Toter Kerl. Tim Herden
weiß es nicht!“
„Tut mir leid“, versuchte Rieder sich zu rechtfertigen, „aber wir mussten erst mal die Leiche bergen und …“
„Und was? Wie lange hat der Hubschrauber hierher gebraucht? Da war nicht Zeit, mal anzurufen?“ Durk holte noch mal tief Luft. „Das hat ein Nachspiel, Rieder, verlassen Sie sich drauf!“
Mit diesen Worten drehte sich Durk um und marschierte zurück. Damp hatte nicht ohne Genugtuung beobachtet, wie der Bürgermeister seinen Kollegen vor allen Leuten runtergemacht hatte. Nun sprang er zur Seite, um den immer noch wütenden Ortsvorsteher vorbeizulassen. Rieder blieb mit gebeugtem Kopf und zusammengesunkenem Oberkörper einsam zurück. Alle schienen von ihm abzurücken.
Else Bars schnappte sich ihren Rucksack mit den Malsachen. Heute würde hier kein Bild mehr entstehen. Ihr zitterten immer noch die Knie. Der jüngere der beiden Polizisten tat ihr leid. Offensichtlich war er nicht von hier und konnte es auch keinem recht machen. Ihr hatte es gefallen, wie er gleich die Initiative an sich gerissen hatte. Jetzt kam er auf sie zu.
„Ich müsste noch Ihre Aussage notieren und Sie bitten, heute Nachmittag oder morgen aufs Revier nach Vitte zu kommen, um sie zu unterschreiben. Wie war Ihr Name?“
Else Bars nannte ihren Namen, ihr Geburtsdatum. Schwieriger wurde es mit einer Adresse. Sie versuchte, Rieder mit ihrer Urlaubsanschrift auf Hiddensee und ihrer Handynummer zufriedenzustellen, denn Else Bars hatte keinen festen Wohnsitz. Im Sommer war sie auf Hiddensee, im Winter auf den Kanaren. Ihre Habe passte in einen großen Reisekoffer, ihr Arbeitsmaterial in den Rucksack. Was sie an Bildern auf der Insel nicht verkaufte, konnte sie bei Bröges unterstellen, die auch hin und wieder während ihrer Abwesenheit eines ihrer Bilder an Urlaubsgäste verkauften.
„Keinen festen Wohnsitz?“, fragte Rieder leise.
„Hat sich so ergeben“, antwortete Else Bars. „Im Sommer bin ich hier, im Winter auf La Palma. Eine Wohnung würde sowieso nur leer stehen und Kosten verursachen.“
„Okay, dann lassen wir es mal bei der Anschrift in Grieben.“
Ein Lächeln ging über ihr Gesicht. „Danke. Das hätte Damp sicher nicht akzeptiert. Der ist mir schon ein paarmal wegen einer Gewerbegenehmigung auf die Pelle gerückt. Aber Sie sind schwer in Ordnung.“
Rieder konnte diese kleine Aufmunterung gebrauchen. Er notierte, wie sie zum Swantiberg gekommen war und den Toten entdeckt hatte.
„Und gestern haben Sie hier auch gemalt? Da ist Ihnen nichts aufgefallen?“
„Gestern habe ich dort oben auf dem Gipfel des Swantiberges gemalt. Von da kann man nicht die Steilküste herabblicken. Die Sanddornbüsche mit ihren gelben Beeren wollte ich mit auf dem Bild haben.“
„Wie lang waren Sie hier?“
„So von acht Uhr morgens bis mittags. Genau kann ich Ihnen das nicht sagen. Wenn ich fertig bin und das Bild trocken, packe ich meine Sachen. Spätestens 14 Uhr muss ich in Kloster stehen. Dann kommen die Reisegruppen zurück von ihren Inselrundfahrten. Das ist die beste Geschäftszeit, so bis 16.30 Uhr. Dann herrscht Flaute. Nur freitags läuft dann noch was. Die Urlauber, die am nächsten Tag abreisen, kaufen oft Bilder auf der Suche nach einem Souvenir der Insel. Sozusagen Last Minute, wie man neudeutsch sagt.“
„Und der Pfarrer ist während dieser Zeit am Vormittag nicht vorbeigekommen …“
„… und dann abgestürzt oder in die Tiefe gesprungen, ohne dass ich es gemerkt hätte? Lieber Mann, ich bin zwar etwas älter, aber noch nicht taub oder blind. Hier war es sehr ruhig. Montags kommen nicht so viele Touristen vorbei. Vielen ist der Weg bis auf den Berg zu beschwerlich. Und die Fuhrwerke fahren nur bis zur Lichtung hinter den Leuchtturmwärterhäuschen und drehen dort.“
„Kannten Sie den Pfarrer?“
„Ich war ein paarmal in der Kirche zum Gottesdienst. Wenn es am Sonntag geregnet hat. War kein Gewinn. Predigen konnte der nicht, kaum zu glauben, wenn man jetzt hört, was der so verfasst haben soll und dafür sogar einen Preis kriegt … Komisch nicht?“
Rieder wusste nicht, was er darauf antworten sollte und überspielte seine Verlegenheit, indem er sein Notizbuch zusammenklappte und eine Visitenkarte aus der Brieftasche zog. „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich doch bitte an.“
Jetzt musste er im „Godewind“ anrufen, um den Raum für Bökemüller zu reservieren, und dann dafür sorgen, dass im Pfarrhaus die Zimmer versiegelt wurden. Damp war nirgendwo zu sehen.
Diesen plagte ein wenig das schlechte Gewissen. Vielleicht war er etwas zu hart mit Rieder umgesprungen. Warum musste der Neue auch immer so den Chef raushängen lassen?
Der Polizist saß im Hiddenseer Streifenwagen, der neben dem Inselfriedhof vor der örtlichen Informationstafel, genau gegenüber vom Pfarrhaus stand. Vielleicht war es auch nicht in Ordnung gewesen, so einfach von der Steilküste hierher zu fahren, ohne Rieder Bescheid zu sagen. Aber er wollte ihm einfach mal zeigen, dass er auch sein Handwerk gelernt hatte. Er versuchte, seine Kleidung zu ordnen. Seine Uniform hatte bei der Hetzerei durch das Gestrüpp am Steilufer gelitten. Er roch an seinen Achselhöhlen und verzog das Gesicht. Damp öffnete das Handschuhfach. Nach einigem Wühlen kam ein Deospray zum Vorschein. Großzügig sprühte er sich damit den Oberkörper ein und bekam von den ausströmenden Gasen einen Hustenanfall. Er kurbelte das Seitenfenster herunter, um wieder Luft zu bekommen.
Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, stieg er aus, setzte ordentlich die Dienstmütze auf den Kopf und ging zum Pfarrhaus. Er drückte den Klingelknopf neben der Tür.
Birgit Thurow öffnete. Ihre Augen waren gerötet. Sie trug heute einen eng anliegenden kurzärmligen schwarzen Rollkragenpullover und Damps Blick glitt unwillkürlich auf den sich abzeichnenden vollen Busen. Doch er riss sich zusammen.
Ehe er etwas sagen konnte, sagte die Küsterin: „Ich habe es schon gehört.“ Dann gab sie den Weg frei und Damp trat ein.
Das dunkle Gemeindebüro wurde nur vom Schein einer riesigen brennenden Kerze auf dem Schreibtisch erhellt. Birgit Thurow blieb davor stehen. Damp wusste nicht so recht, wie er es anfangen sollte.
„Frau Thurow …“ Er machte eine Pause, bemerkte, dass er noch die Mütze auf dem Kopf hatte, und riss sie augenblicklich herunter. „Eh … es tut mir leid. Mein Beileid. .Ich müsste die Räume des Pfarrhauses versiegeln.“
Sie schaute ihn mit leerem Blick an, als hätte sie ihn nicht verstanden.
„Verstehen Sie mich nicht falsch. Der Tod von Herrn Schneider geht auch mir nah … aber die Spurensicherung will die Räume untersuchen, auch die Zimmer des Pfarrers in der oberen Etage.“
Statt zu antworten, brach Birgit Thurow in einen heftigen Weinkrampf aus. Sie warf sich auf einen Stuhl. Damp war hin und her gerissen. Gern hätte er die Frau jetzt getröstet. Er wollte aber auch nicht seine Rolle als Polizeibeamter verlassen.
„Soll ich Ihren Mann informieren, dass er Sie abholt?“
Birgit Thurow schüttelte den Kopf. Da klingelte Damps Handy. Mit gedämpfter Stimme meldete er sich. „Wo sind Sie?“, rief ihm Rieder aus dem Hörer entgegen.
„Im Pfarrhaus.“
„Was? Was tun Sie dort?“
Damp straffte sich etwas, als müsste er sich für die Antwort an seinen Kollegen rüsten. Er flüsterte: „Ich wollte die Räumlichkeiten versiegeln, damit keine Spuren verwischt werden.“
Im Hörer herrschte plötzlich Stille. Dann gab es ein kurzes Räuspern.
„Sehr gut … Können Sie bitte Bökemüller und Behm vom Hafen in Kloster abholen und hierher bringen, zum Toten Kerl?“
Damp konnte sich, trotz der Situation, ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. „Ja, gern. Wenn ich das hier geklärt habe.“
„Okay.“
Damit beendeten beide das Gespräch.
Birgt