Wir sind wie Stunden. Michael Thumser
wir dann doch nochmals darüber nachdenken, wie der kraftlose Schlag eines Schmetterlingsflügels einen geschichtlichen Sturm herbeiführen mag. Nicht ganz grundlos machen Anhänger jener unbefangenen, dabei ernsthaften Umschrift von Historie geltend, dass alle Historiografie, indem sie Wirklichkeit niemals vollständig, immer nur in wenigen und geringen Ausschnitten erfasst, von vornherein „kontrafaktisch“ tüftelt und deutet, buchstäblich „gegen die Fakten“, nämlich gegen jene Mehrheit der einschlägigen Komponenten, auf die sie Zugriff nicht erlangt. Beim Umgang mit „ungeschriebener Geschichte“ spricht „subjektive Vorliebe immer mit“ (Alexander Demandt). Beim Schreiben von Geschichte auch. Wo sich das Kontrafaktische mit der Faktizität kreuzt, vermischen sich Geschichte und Geschichten, Erforschtes und Erzähltes besonders dicht.
Aber gibt es Geschichte, so wie es sie früher gab, überhaupt noch. Früher – das soll heißen: vor dem Fall der Berliner Mauer, dem Zerfall der Sowjetunion, vor dem Ende des alten Ost-West-Konflikts und Kalten Kriegs. DAS ENDE DER GESCHICHTE hat Francis Fukuyama ausgerufen. Einen längst für abgetan gehaltenen Glauben an die Unbezwingbarkeit des Fortschritts wiederbelebend und rekurrierend auf Hegels dialektisches Modell geschichtlicher Aufwärtsentwicklung, sah der US-amerikanische Politologe das Finale 1989 gekommen. Liberalismus und Kapitalismus westlicher, letztlich amerikanischer Provenienz hätten sich unwiderruflich durchgesetzt, argumentierte er; mit der künftig für unvermeidlich erachteten Ausbreitung der Demokratie seien „die endgültige Form menschlichen Regierens“ und das Ende aller Ideologien erreicht. Daraus wurde nichts. Auch den islamistischen Massenmord durch den Terroranschlag vom 11. September 2001 in New York schätzte Fukuyama falsch ein: Zwar werde der Westen fortan ein anderer sein, nicht aber durch Repressionen, Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit, auch nicht durch ein „noch stärker gespaltenes oder isolationistisches Amerika. Vielmehr gibt es Anzeichen dafür, dass die Tragödie das Land tatsächlich nach innen stärker und einiger machen wird und international zu konstruktiverer Beteiligung veranlassen könnte.“ Kontrafaktische Prognosen: Es kam ganz anders, zumal 2017 mit dem Amtsantritt Donald Trumps als US-Präsident. „Geschichte voraussagen“, Zukunft wissen: Das lässt sich nicht machen.
Heute sieht wohl kein nüchterner Betrachter mehr die Geschichte am Ende. Aber mit gewissen unbequemen Debatten sollten es die Träger des öffentlichen Diskurses doch endlich gut sein lassen – zumindest meinten und meinen das nicht wenige. Am 6. Juni 1985 veröffentlichte der Berliner Geschichtswissenschaftler Ernst Nolte in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZETUNG eine Bewertung des Nationalsozialismus, wobei er seine Position so formulierte, dass ihm Gegner alsbald vorwarfen, er versuche den Genozid der Deutschen an den europäischen Juden herunterzuspielen und zu relativieren. Seither streiten führende und hellste Köpfe darüber, ob sich Hitler mit Stalin, das KZ-System und der nationalsozialistische Holocaust mit der Quälerei und dem Massenmord im „Archipel Gulag“ der Sowjetunion vergleichen lassen oder ob die deutschen Verbrechen einzigartig in der Weltgeschichte dastehen. Trugen Hitler, seine Schergen und Gefolgsleute die Verantwortung allein, oder lag die Schuld beim deutschen Volk insgesamt? Und dürfen wir Deutschen je aufhören, uns schuldig zu fühlen …? Die Debatte blieb unentschieden. Dass sie überhaupt ausbrach und aufflackert, zeigt, wie dringlich sie war und ist. Auf die Gräuel der eigenen Vergangenheit muss niemand dauernd durch den Feldstecher blicken, der alles unangemessen in scheinbar unmittelbare, unentrinnbare Nähe zurückholt. Vor allem aber sollte man das Fernglas nicht verkehrt herum halten: Für so winzig und entrückt, wie die gestrigen, aber nicht verjährten Schrecken dann aussehen, dürfen wir sie beileibe nicht halten.
Was wäre, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte? Oder gar nicht erst geboren worden wäre? In einer groteskgrausigen KÜSSCHEN KÜSSCHEN-Geschichte führt Roald Dahl als Meister des kunstreich inszenierten Sarkasmus zu den allerersten Anfängen des Diktators zurück. Unter der Überschrift GENESIS UND KATASTROPHE stellt er eine im Text bis fast zum Schluss namenlose, brave Frau vor, die im Jahr 1889 vor dem Geburtshelfer ihres Vertrauens ihre Befürchtungen ausbreitet: Vier Mal kam sie im Lauf von fünf Jahren in die Hoffnung; drei Mal blieben ihr Mutterfreuden versagt, denn keins der Kinder überlebte. Nun hat sie, in einem Braunauer Gasthof, zum vierten Mal entbunden, unter Qualen, selbst dem Tode nah. Geschwächt wendet sie sich an den Mediziner, sehnsüchtig lauscht sie den trostreichen Aussichten, die er dem Neugeborenen zuspricht: Gesund sei das Kind, Frau Hitler müsse sich nicht ängstigen, er werde leben, der kleine Adolf … Die Frohbotschaft als Menetekel, Kindersegen als Menschheitsfluch: Untergründig und doch schamlos stößt der Schriftsteller kontrafaktische Fantastereien in unseren Köpfen darüber an, wie die Geschichte verlaufen wäre, wie die Welt heute aussähe, hätte einer der schrecklichsten Menschen seit Menschengedenken schon als kleiner Liebling im Säuglingsalter das Zeitliche gesegnet. Nie werden wir erfahren, wie es, ‚gesetzt den Fall‘, ‚unter Umständen‘, ‚vermutlich‘ gewesen wäre; es tritt ja nicht einmal jemand auf, der uns verbürgte, „wie es wirklich gewesen“ ist.
Offenbar lässt unselige Geschichte sich ‚bewältigen‘, weil die Zeit, auch wo sie Wunden nicht heilt, zumindest Schmerz und Elend lindert. Im Januar 2020, mit Blick auf das 75 Jahre zuvor befreite Vernichtungslager Auschwitz, sprachen sich bei einer Erhebung sechzig Prozent der Befragten dagegen aus, mit dem Gedenken an die Entsetzlichkeiten des Nationalsozialismus ein Ende zu machen. „Schlussstriche“ lassen sich nicht ziehen, nicht unter Hakenkreuz und Holocaust, auch nicht unter vierzig Jahre realsozialistische DDR: nicht unter die dauerhaften Debatten darüber; schon gar nicht unter das notwendige Erinnern.
Gern aber triumphiert unser Planet über all unsere Debatten, Zwänge und Erinnerungen, indem er uns die Gewaltigkeit der Zeiten und ihrer Dauer als Schock vergegenwärtigt. 1991 trat uns schlagartig ein Mann aus dem schwindenden Eis des Tisenjochs entgegen: ein Mann aus der Jungsteinzeit und doch ein Mann aus Haut und Knochen. So anschaulich mumifizierte der Südtiroler Dauerfrost den „Ötzi“, dass wir ihm 5300 Jahre nach seiner Ermordung wie einem unlängst Verstorbenen ins Gesicht blicken und Paläobiologen in seinen Innereien lesen, woraus er sich seine letzte Mahlzeit bereitet hat. Sogar lebendige Überbleibsel aus noch weit ferneren Vergangenheiten beschert uns die Erde, als ob sie unserem handspannenlangen Dasein spöttisch eine Nase drehen wollte. „Unser Leben“, wussten schon die biblischen Psalmisten, „währet siebzig Jahre, und wenns hoch kommt, so sinds achtzig Jahre“; in einem Wiener Labor hingegen gedeiht eine Lichtnelke der Gattung Silene linnaeana, die aus 32 000 Jahre alten Samenresten gezogen wurde und sich ohne viel Aufwand vermehren lässt: zart prangende Blüten aus der Eiszeit.
Schluss macht die Geschichte nie, mag es auch dreizehn schlagen, uns die Zeit lang werden und das Maß voll erscheinen. Anfang ist immer. Und das Ende ist da, nur lässt es noch auf sich warten.
Von vorgestern bis gestern
Das Phantom, Ruhm genannt
Zwischen Grazien und Grenadieren: König Friedrich II. von Preußen
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Viel lesen wollte er in Rheinsberg, schreiben wollte er und Flöte spielen. Für den Königssohn war die Jugend traumatisierend hart verlaufen. Dann, als Ehemann und designierter Herrscher, durfte der preußische Kronprinz Friedrich auf dem Schloss, zwanzig Kilometer nördlich des brandenburgischen Neuruppin gelegen, wirklich ein paar glücklichere Jahre verleben: ein Wartestand voller Lektüre, Musik … und durchgeistigt vom regen Briefverkehr mit François Marie Arouet alias Voltaire, dem lichtvollen Franzosen. Jenem Philosophen (der später, im „sorgenfreien“ Schloss Sanssouci bei Potsdam, langjährig Gast des royalen Freundes sein sollte) übersandte Friedrich seinen ANTIMACHIAVELL, ein Essay, das Voltaire redigierte und publizierte. Darin beschrieb der Prinz die Person des Regenten zwar als absoluten Herrscher, doch zugleich als Freund der Untertanen, als Förderer der Wissenschaft und Kunst, als Wahrer von Rechtsstaatlichkeit und Frieden. Als Friedrich selber 1740 König wurde, verfuhr er denn auch nach jenem Ideal. Ein paar Wochen lang.
Denn mit all dem wars vorbei, als in Wien Kaiser Karl VI. starb und seine Tochter Maria Theresia sich bereit machte, seinen Thron zu erben. Da kitzelte den Preußen dann doch die Streitlust, der Ehrgeiz des Eroberers. Ausersehen sah er sich, das bislang parvenühaft aufstrebende Preußen der Hohenzollern neben dem ein wenig müden, alt-blasierten Österreich der Habsburger als Spitzenkraft zu etablieren im Mächtekonzert des Heiligen Römischen Reichs.
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