Der Tango des Todes. Christian Macharski
schüttelte bestürzt den Kopf. „Das haben Sie aber nicht auf sich sitzen lassen, oder?“
„Natürlich nicht“, entrüstete sich Will. „Ich habe direkt für dem gesagt: Das stimmt doch überhaupt nicht … das mit die Erbschaft.“
Baldini war für einen kurzen Moment irritiert, nahm sich dann aber den Teller mit der dicken Brotscheibe, den Will ihm hingestellt hatte, und begann, das Graubrot mit frischer Erdbeermarmelade zu bestreichen. „Sehr lecker übrigens, die selbst gemachte Marmelade“, schmatzte er, nachdem er herzhaft hineingebissen hatte.
„Nehmen Sie, so viel Sie wollen“, bot Will großzügig an, „davon haben wir der ganze Keller vollstehen. Oh, ich glaube, da kommt meine Frau. Dann können wir das schnell abklären mit der Wiese.“
Sekunden, nachdem die Haustür geöffnet worden war, schoss ein kleiner, braun-weiß gescheckter Hund um die Ecke und bellte aus Leibeskräften. Er hielt kurz inne, als er den seltsamen bunten Mann sah, aber nur, um danach noch lauter zu bellen. Als Marlene nichtsahnend die Küche betrat, stieß sie einen spitzen Schreckensschrei aus und fasste sich mit der Hand ans Herz. Dabei bebte ihr massiger Körper, der in einen blauen Kittel gezwängt war. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, starrte sie abwechselnd den Clown und Will an und wartete offensichtlich auf eine Erklärung. Erst jetzt verstand Will Marlenes heftige Reaktion. Schließlich musste der Clown furchteinflößend auf sie wirken, wie er dasaß mit einem Messer in der Hand, von dem rote Flüssigkeit tropfte. Marlene war nämlich begeisterte Krimileserin. Und Will hatte gesehen, dass auf ihrem Nachttisch im Moment der neueste Band aus ihrer Lieblingsreihe „Gerichtsmedizinerin Maria Schneider“ lag. Auf dem Cover war ein Clown mit einem Messer abgebildet und der Titel lautete: „Der irre Killerclown mit der scharfen Klinge“. Was für ein lustiger Zufall. Will musste lachen.
„Marlene, komm mal wieder runter. Der Mann ist nicht hier, für dich umzubringen. Der braucht unsere Hilfe.“
Marlene schenkte sich auf den Schreck erst mal einen Kaffee ein, setzte sich zu den beiden Männern an den Tisch und ließ sich dann von ihnen alles erklären. Zwischendurch musste sie ihrem Mann immer wieder beschwichtigend die Hand auf den Arm legen, wenn er sich zu sehr über Willibert Dahmen aufregte. Sie überlegte eine Weile, weil es ihr im ersten Moment nicht gerade behagte, irgendwelche fremden Schausteller in ihrer Nähe zu beherbergen. „Was würden Sie denn machen, wenn Sie keinen Platz finden?“, fragte sie.
Baldini seufzte kurz, bevor er antwortete: „Ich habe hier in der Gegend ein paar Güterwaggons angemietet, wo wir in den vergangenen Monaten unsere Sachen zum Überwintern eingelagert hatten. Notfalls müsste ich das dann auch wieder machen und meine Leute entlassen oder an befreundete Unternehmen vermitteln.“
Da der Mann Marlene leid tat und ihr auch Wills Vorliebe für den Zirkus in 30 Ehejahren nicht verborgen geblieben war, stimmte sie den Plänen mit leichtem Magengrummeln zu. Baldini, der Clown, strahlte übers ganze Gesicht. Diesmal sogar in echt. Er schüttelte Marlene erleichtert die Hand.
„Vielen Dank. Sie wissen gar nicht, wie sehr Sie uns damit helfen! Ich werde sofort veranlassen, dass wir alles hierher schaffen. Wir werden Ihnen auch keine Umstände machen. Und ich kann Ihrem kleinen Hund gerne ein paar Tricks beibringen, wenn Sie wollen. Wir haben nämlich auch so einen Jack Russell im Programm – Pippolino. Der ist immer einer der Höhepunkte unserer Vorstellung.“
Will nickte erfreut. „Das wär nicht schlecht, wenn Sie der Knuffi mal was beibringen würden – am besten ‚hören‘.“ Den bösen Seitenblick von Marlene ignorierte er und begleitete Baldini nach draußen.
Als er in die Küche zurückkam, räumte Marlene gerade den Tisch ab. „Weißt du, wer wieder zurück kommt nach Saffelen?“, fragte sie aufgeregt.
„Ja klar, Fredi Jaspers.“
„Nee, den mein ich nicht. Die Frau Zielowski hat mir erzählt, dass der Juppi Schrammen morgen auf Besuch kommt.“
„Nein!“ Will war baff. „Juppi Schrammen? Das gibt es doch gar nicht!“
Juppi Schrammen genoss in Saffelen eine Art Heldenstatus. Er war der Bruder von Theo Schrammen, einem Schreiner im Vorruhestand. Im Jahr 2002 hatte Juppi mit Anfang dreißig Saffelen verlassen und war einfach auf Weltreise gegangen. Immer wieder erreichten die Daheimgebliebenen Postkarten oder E-Mails aus allen Teilen der Erde. Juppi hatte das erste Jahr in Thailand und Indien verbracht, dann in einem Kibbuz in Israel gearbeitet und anschließend bei einem Brunnenbauprojekt in Somalia geholfen. Er sollte auch mal Skilehrer in den
Rocky Mountains gewesen sein. Legenden rankten sich um seine Reisen und viele Saffelener bewunderten ihn für seinen Mut, den sicheren Heimathafen verlassen zu haben. Hinzu kam, dass Juppi auch schon als Kind und Jugendlicher ein überaus beliebter Mensch gewesen war. Und deshalb freute sich Will sehr über diese Nachricht. „Der kommt bestimmt zurück, weil letztens die Mutter gestorben ist, oder?“ fragte er.
Marlene nickte. „Ja genau. Und die hat der Theo und der Juppi das Haus vererbt, wo Theo mit seine Frau drin wohnt. Und jetzt kommt der Juppi für ein paar Tage nach hier, für der Nachlass zu regeln. Danach fährt der aber direkt wieder weiter. Ich glaube, dann geht es nach Kanada. Ach so, am Samstag gibt es übrigens beim Theo eine große Garagenparty zu Ehren von Juppi. Da sind wir auch zu eingeladen.“
Will strich sich zufrieden über den Bauch. „Schön, da freu ich mich. Ach, der Juppi ist schon ein verrückter Hund“, sinnierte er, bevor er Marlene scharf ansah. „Apropos verrückter Hund. Ich habe gerade genau gesehen, wie du der Knuffi unterm Tisch heimlich ein Leberwurstbrot mit Petersilie zugesteckt hast. Lass das endlich mal sein, sonst ist der nachher noch zu dick für durch ein brennender Reifen zu springen.“
2
Der Kleister spritzte in alle Richtungen, als Fredi Jaspers mit der triefenden Bürste über die Tapetenbahn jagte. Richard Borowka, der auf einer Trittleiter an der Wand stand und eine bereits aufgeklebte Bahn von oben nach unten und von der Mitte zu den Seiten hin vorsichtig glatt strich, regte sich nicht zum ersten Mal an diesem Tag auf. „Sag mal, Fredi geht’s noch? Jetzt hab ich schon wieder was im Auge gekriegt. Pass mal ein bisschen auf.“
Fredi winkte gut gelaunt ab. „Ja, ja, mach dir mal nicht im Hemd.“ Er legte die Bürste ab und faltete die vollgesogene Tapete vorsichtig zusammen. Dabei achtete er peinlichst genau darauf, dass die Längskanten exakt aufeinanderlagen. Auch faltete er die Endkanten nicht zusammen, sondern bildete kleine Schlaufen – wie ein Profi. Zufrieden mit seiner Arbeit legte er die vorbereitete Tapetenbahn auf einen Stuhl und breitete die nächste auf dem Tapeziertisch aus. Fredi wollte bei der Renovierung nichts dem Zufall überlassen. Wenn Sabrina, seine Freundin aus Berlin, schon zu ihm ins 650 Kilometer entfernte Saffelen zog, dann sollte auch alles perfekt sein. Wobei es sogar Sabrina gewesen war, die diesen Umzug vorangetrieben hatte. Fredi wäre auch in Berlin geblieben. Eigentlich hatte er sich schon fast an die Großstadt gewöhnt. Das Einzige, was ihn störte, war die allgegenwärtige Gewalt – jedenfalls in dem Bezirk, in dem er wohnte. Wenn es früher in seiner Stammdisko in Himmerich mal Streit gegeben hatte, dann hatte man diesen noch ehrlich und fair beigelegt, nämlich mit den Fäusten. In Berlin kam man mit dieser Politik nicht weit. Dort regierten Messer, Schlagringe und manchmal sogar Feuerwaffen. Nicht nur einmal waren er und seine Freundin in brenzlige Situationen geraten. Sabrina war sogar zweimal innerhalb eines Monats in der U-Bahn angepöbelt worden.
Als die beiden dann das letztjährige Weihnachtsfest in Saffelen bei Fredis Mutter verbracht hatten, hatte diese den beiden plötzlich eröffnet, dass sie zu ihrer ebenfalls verwitweten Schwester nach Uetterath ziehen und Fredi das Haus vermachen wolle. Und ihr größter Wunsch sei es, dass sie beide dort einziehen. Während Fredi der Gedanke zunächst überhaupt nicht behagte, in das Haus zurückzukehren, mit dem er nicht nur gute Erinnerungen verband, freundete Sabrina sich sehr schnell mit der Idee an, die schmutzige, graue Stadt gegen das ländliche und vor allem friedliche Idyll einzutauschen. Mittlerweile konnte sie es kaum mehr erwarten, nach Saffelen zu ziehen, aber Fredi hatte darauf bestanden, erst das Haus nach