Zorn und Zärtlichkeit. Peter Gerdes
Außerdem war da ein Mensch. Er schien in dem klaren, unbewegten Wasser zu schweben, so knapp unterhalb der Oberfläche, dass seine Nasenspitze sie gerade eben nicht durchstieß. Der Mensch war ein Mann, ein alter Mann, seinem weißen Haar nach zu schließen, das seinen Kopf umschwebte wie eine Wolke. Seine Augen waren dunkel, was man sehen konnte, weil sie weit geöffnet waren und starr zur Kellerdecke blickten. Der Mann war tot, auch das kam Ulferts zu Bewusstsein, als eine in einer ganzen Reihe von Beobachtungen, die sein praxisgeschulter Verstand nahezu selbstständig traf, solange ihn das Entsetzen, das parallel dazu aufquoll, noch nicht lahmgelegt hatte. Der Mann war tot, ein toter alter Mann in einer Holzkiste voll Wasser im Keller dieses uralten Hauses. Der Tote trug Unterwäsche, weiße Trikotunterwäsche, wie auch Ulferts sie trug, sonst nichts. Seine Hände waren nicht zu sehen, und seine bloßen Füße …
»Kabelbinder.« Das war Justins Stimme. Mein Gott, der Junge, dachte Ulferts, der arme Junge, der guckt das jetzt alles mit an. Den Gedanken an seine Fürsorgepflicht als Ausbilder begrüßte er dankbar. Ein rettender Gedanke schien das zu sein, einer, an den er sich klammern konnte, der ihm Anlass gab, seinen Blick von diesem Grauen abzuwenden, ehe er in Panik verfiel. Ulferts schaute zu Justin.
Aber als er bemerkte, wie die Augen seines Praktikanten glitzerten, als er sah, dass sich Justins Mund mit der hängenden Unterlippe zu einem Grinsen verzerrt hatte, packte ihn die Panik erst recht.
2.
Jetzt grinst er schon wieder so blöd, dachte Erika und bückte sich tiefer über ihre Ackerfurche. Doof, dass sie überhaupt hingeguckt hatte, als sie das Schutzblech klappern hörte, und auch noch so ungeschickt, dass ihm der Blick nicht entgehen konnte! Jetzt plierte sie zwischen ihren gespreizten Beinen hindurch, gedeckt durch die schwingenden Falten ihres weiten Rocks. Wie angeberisch er daherkam auf seinem schwarzen Fahrrad! Dabei war das natürlich gar nicht seins, sondern das seiner Mutter, und er konnte auch nur deshalb damit fahren, weil es ein Damenrad war, im Stehen, denn den breiten, blanken Ledersattel mit den großen Spiralfedern darunter konnte er gar nicht so tief einstellen, dass er mit dem Popo draufgekommen wäre. Stinus war ziemlich klein für seine dreizehn, fast schon vierzehn Jahre. Ihn aber focht das nicht an, er stampfte stehend in die Pedale, die Hände am Lenker knapp unter Nasenhöhe, Schulter zurück, Wirbelsäule kerzengerade am Sattelhorn. Stolz, immer so stolz. Und natürlich in Uniform.
»Wat kickst du denn alltied na de dösige Fent daar hen? Sall ik hum torüggropen?«
Omas kratzige Stimme rief Erika zur Ordnung. Stinus zurückrufen, von wegen! Schnell machte sie sich wieder daran, das Unkraut zwischen den noch zarten Kartoffelpflänzchen auszurupfen. »Nee, nee, bloß nicht«, rief sie, ohne den Kopf zu heben, damit ihre Oma nicht sah, wie rot sie geworden war. Erika hörte sie lachen. Nein, Oma war ihr nicht böse. Sie wusste, wie schwer es ihr fiel, in der Nachmittagshitze hier auf dem Acker zu stehen und ihr bei der Arbeit zu helfen. Aber es nützte ja nichts, hatte Mama gesagt, Oma schaffte es nun einmal nicht mehr alleine, und Opa war ja weg. Mama hatte zu Hause selbst genug zu tun, Vater war in Hamburg, in der Kaserne, und sonst war ja keiner da, der Oma zur Hand gehen konnte. Also musste Erika ran, und wenn ihr noch so langweilig war und der Rücken vom ewigen Bücken lahm wurde. Außerdem half sie Oma ja gerne, im Prinzip. Oma war immer lieb zu ihr.
Warum war Opa eigentlich weg? Sie mochte die Frage nicht mehr stellen. Oma hatte geweint, als sie das zuletzt getan hatte, Mama hatte nur leise »schscht!« gemacht und sie nach oben geschickt, und Vater hatte gedroht, ihr den Hintern voll zu hauen, wenn sie nicht Ruhe gäbe. Nichts davon wollte sie noch einmal erleben, also fragte sie nicht mehr. Aber der Gedanke ging ihr trotzdem nicht aus dem Kopf. Opa war ein großer, starker Mann mit riesigen Händen und einem ganz breiten Schnurrbart, das wusste sie noch genau, obwohl es drei Jahre her war, dass sie ihn zuletzt gesehen hatte, und damals war sie erst zehn gewesen. In der Ziegelei hatte er gearbeitet, da hinten am Jemgumer Hafen, und war dort irgendwas Besonderes gewesen. Nicht Chef, nein, das nicht. In Erikas Familie waren alle Arbeiter oder Hausfrauen, außer Oma, die aus einer Bauernfamilie stammte und immer Bäuerin geblieben war, obwohl sie das Stück Land, auf dem sie heute Kartoffeln und anderes anbaute, lächerlich klein fand. »Blot een Taskendook vull Eer«, sagte sie immer und lachte. »Kiek di daartegen blots maal an, wat de Polderfürsten hebben!«
Ihre Oma sprach fast immer Platt, und Erika verstand jedes Wort, auch wenn sie selbst fast immer Hochdeutsch sprach. Ihre Mutter hatte ihr das Plattsprechen verboten, tat es auch selber kaum noch, weil Erikas Vater es nicht konnte. Er war nicht von hier, stammte aus Hannover und fühlte sich in Ostfriesland immer noch fremd. Vielleicht deswegen.
In der Schule hieß es immer, die Zeit der Fürsten und Grafen sei vorbei. Und die der roten Bonzen auch. Warum wohl gab es diese Polderfürsten immer noch? Erika überlegte, wen sie das wohl fragen konnte, ohne Schläge angedroht zu bekommen. Ist aber auch nicht so wichtig, dachte sie. Wenn Oma und sie mit einem Taschentuch voll Erde schon so viel Mühe hatten, wie viel Arbeit hatte dann wohl erst so ein Polderfürst mit seinen riesigen eingedeichten Marschbodenflächen?
Obwohl, die Arbeit verrichteten ja andere für ihn. Stinus’ Vater arbeitete bei solch einem Polderfürsten. War Verwalter oder Aufseher, irgendwas Besseres jedenfalls. Ihn konnte sie fragen. Aber das kam natürlich überhaupt nicht in Betracht. Der würde sich doch sonst was einbilden, wenn sie das tat!
»Kumm her, mien Tüt.« Oma stand plötzlich dicht vor Erika und strich ihr, als sie sich aufrichtete, zärtlich über den dichten braunen Haarschopf. In der Hand hielt sie die gläserne Flasche ohne Etikett, die in der Sonne verheißungsvoll rot funkelte. Johannisbeersaft war da drin, von Oma selbst gekocht, stark mit Wasser verdünnt, aber immer noch süß genug. Erika kannte nichts Besseres.
»Drink man even ’n Kluckje«, sagte Oma, und Erika trank dankbar. In der Flasche war mal Schnaps gewesen, das wusste sie, auch wenn man es nicht mehr schmeckte und das Etikett sorgfältig abgeweicht worden war. Für ihren Vater stand zu Hause auch immer so eine bereit. Diese hier stammte bestimmt von Opa.
Wo war Opa nur? Bloß nicht fragen, dachte das Mädchen, obwohl Oma doch direkt vor ihr stand und niemand sonst in der Nähe war. Nicht fragen, sonst weint sie wieder. Stattdessen nahm sie noch einen Schluck von dem süßen, fruchtigen Saft und reichte die Flasche mit einem Lächeln zurück.
»So, nu geiht dat weer, wat?« Noch einmal strich Omas hornige Hand über ihren Scheitel, diese harte Hand, deren Finger ganz krumm waren und innen dunkel von der Erde, die gar nicht mehr ganz aus all den Rissen und Falten herausging. Dann stapfte die alte Frau zurück zu ihrer Ackerfurche und machte sich wieder an die Arbeit. Erikas Blick ruhte noch ein paar Sekunden auf ihren grau bestrumpften Beinen, die der beim tiefen Bücken hochrutschende Rocksaum ein Stückchen weit freigab, auf den kantigen Knöcheln, den dünnen Fesseln und den knotigen Waden. Ihre Füße in den alten Holzpantinen waren weit gespreizt, um den Rücken etwas zu entlasten. In kleinen Schritten arbeitete sie sich voran, während sie das Unkraut so schnell und zielsicher rupfte, dass es klang, als fräße dort eine hungrige Kuh. Über diesen Vergleich musste Erika grinsen, aber ihr schmales Gesicht wurde gleich wieder ernst. Warum musste Oma eigentlich immer noch so hart arbeiten? War sie nicht eigentlich schon zu alt dafür?
Und wo war Opa? Irgendwann hatte sie doch mal etwas aufgeschnappt, konnte sich aber nicht mehr erinnern. Was war das nur gewesen?
Manchmal schien es ihr, als könnte sie nur Fragen stellen, für die es Ohrfeigen gab oder Tränen oder beides. In der Schule war das genauso. Dabei hatten ihr die ersten Schuljahre doch so viel Spaß gemacht. Bei der Einschulung hatte sie schon lesen können, Mama und Opa hatten ihr viel vorgelesen, da war ihr das so zugeflogen. Schnell war sie der Liebling ihrer Klassenlehrerin gewesen. Dass es dafür in den Pausen manchmal Hauereien gab, aus Neid, hatte sie nicht weiter gestört, denn austeilen konnte sie auch ganz gut, obwohl sie so schmal und zierlich war. Aber dann hatte sich plötzlich alles so verändert. Vor allem die Lehrer. Die redeten auf einmal ganz anders, und was vorher richtig gewesen war, hatte nun Anschnauzer, Ohrfeigen und schlechte Noten zur Folge. Ihre alte Klassenlehrerin änderte sich nicht, aber sie verließ die Schule. Sie müsse sich jetzt ganz ihren Pflichten als deutsche Hausfrau und Mutter widmen, hatte der Rektor verkündet. Und verboten, dass die Klasse ihr zum Abschied ein Lied sang. Die Gedanken sind frei hatte Erika vorgeschlagen, weil Opa