Zorn und Zärtlichkeit. Peter Gerdes
verließ der Oberkommissar den Raum, gefolgt von einigen Kollegen des Kriminaltechnischen Dienstes. Stahnke wollte ihnen nach, zögerte aber eine Sekunde zu lange, denn auf einmal stand Gerd Plöger vor ihm, um sich zu verabschieden. Der Hauptkommissar wechselte ein paar Sätze mit ihm, das war er ihm schuldig. Danach waren Kramer und die anderen verschwunden.
Der Rachefeldzug hat schon begonnen, dachte er. Aber warte nur, Dedo, du graue Eminenz. Dies hier ist mein Territorium. Das wirst du schon noch merken.
Das Handy in Stahnkes Hosentasche kitzelte am Oberschenkel. Kramer hatte eine SMS geschickt, wie erwartet. Gespannt und verstohlen rief der Hauptkommissar den Text auf.
4.
Regen prasselte an die Fenster, der Wind pfiff um die Ecken. Typisch, dachte Erika, immer, wenn ich Geburtstag habe, geht der Sommer zu Ende und das Wetter wird schlechter. Wenn andere Kinder Geburtstag hatten, konnten sie mit ihren Freunden im Garten spielen und draußen Kuchen essen und Saft trinken. Oder sie feierten, wie Stinus, im tiefsten Winter, dann konnten sie immerhin Schlitten fahren oder auf den zugefrorenen Kanälen schöfeln, meistens jedenfalls. Mitte September aber war einfach nur Schietwetter, da ging weder das eine noch das andere.
Wenigstens war es in Omas Küche warm und gemütlich. Das Torffeuer im Stangenherd verbreitete seinen typischen Geruch, und der große Kessel mit den Einmachgläsern bullerte vor sich hin. Manchmal begann es darin zu scheppern, dann eilte Oma hin und rückte den Kessel ein wenig mehr zum Rand der Ofenplatte, damit die Gläser mit den Pflaumen, Gurken oder Bohnen keine Sprünge bekamen. »Glaub mir man, das Einkochen ist eine Wissenschaft für sich«, sagte Oma dann und zwinkerte Erika zu.
Erika zwinkerte ebenso fröhlich zurück. Sie liebte ihre Oma, und sie liebte auch die feuchtwarme Küche mit ihrem Torfgeruch, den wackligen Stühlen mit ihren ausladenden, abgegriffenen Armlehnen und den durchgesessenen, buckligen Polstern, dem groben Spülstein mit den beiden großen kupfernen Schwengelpumpen, von denen eine schon ewig kaputt war, der trüben Lampe mit dem gelben Schirm, den grobmaschigen Gardinen und den kleinen Fensterscheiben, an denen jetzt das Wasser herunterlief. Sogar der klebrige Fliegenfänger, vom Sommer noch voller winziger Leichen, schreckte sie hier nicht, sondern gehörte eben dazu. Ja, sie war gerne hier, viel lieber als zu Hause. Erika bekam einen Schreck, als ihr das klar wurde, schließlich hatte sie gelernt, dass der liebe Gott alles sah und alles wusste, und so etwas zu denken, gehörte sich bestimmt nicht. Aber es war die Wahrheit, und wenn Gott so weise war, wie der Pastor im Religionsunterricht immer sagte, dann wusste er das auch.
War es wegen ihres Vaters? Der hatte sich so verändert in letzter Zeit. Zwar war er nur noch selten zu Hause, aber wenn, dann hatte Erika regelrecht Angst vor ihm. Vor allem, wenn er am späten Abend aus der Kneipe wiederkam. Einmal war sie aus dem Bett geklettert, um ihn freudig zu begrüßen, da hatte er sie verdroschen. Nicht nur so ein paar Klapse auf den Po, das war ja normal, sondern richtig schlimm, so dass Erika vor lauter Schluchzen kaum noch Luft kriegen konnte. Dazu hatte Vater furchtbar geschimpft und gedroht, er werde ihr schon noch Benehmen beibringen, Gehorsam und Disziplin, wie sich das für ein deutsches Mädel gehörte. Mitten im Schimpfen hatte er laut gerülpst und dabei nach Schnaps und Mettwurst gerochen, und fast hätte Erika gelacht, nur hatte sie dazu nicht genügend Luft bekommen. Später wurde ihr klar, dass das wohl ihr Glück gewesen war.
Aber es lag nicht nur an Vater allein. Auch Mama war jetzt anders. Sie lachte kaum noch, schaute niemanden mehr richtig an, war ganz verschlossen und verhuscht. Meist ging sie gebückt, als ob ihr eine schwere Last die Schultern nach vorne drückte, dabei war sie doch noch ziemlich jung, und wenn man sie etwas fragte, dann zuckte sie zusammen, selbst wenn es nur um ganz harmlose Sachen ging. Dabei hatte es kaum Zweck, sie irgendwas zu fragen, denn meistens machte sie nur »Scht!« und wedelte mit den Händen wie ein lahmes Huhn mit den Flügeln. Je lauter ihr Vater wurde, desto leiser wurde ihre Mutter, fiel Erika plötzlich auf. Ob das etwas miteinander zu tun hatte?
Sie trat ans Fenster, hob die Gardine und wischte mit der Hand über die feuchte Scheibe. Draußen dämmerte es schon, und durch das unebene, verschmierte Glas war kaum etwas zu erkennen. Jedenfalls keine Bewegung. Wenn er nicht bald kam, dann wurde das heute wohl nichts mehr, denn wenn es erst richtig dunkel war, ließ seine Mutter ihn bestimmt nicht mehr auf die Straße, und bis nach Neu-Jemgum schon gar nicht.
»Na, hältst du schon wieder nach ihm Ausschau?« Auf einmal stand Oma hinter ihr. In ihren ausgetretenen Hausschuhen konnte sie sich fast lautlos bewegen. Zärtlich strich sie ihr mit ihren dicken, harten Fingern durchs Haar.
»Ach, Oma!« Erika drehte sich ärgerlich weg. »Was du immer redest! Jungs sind doch doof. Und der ganz besonders.«
Omas Grinsen verstärkte sich noch. »Aha, der besonders, was? Glaub mir, so fängt das immer an.« Ein leichter Klaps auf Erikas Rücken, dann ging sie wieder an die Arbeit.
Erika schnaufte vor Empörung. Was dachte Oma eigentlich von ihr? Sie war doch erst dreizehn – na gut, schon fast vierzehn, in einer Woche hatte sie ja Geburtstag. Aber trotzdem, mit Jungs hatte sie noch nichts im Sinn, das kam doch erst später. Klar, es gab so ein paar Frühreife, vor allem Klaasina, die dicke Sitzenbleiberin, die knutschte schon mit Jungen rum. Jedenfalls erzählten sie das. Erika fand das unmöglich. Allein der Gedanke, furchtbar.
Andererseits … Erika interessierte sich für alles, was Erwachsene sagten und taten, das war nicht zu leugnen. Natürlich wusste sie genau, was sich für Kinder gehörte, das sagten ihr die Großen ja oft genug. Aber sie empfand ihr eigenes Kindsein dabei nur als Übergangsphase, wie das Puppenstadium zwischen Larve und Falter. Eine Schmetterlingspuppe war hässlich und plump, aber ohne ihr beschränktes Dasein gab es nun einmal keine Metamorphose. Die Kindheit sah Erika genauso. Man konnte noch wenig, man durfte fast nichts, aber da musste man eben durch, um erwachsen zu werden. Das, nur das war das Ziel.
Dass solches Denken wenig kindgemäß war, wusste sie selbst; frühere Versuche, sich Mitschülern, Lehrern oder Eltern anzuvertrauen, hatten ihr das klargemacht. Altklug und naseweis hatte man sie genannt. Das war zwar etwas anderes als frühreif, aber irgendwie lief es aufs selbe hinaus: Sie war anders als die anderen. Das war immer besorgniserregend, und in letzter Zeit ganz besonders. Also hielt sie lieber den Mund. Außer hier bei Oma. Die verstand sie noch am ehesten.
Oma hatte auch gesehen, wie Stinus sie geküsst hatte. Klar, dass sie sie jetzt damit aufzog. Dabei hatte das mit Stinus doch einen ganz anderen Grund. Einen, von dem Oma nichts wusste und den sie auch nicht wissen durfte. Obwohl er sie doch mindestens ebenso viel anging wie Erika.
»Hast du deine Schularbeiten denn schon fertig?«, fragte Oma vom Herd herüber.
Erika zuckte die Achseln. »Hausaufgaben heißt das jetzt. Ja, schon lange. Wir haben ja kaum was auf. Heute in der Schule haben wir die meiste Zeit gesungen und Vorträge angehört, erst vom Rektor und dann vom Biolehrer. Aufgekriegt haben wir nur Abschreiben. Anderthalb Seiten über die Juden.« Sie verzog das Gesicht. »Rassenlehre. Ich dachte immer, das Judentum wäre eine Religion.«
Oma wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie grinste nicht mehr. »Tja, Olympia ist um«, sagte sie leise. »Jetzt geht es wieder härter zu. War ja abzusehen.« Versonnen nickte sie ein paarmal, den Blick ins Nirgendwo gerichtet. Ein paar helle Haarsträhnen, die ihrem strengen Dutt entwischt waren, umschwebten ihr Gesicht und ließen es abgehärmt und älter als sonst wirken. Ein paar Momente nur, dann lächelte Oma wieder, als wäre nichts gewesen. Man musste schon so genau hinschauen wie Erika, um zu erkennen, dass die frühere Schalkhaftigkeit fehlte, dass dieses Lächeln nur Fassade war.
Etwas knallte von außen gegen die Scheibe. Erika fuhr zusammen und stieß einen hellen Schrei aus. Oma griff nach einem der langen, schweren Kochlöffel, die neben dem Herd an der Wand hingen.
Draußen lachte es laut und hämisch. »Ha! Da habt ihr euch ganz schön erschrocken, was?« Natürlich Stinus. Nicht nur die Stimme, vor allem diese selbstzufriedene Dreistigkeit war unverkennbar, dachte Erika. Viel eindeutiger als das helle, triefnasse Oval, das da verzerrt durch die gewellte Scheibe schimmerte, eingerahmt von der Kapuze eines glänzenden Kleppermantels, der dem Knirps viel zu groß war.
»Koom man rin, du lüttje Undög«, rief Oma und