Zorn und Zärtlichkeit. Peter Gerdes

Zorn und Zärtlichkeit - Peter Gerdes


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braunen Pulver aus dem Küchenschrank holte. Kakao war Luxus, wie alles, was aus Übersee kam, und er schien immer teurer zu werden. Angeblich waren die Engländer schuld, hieß es, weil sie den Deutschen die afrikanischen Kolonien weggenommen hatten, die ihnen doch rechtlich zustanden, und damit den Platz an der Sonne. Die Strafe dafür werde das perfide Albion schon bekommen, hatte Erikas Schulleiter erst kürzlich wieder verkündet. Erst nach und nach hatte sie verstanden, dass Albion England bedeutete und Strafe wohl Krieg. Da hatten ihre Schulkameraden schon lauthals gejubelt.

      Oma gab mit einem Teelöffel Kakaopulver und Zucker in die schnell wärmer werdende Milch und wies Erika an, immer kräftig zu rühren, damit nichts anbrannte. Dann angelte sie Becher von den Haken unter dem Tellerbrett und wischte sie mit einem Tuch aus. Dabei zwinkerte sie Erika verschmitzt zu. »Zwei gleich, was?«, raunte sie. »Du gehst ja ran wie Blücher an der Katzbach!«

      »Was meinst du?« Erika braucht einen Moment, ehe sie die Anspielung verstand. Dann lief sie tiefrot an. »Also Oma, nun hör mal! Was denkst du denn von mir? Ich hatte doch keine Ahnung!«

      Erikas Großmutter lachte gutmütig. »Mach dir bloß keine Gedanken! Was glaubst du denn, wie ich früher war! Zugegeben, ganz so früh wie du habe ich nicht angefangen. Aber dafür dann richtig. Als ich siebzehn war, da habe ich mich zum Gallimarkt nämlich gleich mit drei jungen Männern verabredet.«

      Erika bekam runde Augen. »Drei? Etwa am selben Tag?«

      Ihre Oma kicherte wie ein Backfisch. »Na klar, am selben Abend, zur selben Zeit. Sie hatten mich alle drei gefragt, und ich dachte, na ja, wenn sie so gerne wollen, warum soll ich sie enttäuschen?«

      Fast hätte Erika den Zeitpunkt verpasst, als die erhitzte Kakaomilch zu schäumen begann. Im letzten Moment zog sie den Stieltopf zum kühleren Rand des Herdes, goss Milch nach und rührte energisch. »Und … und was dann?«, fragte sie atemlos. »Sind die dann alle drei gekommen? Und was haben sie denn dazu gesagt?«

      »Keine Ahnung.« Erikas Großmutter nahm ihr das Steertpanntje aus der Hand und verteilte den Inhalt auf drei Becher, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten. »Ich war pünktlich am vereinbarten Treffpunkt«, sagte sie dann, »und bin mit dem ersten der drei, der dort auftauchte, mitgegangen.«

      »Aber Oma!« Erikas Ohren waren immer noch heiß. »Wie das klingt. Was hätte Opa wohl dazu gesagt?«

      »Kindchen, der Erste, der kam, war doch dein Opa!«

      Die Küchentür flog auf. »Ah, lecker!« Stinus kam hereingepoltert, griff ohne Umstände nach einem der dampfenden Becher und trank, ohne sich an der Haut zu stören, die sich bereits auf der braunen Flüssigkeit gebildet hatte. Fritz schien besser erzogen zu sein, er wartete, bis ihm ein Becher angeboten wurde, und bedankte sich höflich. Die Milchhaut schob er mit einem Löffel beiseite. Nach dem ersten Schluck zog er anerkennend die Augenbrauen hoch. Wie erwachsen das aussah! Und so … kultiviert. Gar nicht so, wie es bei den Fleischhauers zugehen musste, wenn man Stinus Glauben schenkte.

      Stinus, bei sich zu Hause der einzige Junge, hielt sich gerne bei der Schusterfamilie auf, weil es dort an Spiel- und Raufkameraden nie mangelte. Und er aß auch öfter am großen Tisch mit, Milchsuppe mit Haferflocken oder Karmelkbreei, Arme Ritter oder, wenn es hoch kam, Speckendicken. Daheim auf dem Polderhof wartete weit edleres Essen auf ihn, zubereitet von einer Köchin, die ihr Handwerk verstand. Stinus aber hatte lieber bei karger Kost seinen Spaß, als zu Hause mit steifem Rücken Filet oder Lammbraten zu speisen, immer wieder zurechtgewiesen von seinen gestrengen Eltern, die sich, trotz ihres bescheidenen Wohlstands, ihrer eigenen Herkunft schämten. Was ihr Sohn ausbaden musste.

      Manchmal aber, wenn es die Jungs bei Fleischhauers zu toll trieben, verdunkelte sich das ohnehin meist finstere Gesicht des Hausherrn noch mehr. Dann erhob er seine imposante Gestalt vom Kopf der langen, aus selbst gehobelten Brettern gezimmerten Tafel und nahm unter dem Türrahmen Aufstellung, den Kopf geduckt, um überhaupt Platz zu finden. »Alle Mann raus!«, knurrte er dann mit tiefer Stimme; jeder tat gut daran, diesem Kommando ungesäumt Folge zu leisten. Und jeder, der sich an dem Riesen vorbei nach draußen drückte, erhielt eine krachende Kopfnuss, egal ob mehr oder minder schuldig, ob eigener Sohn oder Gast. Auch Stinus bezog stets seinen Anteil, nicht selten hochverdient. Und trotzdem kam er immer wieder.

      Obwohl Stinus gierig trank, hatte Fritz seinen Becher als Erster leer. »Vielen Dank, Frau Albers«, sagte er so wohlerzogen, dass Erikas Großmutter erstaunt blinzelte. »So was Feines bekommt man nicht alle Tage.«

      Stinus knallte nur seinen leeren Becher auf den Tisch; bei ihm zu Hause schien Kakao keiner Erwähnung wert zu sein. »Los jetzt, kommt!«, rief er. »Wir müssen endlich aufbrechen, sonst wird es dunkel, ehe wir überhaupt in Leer sind.«

      Das war zwar weit übertrieben, denn noch war es früher Nachmittag, aber inzwischen hatte das Gallimarktfieber auch Erika gepackt. Sie griff nach ihrem Mantel – und stellte überrascht fest, dass ihre Großmutter im Begriff war, Kopf und Schultern in ein großes schwarzes Umlegetuch zu hüllen. »Was ist, willst du auch noch los?«

      »Ich bringe euch natürlich bis zur Fähre«, erklärte die alte Frau bestimmt. »Was sollen denn sonst die Leute denken.« Auch lautes Stöhnen konnte sie von diesem Entschluss nicht abbringen. Reichte es nicht, dass Stinus verdonnert worden war, gleich nach der Ankunft seinen in Leerort wohnenden Onkel aufzusuchen, der sie zum Gallimarkt und anschließend zurück zur Fähre begleiten sollte? Als ob sie noch Kleinkinder wären, die ständiger Aufsicht bedurften! Dabei behaupteten die Nazis doch stolz, Deutschland so viel sicherer gemacht zu haben.

      So schoben sie ihre Räder, anstatt zu fahren, denn Erikas Oma besaß kein eigenes Rad. Auch Erika nicht; ihre Großmutter hatte für sie eins bei einem Nachbarn erbettelt, der in Ditzum auf der Werft arbeitete und täglich dorthin radelte. Weil er an diesem Samstag frei hatte, konnte er darauf verzichten, wenn auch nur zögernd; gleich mehrmals hatte er Erika und ihrer Großmutter eingeschärft, das gute Stück ja nicht zu beschädigen oder sich etwa stehlen zu lassen. Zum Glück handelte es sich um ein altes Damenrad, und der Sattel ließ sich niedrig genug einstellen, dass Erika mit den Zehenspitzen an die Pedale kam.

      Beim Ausprobieren hatte sie festgestellt, dass sie seit letztem Jahr beträchtlich gewachsen sein musste. Ein Gedanke, der sie mit einer Zufriedenheit erfüllte, die sie nicht recht zu deuten wusste. Wie sich auch ihre Vorfreude auf den Gallimarkt zwiespältig und verwirrend anfühlte. Einerseits war ihr nach Hüpfen und Juchzen zumute, andererseits wäre ihr das albern und kindisch vorgekommen. Also ging sie gesittet neben ihrem Fahrrad her. Aber ihre Wangen brannten.

      Was es wohl auf dem Jahrmarkt alles zu sehen und zu erleben gab? Klassenkameradinnen, die letztes Jahr mit ihren Eltern nach Leer gefahren waren, hatten in höchsten Tönen geschwärmt. Bodenkarussells und Schiffsschaukeln, Kettenkarussells und »Lustige Tonnen«, in denen sich einem der Boden unter den Füßen wegdrehte, sollte es dort geben, außerdem Schieß- und Losbuden, Ringewerfen, Rhönräder, Ponys und Buden mit Schmalz- und Honigkuchen und Zuckerzeug. Glänzende Augen hatten die Mädels beim Erzählen gehabt – und sie hatten auch damit geprahlt, wie viel Geld sie dort in wie kurzer Zeit ausgegeben hatten.

      Erika fand das alles teils mehr, teils weniger interessant. Was sie aber wirklich faszinierte, waren die abenteuerlichen, die exotischen, die kuriosen Attraktionen. Zauberkünstler zum Beispiel, ein Marionettentheater oder gar Liliputaner. Von Lebendem Meissner Porzellan war die Rede; was das wohl zu bedeuten hatte? Und ob man auch Tiere mit zwei Köpfen zur Schau stellte oder Damen mit Vollbärten?

      Bloß gut, dass sie genug Taschengeld gespart hatte, um sich das eine oder andere leisten zu können, dachte Erika. Von ihrer Großmutter hätte sie für den Gallimarkt bestimmt keinen Pfennig bekommen. Als echte Rheiderländerin war Oma »sühnig«, was so viel wie sparsam bedeutete. So nannte sie das jedenfalls selbst. Andere, vor allem die Leeraner von jenseits der Ems, nannten ihre Nachbarn unverblümt »grannig«, nämlich geizig. Was sicherlich ungerecht war, denn die Rheiderländer waren in der Mehrzahl schlicht arm und hatten nichts zu verschenken. Ihre Oma allerdings, das musste Erika im Stillen zugeben, konnte zuweilen schon ziemlich grannig sein. Dem Mädchen war es jedes Mal unheimlich peinlich, wenn die alte Dame in einem Geschäft das gesamte Sortiment ausgiebig musterte, nur um dann zu erklären:


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