„So lasset uns ... den Staub von den Schuhen schütteln und sagen: Wir sind unschludig an Eurem Blut“. Richard A. Huthmacher
„So lasset uns ... den Staub von den Schuhen schütteln und sagen: Wir sind unschludig an Eurem Blut“
„Spektakulums“ waren, seinerzeit, auch die Bauern. Als unterdrückte Schicht. Und Luther. Der – vordergründig, bei nicht näherem Hinsehen – gegen diese Unterdrückung Stellung bezog. Mit seinen 95 Thesen.
Der realiter jedoch die Interessen der Fürsten vertrat. Gegen das päpstliche Finanzgebaren. Gegen den Ablasshandel, welcher die Kassen der Kirche füllte und den Bau des Petersdoms finanzierte.
Der, Luther, mit eben diesen Thesen die gravamina nationis germanicae, die Beschwerden der deutschen Fürsten gegen den Papst und die römische Kurie unterstützte, und zwar gegen das Konkordat (von 1448) zwischen Papst (Nikolaus V.) und Kaiser (Friedrich III.), das gegen den Willen der Reichsstände zustande gekommen war; insofern stellen die Gravamina auch einen Protest gegen den Kaiser und dessen Willkür dar, sind sie ein Statement für eine Verschiebung der Macht zugunsten der Fürsten.
„Und Summa, Sünde hebt Obrigkeit und Gehorsam nicht auf, aber die Strafe hebt sie auf, das ist, wenn das Reich und die Kurfürsten einträchtiglich den Kaiser absetzten, daß er nimmer Kaiser wäre“, so Luther (s. zuvor). Im Sinne einer Emanzipation der Fürsten gegenüber dem Kaiser. Im Sinne der Gravamina.
Und in diese Sinne (gegen papsttreue [Kirchen-]Fürsten und namentlich gegen Papst und Kurie) sind die lutherschen Thesen, namentlich die Thesen 20 bis 95 zu verstehen: Luther vertrat die Interessen seiner weltlichen Herren gegen die seiner kirchlichen Oberen. Und nicht die Belange der einfachen Leute (d.h. der Bauern, Handwerker und Bürger, ggf. auch der kleinen, zunehmend verarmenden Adeligen) gegen die Obrigkeit. Insofern war es, von Anfang an, ein Missverständnis der benachteiligten Schichten, Luther als den Sachwalter ihrer Interessen zu betrachten.
Summa summarum konnte Luther mit seinen 95 Thesen an die (Miss-)Stimmung – auch vieler Mächtiger, nicht nur des „gemeinen“ Volkes – gegen Papst und Kirche anknüpfen; auch ohne die Protektion seines Landesfürsten (Friedrich von Sachsen) wäre Luthers Risiko kalkulierbar gewesen. Die Reformbedürftigkeit der Kirche und ihrer Verfasstheit war seit langem ein offenes Geheimnis; Luthers Wagnis, den vorhandenen Reformstau anzusprechen, war somit nicht allzu groß (und umso geringer, wenn man unterstellt, ihm sei von Seite seines Landesherrn signalisiert worden, man werde seine schützende Hand über ihn halten: Auch Friedrich der Weise hatte kein Interesse daran, dass die Gelder aus dem Ablasshandel nicht im Lande blieben, sondern nach Rom flossen).
Es ist gleichwohl das Verdienst Luthers, dass durch seine theologische Grundsatzkritik das allgemeine Unbehagen an der Kirche und deren Missständen systematisch strukturiert, formuliert und propagiert wurde: Bereits Ende 1520 waren 82 seiner Schriften oder Schriftensammlungen in insgesamt mehr als 600 Auflagen erschienen; bei einer durchschnittlichen Auflagenzahl von 1000 Exemplaren hatte „man“ noch vor seinem Auftritt auf dem Wormser Reichstag (1521) weit mehr als eine halbe Million Luther´scher Schriften unter das Volk gebracht. Jeder, der damals lesen konnte (und Unzählige mehr, denen die Invektiven gegen Papst und Kirche vorgelesen wurden), dürfte die Schriften Luthers somit bereits wenige Jahre nach dem Zeitpunkt (Oktober 1517) gekannt haben, den man heutzutage mit dem Beginn der Reformation gleichsetzt.
Wobei zu fragen bleibt, wer den Propaganda-Feldzug bezahlt hat – sicherlich nicht Luther, der als Mönch nie und nimmer über die finanziellen Mittel verfügte, die horrenden Kosten für ein solches Großprojekt aufzubringen! Heutzutage – quod est annotandum – wäre dies sicherlich eine Angelegenheit von George Soros und eine Aufgabe für seine Open Society Foundations. Ober bist Du anderer Meinung, Liebste?
Jedenfalls kamen Luthers (vordergründig) theologische Überlegungen und Ausführungen nur deshalb zum Tragen, weil sich gesellschaftliche, politische und auch wirtschaftliche Interessen sowohl der herrschenden Schicht als auch des „gemeinen Volkes“ mit der neuen evangelischen Lehre und deren Ablehnung des Papsttums und des weltlichen Herrschaftsanspruchs der Kirche deckten; deshalb nahmen breite Bevölkerungsschichten auch (wiewohl zu Unrecht) an, Luther vertrete ihre Interessen.
Indes: Nein, und nochmals nein. Luther war am gemeinen Volke nicht interessiert. Er vertrat die Interessen der Fürsten gegen die der Kleriker. Denn das Hemd war ihm näher als der Rock. Und der Papst in Rom war ebenso weit weg wie es später die Zaren in Moskau waren. Deshalb legte er sich mit seinen weltlichen Oberen ins Bett. Nicht mit den kirchlichen. Gleichwohl: Hure bleibt Hure.
Die Macht des Kaisers und namentlich die des Papstes war – salopp formuliert – im Sturzflug begriffen; nach Karl V. wurde nie mehr ein Kaiser durch einen Papst gekrönt, nicht zuletzt als Folge der Reformation und ihrer Neuordnung der (seinerzeit aufs engste miteinander verbundenen) kirchlichen und weltlichen Machtverhältnisse und Herrschaftsstrukturen.
Und Luther, seinerseits, legte nach: In der zweiten Hälfte des Jahres 1520, also nach der Bannandrohungsbulle Exsurge Domine und noch vor der eigentlichen, weitestgehend wirkungslos gebliebenen, im Übrigen bis zum heutigen Tage nicht aufgehobenen Bannbulle Decet Romanum Pontificem, erscheinen drei seiner berühmtesten Schriften: An den christlichen Adel deutscher Nation, De captivitate Babylonica ecclesiae (Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche) und Von der Freiheit eines Christenmenschen.
In ihnen wird die Kirche „als ein dicht gefügtes, nahezu perfektes Herrschaftssystem“ dargestellt, der Papst erscheint als der von der Bibel verheißene Antichrist schlechthin.
Die politisch brisanteste Schrift (der zuvor genannten) war sicherlich An den christlichen Adel deutscher Nation; innerhalb nur weniger Tage waren die 4.000 Exemplare der ersten Auflage vergriffen.
Weil – derart das Narrativ – die korrupte Geistlichkeit zu überfälligen Reformen (namentlich Erziehung und Bildung sowie die sozialen Probleme der Zeit betreffend) nicht imstande sei, müssten sich, so Luther, kirchliche Laien, zuvorderst der Adel und die Fürsten, den anstehenden Aufgaben stellen: Der Papst – und nun lässt Luther die Katze aus dem Sack – solle seiner weltlichen Macht entbunden, ein nationales Kirchenwesen (ohne Mönchtum und ohne Zölibat der Priester) solle errichtet werden; alle Gläubigen seien Priester und gleich dem Papst imstande und berechtigt, die Heilige Schrift auszulegen. Sola scriptura – die Bibel und die Bibel allein repräsentiere die Autorität des Glaubens.
Die 30 Thesen Von der Freyheith eines Christenmenschen (De libertate christiana) verfasste Luther als Reaktion auf die Bannandrohungsbulle „Exsurge Domine“: Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan – diese dichotomisch-kryptische Formulierung (These 1 des Traktats) spiegelt Luthers Freiheitsbegriff. Und lässt jede Deutung offen. Bewusst, behaupte ich. In doloser Absicht. Behaupte ich. Zur Verführung der Masse. Behaupte ich. Sofern und soweit diese den eigenen Zielen (im Widerstand gegen die alte päpstliche und bei der Etablierung einer neuen Autorität, derjenigen der Fürsten) dienlich ist.
Und wenn Luthers widersprüchliche Formulierung – deren Antagonismus sich dadurch auflöse, dass die Freiheit die religiöse und geistige Unabhängigkeit, die Un-Freiheit eine (freiwillige) Unterordnung unter weltliche Macht und Obrigkeit bedeute und bezeichne –, wenn dieser lutherische Freiheitsbegriff, jedenfalls der Teil, der nicht zur Unterwerfung aufruft, den Bauern als politische Kampfparole diente, wenn sich die Unterdrückten und Geknechteten den vermeintlich (von Obrigkeits-Willkür) emanzipierenden Teil der lutherischen Formulierung in ihrem Aufbegehren zu eigen machten, kann man´s ihnen verdenken? Wohl kaum.
Auf dem Reichstag zu Worms wurde Luther bekanntlich exkommuniziert. Geltendem (Reichs-)Recht zufolge hätte die päpstliche Exkommunikation Luthers auch die kaiserliche Reichsacht bedingt. Indes: Die Kirchenfürsten widersetzten sich: „Die Rom- und Kirchenkritik Luthers war für viele Reichsstände von politischem Interesse und Nutzen, verschiedene Reichsstände waren der Theologie und Kirchenkritik Luthers aufgeschlossen (so das Kurfürstentum Sachsen oder die Reichsstadt Nürnberg) und hatten sie bereits in ihren Territorien gefördert. Eine bedeutende Öffentlichkeit stand nun schon in Deutschland hinter Luther und seiner Kirchenkritik. Die Entscheidung, wie mit dem kirchlichen Urteil über Luther verfahren werde, war überdies eine Frage politischer Macht im Verhältnis von Kaiser und Reichsständen.“
Mit anderen Worten: Die Fürsten probten den Aufstand. Gegen das System.