Zorn und Zärtlichkeit. Peter Gerdes
einem Juden, der als fliegender Händler öfters nach Jemgum kam und Wolle, Garn, Nähnadeln und allerhand andere Kurzwaren günstig auf der Straße anbot. In letzter Zeit schien sie das sogar besonders oft zu tun, überlegte Erika. Dabei war das direkt gefährlich geworden, seit Jan de Bruin, ein fanatischer Nazi, alle Kunden des »Koffermanns« fotografierte und drohte, sie als Judenfreunde anzuprangern: »Morgen stehst du im Stürmer!« Auch ihre Großmutter hatte dieser Kerl schon bedroht. Trotzdem ging sie immer wieder zu dem Juden, als sei das ein riskantes, aber reizvolles Spiel. Oder vielleicht eine Mutprobe? Aber wem wollte ihre Oma denn etwas beweisen?
Das Wetter war genau richtig für den Gallimarkt, recht kalt, aber sonnig; der Septemberregen war klarer, herber Spätsommerwitterung gewichen. Das Haus von Erikas Großeltern lag praktisch auf der Grenze zwischen Neu-Jemgum und dem alten Ortskern, so war es zur Emsfähre nicht weit.
Doch kaum hatten sie die Oberfletmerstraße erreicht, wurden sie durch einen Menschenauflauf gestoppt. »Nun mal Platz hier, wir müssen zur Fähre, die wartet nicht«, rief Stinus laut mit heller, schon befehlsgewohnter Stimme. Niemand achtete auf ihn, auch nicht, als sich der Pimpf mit Hilfe seines Rades durch den Pulk zu drängeln begann; die Leute traten ohne sich umzublicken gerade weit genug beiseite, um ihre Mäntel in Sicherheit zu bringen. Erika und die anderen hielten eilig Anschluss. So peinlich ihnen Stinus’ Verhalten auch war, ihre Neugier überwog.
Vor ihnen auf der Straße stand ein großes schwarzes Auto, ein Personenwagen mit langer Motorhaube, hohem Kühlergrill und rundem Kofferraumbuckel. So etwas sah man in Jemgum nicht alle Tage. Das allein aber war es nicht, was die Leute so zum Gaffen brachte. Auch nicht, dass der Wagen schräg auf der Fahrbahn stand, als hätte sich die Besatzung an keinerlei Regeln zu halten. Vor dem Auto stand eine Gruppe von Männern, einige in braunen SA-Uniformen mit Hakenkreuz-Armbinden, andere in Zivil. Erika erkannte Janssen in seiner schwarzen SS-Kluft, der weit ausholend gestikulierte, den drohenden Blick ebenso unstet wie seine Haltung, den Mund von gehässigem Lachen verzerrt. Anscheinend hatte er mal wieder dienstfrei, und er war betrunken, obwohl es heller Nachmittag war. Ebenso wie der Mann neben ihm. Erika zuckte zusammen, als sie ihn erkannte. Es war ihr Vater. Seit wann war der denn aus Hamburg zurück?
Sie spürte die Hände ihrer Großmutter auf ihren Schultern, fühlte sich vorwärtsgedrängt. Aber sie kamen nicht an Stinus und seinem Rad vorbei. Der Junge besah sich die Szene mit großen Augen, als sei sie die Ouvertüre des Jahrmarktprogramms, und dachte gar nicht daran, den Weg fortzusetzen oder freizugeben.
Ob alle Männer angetrunken waren oder nur die beiden, konnte Erika nicht ausmachen. Jedenfalls wurde mit erhobenen Stimmen geredet, erregt, wütend und durcheinander. Zu verstehen war nicht viel. Die Männer bildeten einen Halbkreis vor dem großen Auto und wandten ihrem Publikum zumeist den Rücken zu. Warum? Erika stellte sich auf die Zehenspitzen. Da waren noch zwei Männer; sie standen mit dem Rücken zum Auto, so dass Erika einen Blick auf ihre Gesichter werfen konnte. Gesichter, die sie hier noch nie gesehen hatte. Gesichter, aus denen die nackte Angst sprach.
»Die haben zwei Juden am Wickel«, sagte ihre Großmutter mit unterdrückter Stimme. »Los, seht zu, dass wir weiterkommen. Stinus, mach voran!«
»Aber wieso denn?«, fragte der Junge störrisch und rührte sich nicht vom Fleck. Auch Fritz starrte wie gebannt auf das Geschehen.
Gerade war Janssens Lachen besonders laut zu hören. Der SS-Mann taumelte, fuchtelte scheinbar unkontrolliert. Im nächsten Moment zuckte seine rechte Hand vor und klatschte einem der beiden Bedrängten ins Gesicht, so hart, dass dem sein kleines Käppchen vom Hinterkopf flog. Erika hörte Stöhnen, schnell übertönt von lautem, beifälligem Gelächter. Verspätet hob der Geschlagene seine Arme vors Gesicht, Arme in langen weißen Ärmeln mit schwarzen Schonern über den Manschetten. Ein Bürohengst, dachte das Mädchen, unwillkürlich den Ausdruck benutzend, den sie von ihrem Vater kannte. Was machte der hier? Und wie sollte sich so einer gegen diese vierschrötigen Kerle wehren?
Die Männer, die den Wagen umstanden, schienen sich durch das Gelächter angefeuert zu fühlen. Weitere Ohrfeigen, Schläge, Stöße, auch Tritte prasselten auf die beiden in die Enge Getriebenen ein, die sich so gut es ging zu decken versuchten, ohne sich ernsthaft zu wehren. Dann wäre es ihnen gewiss noch schlimmer ergangen. Oma hat schon recht, dachte Erika, die Olympischen Spiele sind vorbei, niemand muss sich mehr für das Ausland verstellen, jetzt zeigt Deutschland, wie es wirklich ist.
Die Schläger johlten wie spielende Jungen. Und genau wie kleine Jungs schienen sie die Lust an ihrem Spiel schnell wieder zu verlieren. Prügeln allein führte offenbar zu nichts – etwas Neues musste her. »Raus mit den Kerlen!«, brüllte Janssen los. »He, ihr Judenbengel, jetzt schmeißen wir euch raus aus dem Dorf!« Erika lief es kalt über den Rücken, als sie hörte, wie ihr Vater grölend mit einstimmte.
»Ja, raus mit ihnen, aber richtig!«, schrie ein braun Uniformierter. Erika kannte ihn nur flüchtig. War das nicht der Holz- und Kohlenhändler? Alle nannten ihn nur Hackes, keine Ahnung, wie der richtig hieß. »Wir schicken die beiden auf Transport! Hier, mit dem Auto. Und zwar so, dass wir die ein für alle Mal los sind.«
»Mit dem Auto? Du spinnst wohl!«, rief ein Mann, der Erika unbekannt war; vermutlich der Fahrer des großen Wagens. »Die kommen mir nicht da rein. Glaubst du, ich lasse dreckige Juden auf die guten Polster?«
»Wer redet denn von deinen Polstern?« Der Uniformierte schlug auf die Kofferraumhaube, dass es dröhnte, und lachte noch dröhnender. »Die kommen natürlich hier hinten rein! Abteilung für Gepäck und Viehzeug, da gehören sie hin!«
Wieder lautes Gelächter, diesmal in der ganzen Runde. Die beiden Juden, die anscheinend schon gehofft hatten, das Schlimmste überstanden zu haben, tauschten einen schnellen Blick. Dann rannten sie los, die Köpfe gesenkt. Ein verzweifelter Fluchtversuch, der zum Scheitern verurteilt war. Im Nu waren die beiden von zahllosen Händen ergriffen und zu Boden gezerrt. Auch viele der Zuschauer beteiligten sich jetzt, hielten die beiden Männer fest, schlugen und traten sie, während Janssen und Erikas Vater ihnen Gürtel und Hosenträger abnahmen und sie damit fesselten. Die Kofferraumklappe des Wagens öffnete sich wie ein gefräßiges Maul, und die beiden Gefangenen wurden hineingestopft wie die Opfer eines blutrünstigen Molochs. Zwei der SA-Männer drückten die Klappe herunter.
»Passt nicht«, rief einer der beiden. »Das Ding geht nicht zu!« Zwar steckten die Körper der Gefesselten im Frachtraum, ihre Köpfe jedoch schauten noch durch einen Spalt heraus, am Hals eingeklemmt zwischen Klappe und Karosserie.
»Haut ihnen welche auf den Dassel!«, schrie jemand aus der Menge. »Dann passen sie schon rein, wetten?« Und eine andere Stimme grölte: »Schneidet ihnen die Rüben doch einfach ab!«
Wieder lachte der Kohlenhändler dröhnend. »Wieso denn? Sieht so doch gut aus. Kann wenigstens jeder sehen, was Juden blüht, die sich in Jemgum blicken lassen.« Er fixierte die Kofferraumklappe mit einem Stück Seil am Griff, so fest, dass die Hälse der beiden Gefangenen schmerzhaft gequetscht wurden. Einer von ihnen schrie auf; die Gaffer antworteten mit höhnischem Geheul. Der andere, dem das Blut aus der zerschlagenen Nase lief, biss die Zähne zusammen und schwieg.
Umso mehr johlten die Umstehenden. Der Fahrer setzte sich hinters Steuer, die anderen Nazis drängten sich auf Vorder- und Rücksitze, und wer keinen Platz mehr fand, stellte sich auf die äußeren Trittbretter und hielt sich an den Fensterrahmen fest. Eine Qualmwolke quoll aus dem Auspuff, als der Motor dröhnend ansprang. Langsam und auf dem unebenen Pflaster schwankend, setzte sich der Wagen in Bewegung. Jetzt schrien beide Geschundenen laut auf; ihre Hälse wurden mit jedem Schaukeln stärker und schmerzhafter zwischen den Metallkanten gescheuert und gequetscht. Einige Halbwüchsige und auch ein paar erwachsene Männer trabten hinterher, als hätten sie Sorge, auch nur einen Moment dieser schaurigen Prozession zu verpassen.
Erika schaute auf Stinus, der sich nur mit Mühe zu beherrschen schien, um sich nicht stracks in den Sattel zu schwingen und dem Auto mit den Gefolterten zu folgen. Sein Mund stand vor Begeisterung halb offen, und sein gespannter Blick verriet keine Spur von Mitleid.
Ganz anders Fritz. Überrascht bemerkte Erika, dass dessen Unterlippe bebte, dass sich der Junge sogar über die Augen wischte. Keiner außer ihr schien das gesehen