Innenstadt unterwegs. Durch die beschlagene Scheibe beobachtete sie die Passanten. Ein kräftiger Wind zerrte wie ein quengelndes Kind an deren Kleidern und es war eher ein wackeliges Gleiten, denn ein Laufen, das sie auf die andere Straßenseite brachte. Seit fünf Jahren hatten sie keinen solchen Winter mehr in Frankfurt erlebt und Giovanna konnte sich noch lebhaft an das Gelächter ihres Mannes erinnern, als sie ihm gesagt hatte, dass, wenn wirklich etwas ihre Ehe gerettet hatte, es die Erderwärmung gewesen war.

      Das Gefühl kam unerwartet und überraschte sie. Sie hatte Lust, seine Stimme zu hören, ihm von der Kiste zu erzählen. Wenn es jemanden gab, der auch in der vertracktesten Situation Ruhe bewahren und nach einer eingehenden Analyse die richtigen Vorschläge machen konnte, dann Julius. Es war seine Art gewesen, in die sie sich verliebt hatte. In Bologna, während sie in der brütenden Nachmittagshitze zusammen Italienisch lernten, sie als Lehrerin, er als Schüler. Die Klarheit seiner Gedanken, die Ordnung in seinen Gesprächen, seine wohltuend sachliche Weltanschauung gepaart mit einem reichen Schatz an Lebenserfahrung; mit anderen Worten, Julius hatte das, was ihr fehlte und sie war von ihm angezogen worden wie die Motte vom Licht.

      Sie würde ihrem Mann alles erzählen und er würde ihr den richtigen Rat geben, so wie damals, als sie ihm nach einem Jahr Ehe wild gestikulierend und überhitzt erklärt hatte, dass sie sich in Frankfurt lebendig begraben fühle und noch am selben Tag ihre Koffer packen und nach Italien fliegen wolle.

      Per sempre, für immer.

      Julius hatte sie reden lassen, um ihr dann ruhig zu antworten, dass er das hatte kommen sehen. Sein Vorschlag, sie solle sich in seiner Abwesenheit mit anderen Männern treffen und sich die Hörner abstoßen – schließlich sei sie mit sechsunddreißig Jahren wahrhaftig zu jung fürs Grab – brachte ihm zuerst eine neapolitanische Ohrfeige ein, erwies sich aber im Nachhinein als die wahre Rettung ihrer Ehe.

      Würde sie ihren Mann um diese Zeit in Hongkong erreichen? Einen Versuch war es wert. Mit der Rechten suchte sie in ihrer Tasche nach dem Handy, dann sah sie, dass der Akku leer war. Was würde ich jetzt für einen Espresso geben, dachte sie noch, als ihr Blick auf die Zeitungsaushänge eines Kiosks fiel.

      Die Fahrt nach Hause war schlimmer als die Via Dolorosa, jeder Kiosk eine Kreuzwegstation mit Zeitungsaushängen, die dazu aufforderten, niederzuknien und die Andacht für die Sünden des Professors zu beten. »Spektakuläre Wende in Museumskrimi«, »Ein Toter und der verschwundene Kultwagen«, »Spur führt nach Osteuropa« und ihr emotionaler Tiefpunkt: »Hauptverdächtiger im Streit von Komplizen getötet.« Giovanna hätte schwören können, dass nicht einmal Jesus Christus auf seinem Kreuzweg so viel gelitten hatte, wie sie jetzt.

      Zunächst fuhr sie tapfer weiter. Als sie aber auf der Bockenheimer Anlage eine Fahrradfahrerin mit Kind übersah und die beiden nur nicht überfuhr, weil sie in letzter Sekunde in die Blumenbeete am Straßenrand auswich, musste sie sich eingestehen, dass es ihr schlechter ging, als sie zugeben wollte. Was war sie naiv gewesen, im Hotelzimmer zu denken, sie würde es alleine schaffen, sich vor der Polizei freizusprechen. Was sie brauchte, war ein Anwalt, nicht irgendeinen,


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