Zorn und Zärtlichkeit. Peter Gerdes

Zorn und Zärtlichkeit - Peter Gerdes


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kein Gesinde wie gewisse Leute, das wir mal eben saubermachen schicken können.«

      Eine Minute später huschte Stinus in die Küche, trotz des Wetters in kurzen, speckigen Lederhosen, Uniformhemd und feuchten Wollstrümpfen, eine Zusammenstellung, die Erika höchst lächerlich fand, was sie aber nicht zeigen mochte. Oma deutete ihr bewegtes Mienenspiel falsch. »Geht ruhig in die Vorderküche«, sagte sie mit verschwörerischem Augenbrauenzucken. »Da ist es auch warm. Ich kann hier jetzt nicht weg, die Einweckgläser sind gleich so weit.«

      Die Vorderküche war eigentlich keine Küche, sondern das Wohn- und Esszimmer für den alltäglichen Gebrauch. Gegenüber lag die gute Stube, die nur zu besonderen Anlässen genutzt wurde. Dort war Erika erst zwei- oder dreimal drin gewesen und hatte die mächtigen geschnitzten Schränke bewundert, die Truhenbank mit den Löwenköpfen, die Bilder an den Wänden, den langen Tisch mit den hochlehnigen, ebenfalls mit Schnitzereien verzierten Stühlen und den großen Ofen, dessen weiß-blaue Kacheln ein Segelschiff in Seenot zeigten. Mit diesem Prachtzimmer konnte die Vorderküche natürlich nicht mithalten, aber auch hier gab es Möbel mit geschnitzten Reliefs und eine weiche, tiefrote Samtdecke auf dem ovalen Tisch. Ein kleiner Kanonenofen sorgte für wohlige Wärme. Das war das Wichtigste, fand Erika; drüben in der guten Stube war es jetzt bestimmt lausig kalt, und die Luft roch muffig und feucht.

      »Und?«, bestürmte sie Stinus, kaum dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Hast du gefragt? Hast du etwas erreicht?«

      Stinus antwortete nicht. Er schaute sie nicht einmal an. Stattdessen blickte er sich ausgiebig in der Wohnstube um, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt. »Mensch«, sagte er, »das hätte ich nicht gedacht. So toll verzierte Möbel haben wir ja nicht einmal! Und das Schiff da ist erste Klasse.« Er wies auf das maßstabsgetreue Modell eines eleganten, glattdeckigen Zweimastseglers, das unter einem Glassturz auf einer hohen Kommode stand, die mit ihren säulenartig geschnitzten Eckpfosten wie ein Altar aussah. »Wie kommen deine Großeltern denn an so was? Ich dachte, dein Opa war bloß Arbeiter.«

      »Opa ist Arbeiter«, fauchte Erika. Die naive Geringschätzung, die aus Stinus’ Worten klang, tat ihr weh. »Und zwar Vorarbeiter in der Ziegelei! Da kommt er gleich nach dem Chef, weil er sich nämlich so gut auskennt mit allem. Sein Chef hat mal gesagt, ohne meinen Opa könnte er überhaupt nicht auskommen.« Sie verstummte abrupt, als ihr bewusst wurde, was sie da gerade gesagt hatte. Sie konnte die zwangsläufige Antwort schon hören: »Anscheinend ja doch!«

      Aber der kleine Pimpf erwiderte nichts dergleichen, blickte sich nur weiter um, breitbeinig, die Daumen in den Hosenbund gehakt. »Verdient ein Vorarbeiter denn so viel?«, fragte er.

      »Opa schnitzt selber«, erklärte Erika. »Er kauft sich Möbel ohne Verzierungen, da schnitzt er dann Bilder hinein, nach Geschichten aus der Bibel meistens. Manchmal tauscht er auch Teile aus, wenn er für die Schnitzereien dickeres Holz braucht. Und dann verkauft er die meisten Sachen wieder, natürlich für mehr Geld, als sie gekostet haben. Auch von den Modellen hat er schon welche verkauft. So verdient er sich Geld dazu.« Einnahmen, die ihrer Oma jetzt ebenso fehlten wie Opas Lohn aus der Ziegelei, dachte das Mädchen. Und so war, seitdem Opa weg war, auch manches Stück der Einrichtung verschwunden.

      Stinus nickte anerkennend. Mehr Geld für etwas zu bekommen, als man dafür bezahlt hatte, schien ein Prinzip zu sein, das ihm gefiel.

      Erika aber verließ endgültig die Geduld mit Stinus und seinem breitspurigen Auftreten. »Was ist jetzt?«, zischte sie. »Weißt du was, oder gibst du hier bloß an wie eine Tüte Mücken?«

      Endlich wandte er sich ihr zu. Sofort erkannte sie das triumphierende Grinsen, das seine Mundwinkel umspielte. Trotzdem zuckten seine Augäpfel nach rechts und links, ehe er antwortete: »Erst musst du mir versprechen, dass du den Mund hältst, klar? Keiner darf irgendwas davon erfahren.«

      »Ja, aber … aber Oma!« Erika rang die Hände. »Es ist doch vor allem wegen ihr!« Dann kam ihr ein furchtbarer Gedanke. »Opa ist doch nicht … ich meine, ist er am Leben?«

      Stinus starrte ihr in die Augen. Das freche Grinsen war wie weggewischt, und Erika fürchtete schon das Schlimmste, als der Junge nickte, langsam und kaum merklich. »Ja, er lebt«, flüsterte er. »Das kannst du deiner Oma auch sagen, aber verrate ihr auf keinen Fall, woher du das weißt! Sag einfach, ein Scherenschleifer hätte es dir erzählt, verstanden? Es ist gerade einer im Rheiderland unterwegs, in Jemgum ist er schon durch und will weiter nach Leer. Sag, der hätte den Namen am Haus gelesen und dich darauf angesprochen, während deine Oma auf dem Acker war. Merk dir das, hörst du?«

      Ihr Opa am Leben! Erikas Herz schlug so stark, dass ihr ganzer Körper davon zu zittern schien. Was würde ihre Großmutter sich freuen! Obwohl – vor allem würde Oma sie mit Fragen überschütten, wenn sie ihr das erzählte. Und sie, Erika, durfte nichts verraten! Sie musste lügen. Und es war mehr als ungewiss, ob Oma das Märchen vom Scherenschleifer schlucken würde.

      »Wo ist mein Opa eigentlich?«, fragte sie. »Und warum kommt er nicht endlich nach Hause? Andere Männer waren doch auch ein oder zwei Jahre weg, und viele von denen sind inzwischen wieder zu Hause.«

      »Dein Opa ist in Börgermoor«, sagte Stinus wichtig, aber leise. »In einem Moorlager bei Esterwegen. Da sind lauter Männer, die sich etwas gegen die Partei haben zuschulden kommen lassen. Kommunisten, Sozis, Gewerkschafter, Zeitungsfritzen, auch ein paar bescheuerte Christen, so Leute eben. Die werden dort umerzogen. Sollen mal lernen, wie es ist, richtig zu arbeiten, sagt Janssen.« Erschrocken schlug er sich die Hand vor den Mund. Offenbar hatte er den Namen seines Informanten für sich behalten wollen.

      »Richtig arbeiten zu lernen? Mein Opa?« Erika musste sich sehr zusammenreißen, um nicht laut zu werden. »Der weiß, wie man arbeitet, das kannst du mir glauben! Bestimmt besser als du und deine ganze … Bande von Polderfürstenknechten!« Im Flüsterton hervorgestoßen, kam ihr dieses Schimpfwort noch verletzender vor. Bestimmt würde Stinus jetzt empört aus dem Haus stürmen. Aber so etwas konnte Erika einfach nicht auf ihrem Opa sitzen lassen.

      Der kleine Pimpf aber zuckte nur die Achseln. Entweder gab er nicht viel auf das Ansehen seiner Familie, oder er war selber Erikas Ansicht. »Das ist nun mal das, was so gesagt wird«, erwiderte er. »Alle sagen das. Aber natürlich weiß jeder, worum es wirklich geht. Der Führer hatte alle seine Feinde doch gewarnt. Sogar schriftlich! Jeder wusste, was passieren würde. Jeder konnte Mein Kampf lesen, und viele haben das auch getan. Bloß geglaubt haben sie es nicht. Tja, ihr Pech! Jetzt passiert es eben. Wer nicht hören will, muss fühlen.«

      »Fühlen? Wieso fühlen?« Erika schwante nichts Gutes.

      Wieder dieses Achselzucken von Stinus. »Im Moorlager geht es ziemlich rau zu, hat Janssen erzählt. Morgens raus zum Torfstechen, mit Holzspaten und Holzschuhen, kilometerweit marschieren, dann den ganzen Tag nasse, schwere Soden stechen und verladen, und abends zurück. Dann sind die Leute natürlich kaputt, die meisten kommen ja aus der Stadt und sind so was nicht gewohnt, anders als dein Opa.« Vorsichtshalber erhob der Junge beschwichtigend die Hand. »Aber Ruhe bekommen die Häftlinge auch am Abend nicht. Sie müssen immer wieder antreten, stundenlang beim Appell strammstehen, auch im strömenden Regen, und immer mal wieder müssen welche durch die Prügelgasse. Janssen sagt, die Wachen wollen nichts riskieren, schließlich sind die Häftlinge weit in der Überzahl, und man müsste sie immer schön am Boden halten, damit sie gar nicht erst hochkommen. Hat er so gesagt.«

      Janssen hießen viele in Ostfriesland, aber Erika glaubte den Janssen zu kennen, den Stinus meinte. Ein grober, versoffener Kerl mit brutalem Kiefer und gierigem Blick, der zur Arbeit nicht recht taugte und deshalb schon früh zur SA gegangen war, weil man dort gut zu essen bekam, wenn man Leute verprügelte. Inzwischen trug er, wenn er sich mal wieder in Jemgum blicken ließ, keine braune Uniform mehr, sondern eine schwarze. Auch seine Mütze war schwarz, und das Abzeichen daran war ein Totenkopf. Erika schauderte. Ja, in diesem Punkt hatte Stinus recht, die Nationalsozialisten machten wirklich kein Geheimnis daraus, was sie vorhatten. Jeder konnte es sehen. Diese Leute wollten Menschen töten.

      Stinus hatte sich wieder dem Modellschiff zugewandt. Seine Finger wanderten über den Glassturz wie Matrosen, die begierig darauf waren, in die Wanten zu entern. Das gab Erika Zeit,


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