Zorn und Zärtlichkeit. Peter Gerdes

Zorn und Zärtlichkeit - Peter Gerdes


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der breit und schwer gebaute, väterlich wirkende Polizeidirektor. »Aber du, mein lieber Gerd, konntest ja wieder mal nicht abwarten.«

      Stahnke fand den Spruch des Inspektionsleiters reichlich unsensibel, immerhin ließ sich Gerd Plöger ja beileibe nicht deshalb vorzeitig pensionieren, weil er gewollt hätte, sondern weil es nicht anders ging. Der scheidende Leiter des Zentralen Kriminaldienstes war krank, schwer krank. Man sah es ihm nicht an; Plöger sah aus wie das blühende Leben, war schlank, meist tief gebräunt und immer gut gelaunt. Aber seine Lunge funktionierte einfach nicht mehr richtig, schon seit Jahren, und so hatten seine Kräfte immer mehr nachgelassen. Erst konnte er keine Treppen mehr steigen, dann nicht einmal drei Zimmer weit über den Flur gehen, ohne sich zwischendurch abzustützen und zu verschnaufen. Zuletzt waren seine krankheitsbedingten Fehlzeiten so lang geworden, dass er beruflich kaum noch in Erscheinung trat. Der Abschied war die unvermeidliche Konsequenz.

      Er war mein direkter Vorgesetzter, rief sich der Hauptkommissar in Erinnerung. Praktisch hatte er gar keinen gehabt, jedenfalls keinen wahrnehmbaren, einmal abgesehen von Manninga, der gelegentlich selbst in die Bresche gesprungen war, wenn Stahnke als Leiter des Fachkommissariats I wieder einmal zu selbstherrlich agiert hatte. Stahnke selbst hatte sein Kollege und engster Mitarbeiter Kramer als Korrektiv stets vollkommen ausgereicht. Aber Kramer, sosehr er ihn auch schätzte, war eben sein Untergebener, zwar eine wichtige Instanz, aber nicht weisungsbefugt. So war Stahnke all die Jahre sein eigener Herr gewesen.

      Damit war es jetzt vorbei. Jetzt hatte er wieder einen direkten Vorgesetzten, einen aktiven, dienstfähigen. Dort stand er, klein und hager, das Saftglas zwischen den nikotingelben Fingern, einen misstrauischen Ausdruck auf seinem grauen Gesicht. Unruhig zuckte sein Blick durch den Raum und zwischen seinen künftigen Kollegen hin und her, von denen sich ihm noch keiner genähert hatte – außer Manninga, der ihm gerade betont herzlich die Hand entgegenstreckte. Anscheinend hatte er Gerd Plögers Verabschiedung inzwischen beendet und war zur Begrüßung seines Nachfolgers übergegangen, ohne dass Stahnke seit der Einleitung auch nur ein Wort mitbekommen hätte.

      Dedo de Beers rechte Hand zuckte vor, ehe sich ihr Besitzer an das Saftglas darin erinnerte; gelber Saft schwappte über den Rand und suppte über gelbe Finger. Schnell wechselte der frisch ernannte Kriminalrat das Glas in die Linke, streckte die Rechte aus, bemerkte gerade noch rechtzeitig, wie nass und klebrig sie war, und wollte rasch nach seinem Taschentuch angeln, was aber nicht ging, da Klebesaft und Glas nun seine beiden Hände blockierten. Hilflos und bedeppert stand de Beer da, während die tief eingekerbten Falten zwischen Nasenflügeln und Mundwinkel, die seine ungewöhnlich hohe Oberlippe vom Rest des Gesichts abteilten, immer noch tiefer wurden und seine künftigen Untergebenen sich das Lachen nur mühsam verkneifen konnten.

      Der alte Manninga war es schließlich, der die Situation entschärfte, indem er de Beer sein eigenes, noch sauber gefaltetes Taschentuch reichte und ihn mit derselben unauffälligen Handbewegung von seinem Glas befreite, während er gleichzeitig seine Begrüßungsansprache mit ein paar seichten, aber verbindlich klingenden Floskeln zum Abschluss brachte. Endlich konnte er doch noch seinen gefürchteten Händedruck anbringen. Stahnke sah deutlich, wie de Beers schmale Rechte in Manningas Pranke verschwand, die grauen Gesichtszüge des Kriminalrats schmerzhaft zuckten und er seine farblosen Augen zwischen zusammengekniffenen Lidern in Deckung brachte. Während der Inspektionsleiter seinen Arm bearbeitete, als wäre er der Schwengel einer Regenwasserpumpe, zuckte de Beers Blick zu Stahnke hinüber. Der schrak zurück wie vor einer Geschossgarbe; blanker Hass flammte ihm da entgegen. Für seinen missglückten Start in neuer Position schien der neue Kriminaldienstleiter ihn ganz allein verantwortlich zu machen.

      Der Moment war kurz, und er ging vorbei. Schon war de Beer von seinen neuen Mitarbeitern umringt und in kollegiale Gespräche verwickelt. Nur Stahnke stand da wie festgewachsen. Die schlimmen Befürchtungen, mit denen er diesem Tag, dieser Stunde entgegengesehen hatte, waren klar übertroffen worden.

      Der Hauptkommissar sah sich unauffällig nach Kramer um, entdeckte ihn inmitten der Traube, die sich um de Beer geballt hatte. »Judas«, knurrte Stahnke leise.

      Eine breite Silhouette schob sich in sein Gesichtsfeld und füllte es aus. »Na, amüsieren wir uns denn auch?«, fragte Manninga und schaute Stahnke forschend an, die Stirn in wulstige Dackelfalten gelegt.

      Der Hauptkommissar hob anerkennend die Augenbrauen und deutete eine Verbeugung an. »Pluralis majestatis, schau an, schau an. Da ist mir wohl eine kürzliche Beförderung Eurer Person entgangen, Hoheit. Aber wenn Eure Hoheit selbst nicht wissen, ob Hoheit sich amüsieren, wer dann?« Sein Verhältnis zu seinem Inspektionsleiter hatte sich in den letzten Jahren mehr und mehr entspannt, sicherlich auch angesichts der Annahme, Manninga werde in absehbarer Zeit ohnehin in den Vorruhestand gehen. Inzwischen aber wurde gemunkelt, Manningas Jüngster hätte erneut ein Studium abgebrochen und benötige noch auf Jahre hinaus finanzielle Unterstützung, weshalb sich der Kriminaldirektor das Pensionärsdasein noch gar nicht leisten könne. Infolge dessen war das vertraute Du, das längst fällig gewesen wäre, noch nicht erklärt worden, während das Sie, das einfach nicht mehr angemessen erschien, nach Kräften vermieden wurde. Ein merkwürdiger Eiertanz, den beide widerwillig tanzten, weil keiner ihn beenden mochte.

      »So eine Beförderung hätten bestimmte Leute hier auch haben können«, erwiderte Manninga ungerührt. »Schon vergessen? Der neue Vizekönig und Herrscher des Zentralen Kriminaldienstes hätte nicht unbedingt de Beer heißen müssen. Aber gewisse Anwesende mussten ja unbedingt den Steert einkneifen.« Er drosch Stahnke kameradschaftlich auf den Rücken, dass es dröhnte und schmälere Gestalten als der massige Hauptkommissar unter der Wucht dieses Hiebes eingeknickt wären. Dann überließ er ihn seinen grüblerischen Gedanken.

      Er hat ja recht, dachte Stahnke, der das Brennen oberhalb seines rechten Schulterblatts viel leichter ignorieren konnte als den nagenden Schmerz in seinem Inneren. Das Angebot war ja dagewesen. Lag praktisch vor mir auf dem Tisch, dachte er. Hätte nur zugreifen müssen. Habe ich aber nicht gemacht. Und jetzt habe ich den Salat.

      Inzwischen war ihm auch klar geworden, warum er die verlockende Offerte zurückgewiesen hatte. Aus Angst vor zu viel Verantwortung nämlich. Und weil er sich an den Zustand der zumeist abwesenden übergeordneten Hierarchie-Ebene gewöhnt hatte. War ja auch unglaublich bequem gewesen, meist tun und lassen zu können, was ihm beliebte, und sich nur ausnahmsweise rechtfertigen zu müssen, solange die Resultate nur stimmten. Was bei Stahnke zumeist der Fall war – nicht zuletzt dank eines Oberkommissars Kramer, der korrekt, gründlich und selbstlos die gelegentlichen Schnitzer seines Vorgesetzten auszubügeln pflegte.

      Ja, das war es wohl: dass er ein bequemes Machtvakuum einfach als gegeben und dauerhaft hingenommen hatte. Ein Vakuum jedoch übte stets einen großen Sog aus, neigte einfach dazu, gefüllt zu werden. Und ein Machtvakuum lockte unweigerlich diejenigen an, die auf Macht geil waren. Wie zum Beispiel einen Dedo de Beer. Ihn draußen zu halten, wäre einfach gewesen; Stahnke hätte das Vakuum nur selbst zu füllen brauchen. Das aber hatte er unterlassen, und jetzt war es zu spät.

      Wieder peilte de Beer zu Stahnke herüber, das Gesicht grau wie eine Bunkerwand, die Augen schmal wie Schießscharten. Sie beide verband eine jahrelange, gut gepflegte Feindschaft. Als de Beer noch FK-Leiter in Wittmund gewesen war und die Insel Langeoog zu seinem Beritt gehört hatte, war Stahnke ihm mehr als einmal in die Quere gekommen. Die Konflikte, die sich daraus ergeben hatten, waren nicht mehr als lästig gewesen, hatten dem Leeraner zuweilen sogar Spaß gemacht – solange sie beide dienstgradmäßig gleichgestellt waren und ihre getrennten Rückzugsbereiche hatten. Damit aber war es jetzt vorbei.

      Rache, dachte Stahnke, ist etwas für kleine Geister. Und damit genau passend für Dedo de Beer. Besser, ich richte mich gleich darauf ein.

      Kramer stand immer noch in der Gruppe rund um den neuen Kriminalrat, aber etwas hatte sich verändert. Die hagere Gestalt des Oberkommissars hatte alle Lockerheit verloren, war plötzlich gerade und gespannt wie eine Bogensehne. Jetzt machte Kramer eine Vierteldrehung, und Stahnke konnte sehen, dass er sein Handy am linken Ohr hatte. Bestimmt etwas Dienstliches, und keine Routine.

      Kramer beendete das Gespräch, und Stahnke wollte sich schon in Bewegung setzen, als er sah, dass de Beer seinen Kollegen am Arm griff und ihn ansprach. Knapp, präzise und unhörbar forschte


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