Wir sind wie Stunden. Michael Thumser

Wir sind wie Stunden - Michael Thumser


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stehen, von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang gezählt, und über die der einzige Zeiger gleichfalls im umgekehrten Uhrzeigersinn wandert. Läuft etwa da wie dort die Zeit rückwärts, und wir merken es nicht? Noch weiter auf die Spitze treibt derlei chronometrische Merkwürdigkeiten und Paradoxien jede ruinierte Zeigeruhr, ‚geht‘ sie doch von dem Moment an, da sie stehenblieb, noch viel genauer als jede gegenwärtige oder zukünftige Atomuhr, zumindest zwei Mal an jedem Tag: Dann zeigt sie die Zeit mit einer Exaktheit an, durch die sie das Wunderding des erwähnten Andrew Ludlow und seine trionstelsekundenkleine Abweichung um den Faktor unendlich unterbietet.

      Solches Gedankenspiel können wir wohlwollend hinnehmen, in der Art, die geistreiche Engländer sophisticated nennen; oder wir tun sie ab als abstrakten Taschenspielertrick oder überspitzte Haarspalterei, die zu gar nichts führt. Und doch ist auch, was die Uhr uns sagt, nichts Besseres als ein Gedankenspiel. Die Minute in sechzig Sekunden und die Stunde in ebenso viele Minuten einzuteilen, den Tag in 24 Stunden, das bewährt sich seit Langem fast überall auf Erden, wie auch der Brauch, die 365 Tage des Jahrs in 52 Siebentagewochen und zwölf Monate zu bündeln; aber gezwungen hat uns niemand dazu. Zeit, so zergliedert, wie wir sie verinnerlicht haben, ist Setzung, nicht Naturnotwendigkeit. Zeit ist eine Uhr ohne Zeiger und ein Kalender ohne Zahlen.

      In einer fragmentarisch aus der Antike überlieferten Komödie lässt der römische Dichter Plautus einen Vielfraß schimpfen: „Ach, dass die Götter doch den zugrunde richteten, der die gezählten Stunden erfand. [Durch all die Sonnenuhren in der Hauptstadt] hat er mir Armem den Tag in lauter Trümmer zerlegt.“ Als unentbehrliche Lebensgefährten dienen uns Uhr und Kalender, aber Freunde und Liebespartner erwachsen uns nicht recht aus ihnen. Denn sie unterminieren einen Gleichlauf des Lebens, wie er den meisten von uns gelegen kommt. Zwar gewannen wir beiden Erfindungen ein hohes Maß an Orientierung und Ordnung ab, ist doch Zeit, wie der US-Physiker John A. Wheeler lapidar definierte, das, „was verhindert, dass alles auf einmal passiert". Aber als Preis dafür verlangen sie, dass wir uns bei vielen Verrichtungen sklavisch an sie halten; und dass sie uns mit jedem Zeigersprung, jedem abgetrennten Kalenderblatt an das unweigerliche Vergehen unseres Erdendaseins gemahnen dürfen. Schon unser allererster Atemzug stellt unseren Körper auf das Gleis, das ins Altern führt und in der Zersetzung seine Endstation erreicht, und der erste Tag unseres Lebens ist der erste unseres Sterbens. Krampfhaft klammern wir uns am Leben fest, um jede Stunde zu nutzen und aus jedem Tag herauszuholen, was wir für ‚das Beste‘ halten. Jener Eile und unserem daraus erwachsenden Empfinden, ‚keine Zeit‘ zu haben, öffneten bereits fernste Vorfahren die Hintertür weit und weiter in dem Maß, wie sie lernten, die Zeit horologisch und kalendarisch zu messen. Immer weniger durfte das Dasein einfach seinen Gang gehen. Ins Leben kam, sich steigernd, Tempo. Ein Papiertaschentuch heißt so, denn etwas Triviales wie das Schnäuzen muss schnell gehen.

      Gleichwohl nahmen sich die ersten Zeitforscher, die Sterngucker der Ur- und Frühgeschichte, reichlich Zeit: Engelsgeduldig und mit imponierendem Unterscheidungsvermögen, noch dazu unbewehrten Auges, folgten sie den Wegen der Gestirne und Planeten am Firmament. Indem die Erde sich um die eigene Achse dreht und die Sonne umwandert, und indem der Mond, seine Position zur Erde verändernd, verschiedene wiederkehrende „Phasen“ zeigt, boten sich den frühen Astronomen Beobachtungen, die sie dabei lenkten, den Tag, den (Mond-) Monat, das Jahr zu definieren. Als Erste stellten wohl die Ägypter vor etwa sechstausend Jahren Kalender auf – wie es scheint, noch vor der Erfindung der Zeichenschrift –, wie überhaupt die Himmelskundler im alten Orient den Kurs der Himmelskörper immer eingehender durchschauten und sehr früh zu staunenswerten Erkenntnissen gelangten. Auf ein ägyptisches Vorläufer-Modell ging der Julianische Kalender zurück, den der Diktator Gaius Julius Caesar im Jahr vor seinem Tod, 45 vor Christus, der römischen Noch-Republik verordnete; er fügte, wie bald im ganzen lateinischen Europa üblich, alle vier Jahre einen Schalttag ein. Im Rom der Renaissance reformierte Papst Gregor XIII. 1582 die antike Zeitrechnung; der unter seinem Namen bis heute gebräuchliche Kalender mit seiner verbesserten Schaltjahres- und -tagesregelung bezieht sich wesentlich genauer auf die Dauer des Sonnenjahrs; dies und das Kalenderjahr driften erst nach 3333 Jahren um einen Tag auseinander. Die zumeist lateinische Wurzel fast aller deutscher Monatsbezeichnungen, nicht nur der bereits genannten, nahm durch den Wechsel nicht Schaden: Von den römischen Göttern Janus uns Mars rühren Januar und März her, Mai und Juni von Maia und Juno; nach den Imperatoren Gaius Iulius Caesar und Augustus heißen Juli und August. Auf dem Verb februare, lateinisch für reinigen, fußt der Februar, der damit auf den Termin gewisser altrömischer Riten verweist. Allein die Bezeichnung April fällt durch Reste von Undurchsichtigkeit aus dem etymologisch gesicherten Rahmen; manche meinen, er könne, weil er das Tor zum Frühling „öffnet“, auf dem lateinischen aperire beruhen. Dass der Gregorianische Kalender heute in fast allen Ländern auf Erden gilt, ist eine Wirkung des Kolonialismus, mit dem die europäischen Wirtschaftsnationen in der frühen Neuzeit begannen, und lässt sich unterm Siegel der Globalisierung gar nicht anders mehr denken.

      Der Kalender ist eine Frucht des menschlichen Bestrebens, über den Tag hinaus zu blicken und ihn nicht einfach als Wiederholung des vorangegangenen zu unterschätzen. Als herausragende Kulturleistung muss er gelten, weil sich erst durch ihn die Kulte der Religionen und die gemeinschaftsstiftenden Festtage in Sippe und Stamm, eine ausgereifte Landwirtschaft und eine effiziente Verwaltung managen ließen. Unter den Forschungsgebieten der mittelalterlichen Wissenschaft rangierte die Computistik bei den angesehensten, weil sie das von Jahr zu Jahr veränderliche Datum des Osterfestes, des ersten und höchsten christlichen Feiertags, bestimmte: „Wie der Magier muss der Priester genau sein, soll sein Zauber Wirkung haben“ (Bernd Roeck). Den angeblichen Zauber der Jahrhundertwenden, die Kunde von den teils hohen Erwartungen, teils schlimmen Befürchtungen des Massemenschen angesichts von Jahreszahlen mit der seltenen Doppel-Null, der noch zehnmal rareren Dreifach-Null am Ende, den hat Arndt Brendecke pünktlich noch 1999 als Mär entlarvt: Weil Hoffnung und Verunsicherung zu allen Zeiten miteinander ringen, so tun sies auch „in den 90er-Jahren eines Jahrhunderts“. Schon vor dem Jahr 1000 peinigten Endzeiterwartungen unsere Vorfahren, und das nicht weniger quälend; von der Kirche angeheizt, saß solche Furcht fest in ihrem Denken. Übrigens spricht Brendecke auch das Urteil in dem –dreihundert Jahre alten – Hin und Wider um die Frage: Wann beginnt ein Jahrhundert? Schon mit der Doppel-Null? Hob das 21. Jahrhundert, mithin das dritte Jahrtausend, im Jahr 2000 an oder doch erst am 1. Januar 2001? „Letzteres ist richtig: Ein Jahr null kennt die Ordinalzählung der Jahreszahlen nicht, so wie sich auch ein Neugeborenes von Geburt an in seinem ersten Lebensjahr befindet und dabei natürlich – streng genommen – null Jahre alt ist.“ Eine Dekade, etwa von Tagen, erkennen wir ja auch in einer Reihe vom ersten bis zum zehnten Tag und nicht vom ‚nullten‘ bis zum neunten. Wann auch immer: Vor der jüngsten Jahrtausendwende verbreiteten sich Endzeiterwartungen mittelalterlichen Ausmaßes pandemisch: Hätte der wie ein Teufel an die Wand gemalte, dann doch abgewendete millennium bug global Abermillionen Computer und elektronische Steuerungssystemen lahmgelegt, wäre die uns vertraute Welt tatsächlich bereits am 1. 1. 2000 untergegangen.

      Das Zählen – und das Vertun dabei – ist in der Fauna uns Menschen vorbehalten. Den Tag aber einigermaßen zu taxieren, das leisten entwickelte Tierarten auch. Wie unsere steinzeitlichen Ahnen orientieren sie sich zeitlich zwischen Sonnenaufgang und -untergang am Stand des Zentralgestirns, an der Menge von Licht und Wärme, der Länge der Schatten. Für sie ist aber ein Tag wie der andere. Zu Siebener-Einheiten integrierte die Tage humane Intelligenz, und humane Kreativität taufte auch sie auf Namen. Leicht einsehbar richten sich im Deutschen Sonn- und Montag nach Sonne und Mond; beim Dienstag standen, so vermuten Sprachhistoriker, der germanische Kriegsgott Tiwaz und sein Beiname Thingsaz Pate; in der Mitte der Woche, sofern wir sie nach traditioneller Zählung mit dem Sonntag beginnen lassen, steht triftig der Mittwoch. Als Namenspatron des Donnerstags firmiert Donar, der germanische Gott des Donners, als Patronin des Freitags seine Kollegin Freya. Wo der Sonnabend Samstag heißt, hält er Kontakt mit dem Sabbat der Juden. Erst recht flossen Erfindergeist, Versuche und Fehlversuche in reichem Maß zusammen, um dem Einzeltag ein – schon in der Antike bekanntes – Gerüst von zwei Mal zwölf Stunden unterzuschieben: zwölf Haltestellen, denn das etymologische Verwandtschaftsverhältnis der Stunde zu den Wörtern stehen und Stand lässt ahnen, dass es sich bei ihr ideell um eine Art angehaltenen, statischen Zeitpunkts handelt, um eine Verzögerung; jemandem etwas stunden heißt


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