Wir sind wie Stunden. Michael Thumser
– pro Tag ging sie nur etwa vierzig Sekunden vor oder nach – dem Geist des Weines. Denn hinter dem Zifferblatt befand sich, aufgeschraubt in quadratischem Holzrahmen, eine Art Rad aus vier Glaszylinderchen, teilweise mit Spiritus gefüllt. Über Röhren standen die luftdichten Gefäße miteinander in Verbindung. Im Wechsel lag immer eines an einer kleinen Heizeinheit an, so lange, bis der Spiritus in ihm verdampft und als Dunst in den darüber liegenden Zylinder emporgestiegen war. In dessen Kühle kehrte das Ethanol kondensierend zu seinem flüssigen Zustand zurück und beschwerte dadurch den Zylinder, der um eine Position nach unten gezogen wurde. So drehte sich das Rad mit Unterbrechungen, Stück um Stück, doch regelmäßig. Dabei spannte es über einen Hebel eine Feder, die ihre Kraft an die Zeiger weitergab, wie es Uhren geziemt.
Uhren sind, nach einem Wort des US-Soziologen Lewis Mumford, unbedingt zu den „Schlüsselmaschinen der Neuzeit“ zu zählen. Denkbar, dass der Geist des Weines dem Urheber dieses Exemplars nicht allein als Treibmittel für sein Wunderwerkchen diente, sondern ihn selbst zu einer Technik inspirierte, die es erlaubte, 1941 in Weltkriegszeiten Strom aus der Steckdose zu nutzen, während alle verfügbaren Elektromotoren wehrtechnisch verbraucht wurden. Allemal kündet das chronometrische Kuriosum vom Geistreichtum menschlicher Erfinder-Fantasie. Sie setzte die Flüchtigkeit einer chemischen Substanz, den unausgesetzten Fluss subatomarer geladener Teilchen und den Wechsel zwischen heißer und kalter Temperatur in ein quantifizierbares und greifbares Verhältnis zueinander, um etwas so Ungreifbares zu messen wie die Zeit. Die hat also, zumindest im Zuge ihrer Veranschaulichung, mit Energie zu tun, denn an den in Gang gebrachten Zeigern, den leuchtenden Ziffern der Uhr lesen wir die Zeit ab; und sie braucht zumindest bei klassischen Uhren mit Zifferblatt Raum, denn die Zeiger schreiten voran, legen einen Weg zurück.
Wann beginnt Zeit? Mit größter Selbstverständlichkeit halten wir sie für ein unbeeinflussbares Immer-und-Ewig. Aber denken wir nur einen Augenblick über sie nach, sind wir uns gleichwohl bewusst, dass wir, indem wir sie primär in Stunden, sekundär in Minuten und Sekunden einteilen, recht willkürlich mit ihr verfahren. Wann beginnt eine Stunde? Wir gewöhnten uns an, ihren Anfang mit dem unendlich schmalen Moment gleichzusetzen, da sich der große Uhrzeiger von der Zwölf als Startpunkt zum ersten der sechzig Minutenstriche aufmacht. Bei Bahnhofsuhren legt der Sekundenzeiger für zwei Sekunden ein Päuschen auf der Zwölf ein, bevor er die nächste Runde angeht wie nach einem verzögerten Stups. Leicht beschleicht uns für jene zwei Sekunden der beklemmende Eindruck, die Zeit wolle stillstehen, um dann erst recht einen Sprung zu machen.
Aber die Zeit springt nicht; nicht so, dass wirs spüren könnten. Macht alle Zeit der Welt, macht die Geschichte Sprünge? Fast dürften wir daran glauben, wenn wir den Publizisten Herbert Illig ernst nehmen wollten, der online das obskure Magazin ZEITENSPRÜNGE herausgibt. Als Germanist promoviert, als Geschichtswissenschaftler Autodidakt, machte er sich 1995 bekannt, indem er – im Verein mit dem Technikhistoriker Hans-Ulrich Niemitz von der Universität Leipzig – mit der Behauptung an die Öffentlichkeit trat, die historiografische Dokumentation von dreihundert Jahren des frühen Mittelalters sei nichts als schnöder fake; die in der Chronologie etwa zwischen den Jahren 600 und 900 vermerkte Zeitspanne habe es nie gegeben. Mithin seien auch identitätsstiftende Leitgestalten wie Karl der Große Phantomfiguren aus einer pompösen, aber manipulativen Mogelpackung. In einem bestsellerhaft verkauften Buch ruft Illig eine Reihe von unbestreitbaren Rätselhaftig- und Unerklärlichkeiten in der Datierung von Ereignissen und Entwicklungen der europäischen Geschichte als Zeugnisse auf, um seine im Echoraum eines (dem Buchtitel zufolge) ERFUNDENEN MITTELALTERS versammelten Anhänger mit Scheinbelegen über einen „leeren Zeitraum“ zwischen 614 und 911 zu versorgen. So behauptet er, etliche eigentümliche Baudetails an der Aachener Pfalzkapelle, darunter ihre Kuppel und die Bronzetüren, ließen darauf schließen, dass das berühmte karolingische Kernstück des Doms nicht etwa um 800, sondern erst um 1100 errichtet worden sei. Überhaupt hätten, so Hans-Ulrich Niemitz, die akademischen Mediävisten ihren Forschungszeitraum lügnerisch „zurechtgebogen, was das Zeug hält“ – eine kolossale „Chronistensauerei“, die auf einen Willkürakt des Kaisers Otto III. zurückgehe. Dessen Biodaten verortet die allgemein anerkannte Historiografie zwischen 980 und 1002; in Wirklichkeit, so fabeln die beiden Verschwörungstheoretiker, habe der Jüngling ums Jahr 700 gelebt, sich aber sehnlichst an die Schwelle des ersten zum zweiten Jahrtausend gewünscht, um der dann erwarteten Wiederkunft Christi beiwohnen zu können. All die Gestalten und Geschehnisse der erfundenen Zwischenzeit hätten ebenso hochrangige wie einfallsreiche Schreiber und Kanzlisten des Monarchen wie auch des Papstes Silvester II. ersonnen und zu einem dichten, wenngleich keineswegs immer einleuchtenden Geschichtennetz verwoben. Seriöse Fachleute wenden ein, Täuschungsmanöver von solcher Tragweite hätten eines Komplotts von beispielloser Ausdehnung und Verschwiegenheit bedurft. So brandete den zwei Provokateuren, wo Notiz von ihnen genommen wurde, eine Flut von Häme und Protest entgegen. Mag ja sein, dass zahllose, auch wirkmächtige Urkunden des Mittelalters ver- oder gefälscht worden sind – die haarsträubenden Volten der Herren Illig und Niemitz aber (die zuvor schon die Entstehung der ägyptischen Pyramiden aus dem dritten vorchristlichen Jahrtausend ins erste zu verlegen suchten) gelten zunftgemäßen Kolleginnen und Kollegen denn doch als „absurd“, „abenteuerlich“ und „reine Spinnerei“. Beider Gefolgschaft belächeln sie als „pseudoreligiöse Gemeinde“.
Wirklich verdienen derlei Hirngespinste grundsätzlich kein größeres Interesse, als es einer schrulligen Anekdote der Geschichtsschreibung zukommt. Aber die weist uns immerhin zurück auf die Ursprünge des Begriffs Geschichte, der sich erst während des achtzehnten Jahrhunderts gegen die zuvor gebräuchliche Historie durchsetzte. Leicht einsehbar, weil sprachlich evident bezeichnet Geschichte zunächst alles, was geschehen ist; zugleich auch das, was über Geschehnisse mitgeteilt wurde und wird, speziell durch wissenschaftliche Forschung. Auf unsere Spezies bezogen, ist Geschichte, was sich über uns in Form von Geschichten erzählen lässt, die in realen Orten, Personen und (vergangenen) Zeiten verankert sind. Von einzelnen Gestalten oder ganzen Völkern, von der Menschheit und der Welt kann Geschichte handeln, wenn, was sie erzählt, über das alltäglich Gleichgültige hinaus Bedeutung und Wirkungen hatte auf Gesellschaften und deren Denken und Handeln, auf ihr Wirtschaften und den Verkehr mit Nachbarn, Partnern und Opponenten, auf ihre kulturellen Leistungen. Geschichte fragt nach dem, was war, indem sie nach den zureichenden Gründen dafür fragt, nach dem Woher, Warum und Wozu: nach Ausgangspunkten und Vorbedingungen, Motiven und Intentionen. Indem sie den Gang der Ereignisse als Kette aus Auslösern und Konsequenzen nachvollzieht, blickt sie vom gegebenen historischen Moment aus stets auch in die von diesem Moment aus gesehene Zukunft hinein. Woraus zusammenfassend für uns Heutige erhellt, dass wir „ohne Herkunft keine Zukunft“ erwarten dürfen, wie der namhafte, 2015 gestorbene Philosoph Odo Marquard als Quintessenz formulierte; oder um den Altbundeskanzler Helmut Kohl zu zitieren: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.“
Keine Experimente
Wann aber verfielen unsere Vorfahren darauf? Wann war ihr Staunen und Wundern über die Welt und über sich selbst in ihr so groß geworden, wann verführte sie ihr urmenschliches Reflexionsvermögen soweit, dass sie fragten, was das Gestern von ihrem Heute unterscheide und was wohl morgen aus ihnen werden möge, warum manche Vorgänge und Verrichtungen unangemessen lang dauern und andere unverhofft oder unerwünscht schnell vorübergehen?
Immer stehen Erkundigungen nach dem Lauf der Zeit und der Bedeutung der Geschichte in zwingendem Bezug zur Gegenwart – selbst dann, wenn es wie bei Leopold von Ranke, dem 1886 gestorbenen Nestor der deutschen Geschichtswissenschaft und Vorkämpfer ihrer historisch-kritischen Methode, scheinbar unvoreingenommen darum gehen soll, „wie es wirklich gewesen“ ist. Die Wirklichkeit als Forschungsfeld der Geschichtswissenschaft weicht weitgehend ab von dem der Naturwissenschaft: Zwar haben es beide mit Ursache-Wirkung-Geflechten zu tun. Der Naturwissenschaftler aber belegt seine Erklärungen durch akribische Beobachtung und Messung; als wahr gelten Ergebnisse, die sich im Experiment durch Wiederholung beliebig nachprüfen und exakt vorhersagen lassen. Vergleichsweise eng sind die Spielräume, die hier der Interpretation bleiben.
Demgegenüber liegt die veröffentlichte Wahrheit der Geisteswissenschaften, auch der Historiografie weitaus tiefer in der individuellen Deutung durch den Forscher begründet; ihm bleibt die Möglichkeit des objektiven, absichernden Experiments