Wir sind wie Stunden. Michael Thumser
diesseitigen Modellen suchte die Philosophie wiederholt, um sich Geschichte gedanklich anzueignen; nach Möglichkeiten, sie aus der Beliebigkeit des Zufalls wie aus den Zwangsläufigkeiten des Determinismus zu bergen; und allemal aus ihrer – vom überforderten Verstand kaum tolerierbaren – Anfangs- und Endlosigkeit. Als gliedernde Hilfskonstruktion errichteten die Sumerer und Babylonier, erst recht die Kulturen nach ihnen Schemata von unterschiedlichen Weltaltern und deren wechselvollem Nacheinander. Die in der Zahlenmystik aller Zeiten und Völker bedeutsame Vier trat auch hierbei in ihr Recht. Mit vier Metallen konnotierten antike Dichter und Denker die Zeitalter: Auf das „goldene“ des urzeitlichen Paradieses ließen sie, mit sinkendem Gehalt und Wert, ein „silbernes“ und ein „bronzenes“ folgen, bis sich in einem Zeitalter des Eisens – oder, um seine Schäbigkeit noch nachdrücklicher zu verdeutlichen, des Tons – das Menschengeschlecht liquidiert. Geradezu allegorisch eine nicht unähnliche Darstellung der jüdischen Bibel: Im Buch Daniel deutet die hebräische Titelgestalt dem babylonischen König Nebukadnezar einen Traum, in dem sich der Tyrann vor einem säulenartigen Menschenmonument stehend erblickt hat. „Das war schrecklich anzusehen“: Aus Gold bestand der Kopf, während Silber die Arme und Erz den Bauch und die Schenkel bildeten; die Füße aber, aus Eisen und Ton, waren so verwittert, dass ein rollender Stein sie zerbrach und die ganze Bildsäule einstürzen ließ. Deutend identifiziert der Prophet den König als „goldenes Haupt“; die auf ihn folgenden Reiche, so kündigt er an, würden immer mehr an Macht verlieren, bis ein anderes Imperium, nämlich ein von Daniels Gott Jahwe aufgerichtetes, „alle diese Königreiche zermalmen und verstören wird. Aber es selbst wird ewiglich bleiben.“
Um die Zeitenwende im römischen Reich mit dem Christentum konkurrierend, koppelten die sonnenverliebten Mithras-Mysterien die vorsokratischen Elemente Feuer und Luft, Wasser und Erde an eine Reihe von vier Perioden an, die einander durch Untergang ablösen. Ebenso von vier Großreichen sahen viele Chronisten des Mittelalters die Weltgeschichte getragen: von dem der Assyrer und dem der Perser, dann dem makedonischen Reich Alexanders des Großen und schließlich vom Imperium Romanum, das die Autoren in die Gegenwart des Heiligen Römischen Reiches weiterdachten. An der Zahl sechs hingegen, an den arbeitsreichen Schöpfungstagen und einer gleichfalls sechsstufigen Skala der Lebensalter, orientierte sich der Kirchenvater Augustinus, als er im frühen fünften Jahrhundert in seinem Hauptwerk DE CIVITATE DEI (Der Gottesstaat) ein Halbdutzend Weltalter postulierte: das Adams und das der Sintflut, das Abrahams und das Davids, das der Babylonischen Gefangenschaft des Hebräervolks, schließlich das Jesu Christi, das endend ins Jüngste Gericht mündet. Gleichfalls an den Geschehnisgang und die Prognosen der Heiligen Schrift angelehnt, wurden neben Schemata mit vier Etappen auch fünf-, gar achtstufige ersonnen.
Oder dreischrittige. Rom kann mancherlei sein, dreierlei: ein antikes Imperium; die vielbeschworene „ewige“ Stadt; eine Idee. Einfach ein Punkt auf dem Planeten war diese eigen- und einzigartige Siedlung nie, sondern sie gibt, seit 2500 Jahren schon, ein Leitmotiv, einen Schauplatz, einen Inbegriff für Geschichte und Geist, Kultur und Spiritualität. Allerdings erwies sich mit dem Niedergang des antiken Westreichs im fünften Jahrhundert, dass Rom als Wille und Vorstellung keineswegs an die italienische Halbinsel fixiert war. Schon 324 hatte der „große“ Kaiser Konstantin das östliche Byzanz zum Zentrum seiner Macht erkoren und ihm, als Konstantinopel, seinen Namen aufgedrückt: Dies „zweite Rom“ formte später, nach dem „morgenländischen“ Schisma von 1054, sein eigenes Kirchendogma endgültig aus. Erst nach über tausend Jahren, 1453, weihten die osmanischen Muslime die christliche Metropole dem Untergang und ihre gigantische Hauptkirche, die Hagia Sophia, als Moschee. Fortan beanspruchte die russische Christenheit den einzig wahren Glauben für sich und ernannte Moskau, als „drittes Rom“, zum Mittelpunkt der Orthodoxie. Als Erster ließ sich der „schreckliche“ Iwan IV. zum Cäsar krönen: zum Zaren. 1547 geschah das; da feierten im Westen, in Rom zumal, Geisteswelt, Menschenbild, Formensprachen der unvergessenen Antike machtvolle Urständ: als Renaissance. In Mussolinis Faschismus – der nach den fasces, den Rutenbündeln altrömischer Staatsbeamter, so hieß – sollte das erste weltbeherrschende Imperium neu erstehen, als viertes Rom. Es kam, zum Glück, nicht dazu. Sondern anders: Heute überwältigt Rom als moderne Weltstadt, erst recht als Simultantheater jahrtausendealter Kulturgeschichte, wie sie sich in ihrer Vielschichtig- und Gleichzeitigkeit nirgendwo atemberaubender erleben lässt. Rom, ob mit oder ohne Vatikan und Papst, lehrt uns glauben: an den genius loci, den übergeschichtlichen Ausnahmerang eines gesegneten Orts, an seinen Spezialcharakter, seinen Schutzgeist und an seine Schöpferkraft.
Im achtzehnten Jahrhundert führte Giambattista Vico, für manchen Kenner der Materie der bedeutendste, mit Descartes und Kant gleichrangige Philosoph Italiens, das Raster eines Wachstums in drei Schritten abstrakter und weitläufig aus. Zwischen 1725 und seinem Todesjahr 1744 publizierte der Neapolitaner eine Abhandlung, worin er sich nicht weniger vornahm als die Grundlegung einer „neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker“: Eine sowohl theologisch als auch kulturwissenschaftlich ausgelegte SCIENZA NUOVA schwebte ihm vor. Wachsen und Welken, „Stirb und Werde“ sah er in der von göttlicher Vorsehung verbürgten Geschichte (fast) aller Völker turnusmäßig wechseln. Interessant macht ihn in unserem Zusammenhang sein auf fast alle Zivilisationen angelegtes triadisches Modell der Zyklen; allein die jüdische und die aus ihr erwachsene christliche Kultur nimmt er davon aus, da beide unterm Schutz der Offenbarungen ständen, die ihnen der wahre, „ganz Geist seiende Gott“ und seine Schöpfung, die Natur, hätten zuteilwerden lassen. In den übrigen, so Vicos Konstrukt, hat ein Zeitalter der Heroen ein früheres der Götter abgelöst und einem späteren der Menschen präludiert. In der ersten Epoche reflexionslos-wilden, rigoros sinnlichen Heidentums verharren die Menschen schlicht und naiv, ihren Trieben gehorchend, in der Natur, die sie in all ihren Teilen animistisch als beseelt, wenn nicht göttlich, beängstigend auch als übermächtig, unberechenbar, wenn nicht feindlich erleben. Darum eignet dem Menschen ein Drang, sich gegen die Unbilden der Natur durch die Erfindung, besser: Findung eines Gottes oder von Göttern zu schützen, durch Religion.
Dass Vicos Modell von corso und ricorso, von Aufschwung und Rückschwung, zur Hälfte einen Prozess der Evolution schildert, zeigt er besonders im mittleren Zeitalter, dem der Heroen. Als jene bezeichnet er die wenigen durchsetzungsstärksten, tüchtigsten Menschen, die sich zu Anführern der vielen schwächeren aufwerfen, indem sie als deren Lenker und Leiter selbst schöpferische Fähigkeiten entfalten und sich wie allmächtig gerieren. Unter ihrer Führung bilden sich robuste Staaten, deren Gesellschaften freilich wohl oder übel in Klassen oder Kasten divergierenden Wohlstands und ungleicher sozialer Teilhabe zerfallen. Um dies Gefälle zu legitimieren, beruft sich die aristokratische Klasse der Privilegierten auf das Wollen und Wirken göttlicher und transzendenter Mächte, die aber nur Behauptungen eben dieser bevorrechtigten Schicht sind.
Im dritten Äon, der Herrschaft des Volkes, nehmen Abwägungsvermögen und Vernunft unter dem Gros der Menschen zu. Einigermaßen gleich und frei, schließlich aber hart dialektisch stehen sie an einem Scheideweg. Denn zum einen tragen alle Schichten des mondo civile, der politischen Sphäre, Moral in sich – wurzelnd in geheiligter Ehe, familiärem Zusammenhalt und ritueller Bestattung der Toten –; ferner genießen sie Rechtsstaatlichkeit und, durch Jurisdiktion und Kompromiss, vereinheitlichte Lösungswege aus Konfliktfällen heraus. Aber es lockert sich die Sittlichkeit des Einzelnen, die ihm seine Bindung an überweltliche Mächte spendete. Durch zunehmende Intellektualisierung, durch Skeptizismus, Positivismus und die Erosion verbindlicher Gemeinschaftswerte bleibt das Gemeinwohl hinter Eigennutz und unkontrollierten Leidenschaften auf der Strecke. Es kommt zum ricorso, nach der Evolution zur Dekadenz: inmitten kultureller Verfeinerung zum Verfall. Unterm Druck von Gewalt und Gewaltherrschaft, verschwenderischem Luxus und verfilzter Misswirtschaft verrotten die gesellschaftlichen Errungenschaften zur Barbarei.
Sollte niemand sich finden, der dem Unwesen und Untergang überlegen Einhalt gebietet, muss der mühsame Weg zu Licht, Mittag und Verdämmern von Neuem beginnen, sozusagen von einem Nullpunkt der Finsternis aus zum nächsten, Mal um Mal. Weil die Menschen den Aufstieg zu allseitiger Menschlichkeit mit Absicht auf sich nehmen, streitet Vico ab, es könne Zufälliges die Fahrtrichtung der Geschichte beeinflussen. Sofern Zufall etwas anderes ist als das vom französischen Dichter Théophile Gautier vermutete „Pseudonym Gottes, wenn er nicht unterschreiben will“, so widerfährt Geschichte einer Menschheit,