Toter Kerl. Tim Herden

Toter Kerl - Tim Herden


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Küsterhaus der Hiddenseer Kirchengemeinde gewesen, aber vor einigen Jahren umgebaut worden. Der Name bezog sich auf ein kleines Backsteinportal, das gleich neben dem Gebäude am Weißen Weg stand und die letzte Spur des einstigen Klosters auf Hiddensee war. Im Erdgeschoss befanden sich Ausstellungsräume, im Obergeschoss ein Zimmer, das sowohl als Beratungsraum, Büro oder Bleibe für die ausstellenden Künstler diente.

      Damp nickte zustimmend. Als Birgit Thurow die Unterlagen in die Tasche schieben wollte, hielt der Polizist seine Hand dazwischen. „Verzeihen Sie, aber ich muss sehen, was Sie mitnehmen.“ Die Küsterin überließ sie ihm. Damp schaute sie kurz durch, konnte aber nichts entdecken, was mit Schneider zu tun gehabt hätte.

      „Sagen Sie, kennen Sie die Angehörigen des Pfarrers?“

      Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Seine Eltern sind tot. Sie liegen auf dem Inselfriedhof. Geschwister hatte er keine. Und sonst hatte er, soweit ich weiß, keinen Kontakt zu Verwandten. Wenn es überhaupt jemanden geben sollte.“

      Damp notierte sich die Information, während Birgit Thurow noch ein Hinweisschild schrieb, das sie beim Verlassen des Pfarrhauses an die Tür heftete. Damp holte ein papiernes Dienstsiegel aus seiner Tasche und klebte es quer über Türschloss und Türrahmen. Grußlos ging Birgit Thurow davon. Damp blickte ihr nicht ohne Wehmut hinterher.

      XII

      Bökemüller, Behm, Rieder und Damp betraten das „Godewind“. Das Hotel mit dem gläsernen Vorbau galt in Vitte mit seinem Restaurant als erstes Haus am Platze. Der Gastraum war rustikal eingerichtet, mit dunklen Tischen und Stühlen. Jetzt, zu Mittag, saßen die meisten Gäste draußen, auf dem kleinen Rasenstück zur Straße und genossen ihr Essen in der warmen Mittagssonne. Beim Betreten des Restaurants waren Rieder zwei Herren aufgefallen, die so gar nicht nach Hiddensee passten. Sie trugen dunkle Anzüge mit weißen Hemden und Krawatte. Die beiden waren gerade beim Mittagessen. Rieder hatte beobachtet, dass Bökemüller ihnen kurz zugenickt hatte. Die Kellnerin zeigte den Polizisten den Weg in einen Nebenraum. Der war hell und fast schon festlich zu nennen. Auf den Tischen lagen weiße Tischdecken, die Polsterstühle waren mit feinem Stoff bespannt. Rieder wusste, dass dieser Raum oft an Hochzeitsgesellschaften vermietet wurde. Die Kellnerin zeigte auf einen großen runden Tisch, eingedeckt mit Gläsern, Besteck und Tellern für eine Vorspeise.

      „Ich dachte eher an einen schlichten Beratungsraum“, meldete sich Bökemüller.

      Doch es gab nur diesen Raum. Die vier Polizisten nahmen um den Tisch Platz und wirkten dabei etwas verloren. Da kamen auch die beiden Herren aus dem Gastraum dazu. Bökemüller sprang auf. „Darf ich Ihnen vorstellen, Dr. Riel und Herr Kubicki vom Innenministerium in Schwerin. Dr. Riel leitet dort ein Referat, das sich mit Terrorismusbekämpfung im weitesten Sinne beschäftigt. Herr Kubicki ist sein persönlicher Referent.“ Die beiden Herren griffen simultan in die Brusttaschen ihrer Anzugjacken, holten Visitenkarten heraus und reichten sie Rieder und Damp. Rieder blickte erstaunt auf die weißen Pappkärtchen. Dr. Sebastian Riel, Referatsleiter Innenministerium. Markus Kubicki, Referent. Dazu eine ganze Reihe von Telefonnummern. Die Herren schienen wichtig zu sein. Aber hatte Bökemüller den Fall nicht vorerst unter der Decke halten wollen? Damp wirkte verunsichert, nachdem er die Kärtchen studiert und eingesteckt hatte. Er versuchte, seine Uniform, möglichst unbemerkt von den anderen, in Ordnung und mit seinem massigen Körper in Einklang zu bringen. Behm schien dagegen schon mehr zu wissen als die beiden Inselpolizisten, denn er nickte den beiden Landesbeamten freundlich zu und bekam auch keine Visitenkarten.

      „Meine Herren“, begann Bökemüller, als sich alle wieder gesetzt hatten, „ich begrüße Sie zu diesem kleinen Brainstorming.“ Er hatte Rieders und Damps verwunderte Blicke registriert. „Keine Bange. Ich werde die Anwesenheit von Dr. Riel und Herrn Kubicki gleich aufklären, aber vielleicht fasst Kollege Rieder kurz den Stand der Dinge zusammen, damit wir alle auf der Höhe sind.“

      Rieder erntete von Damp noch einen verächtlichen Blick, bevor er begann. Dann berichtete er über die Erkenntnisse, die Damp, Behm und er seit dem Auffinden des gestrandeten Boots des Pfarrers am Enddorn bis zum Fund seiner Leiche am Toten Kerl gesammelt hatten. Riel und Kubicki folgten stumm den Ausführungen und machten sich Notizen.

      Nachdem Rieder geendet hatte, herrschte Stille am Tisch. Dann schaute Dr. Riel auf, schlug kurz mit beiden Händen auf die Tischkante und meinte: „Gut so weit, oder auch nicht.“ Das war das Zeichen für Referent Kubicki. Der stand auf, hob einen schwarzen Pilotenkoffer auf den Tisch. Geräuschvoll ließ er die Schlösser aufschnappen, klappte die beiden Deckel zur Seite, zog eine schwarze Mappe heraus und legte sie mitten auf den Tisch. Dann setzte er sich wieder.

      „Gestern Nachmittag gab es einen Zugriffsversuch auf die Daten einer besonders geschützten Person von einem Computer des Polizeireviers der Insel Hiddensee“, erklärte Riel. Er zog sich die Mappe heran, klappte sie auf und nahm ein paar Papiere heraus. Dann setzte er seinen Vortrag in schönem Amtsdeutsch fort. „Wie wir feststellen mussten, versuchten sowohl die Beamten Damp als auch Rieder, in die personenbezogenen Dateien des Bürgers Jens-Uwe Schneider einzudringen. Unser Überwachungssystem im Landeskriminalamt gab daraufhin Alarm. Nach der Identifizierung der beiden Nutzer nahmen wir Kontakt zum Leiter der Polizeidirektion Stralsund, Herrn Bökemüller, auf und baten ihn, uns gegenüber diese Zugriffsversuche zu rechtfertigen …“ Da platzte Rieder der Kragen. Diese Bürohengste hatte er schon zu seiner Berliner Zeit gefressen. Schon ihr Auftauchen sorgte bei ihm für einen deutlichen Adrenalinschub. „Was soll das heißen, eindringen, rechtfertigen … wir hatten eine vermisste Person …“ Bökemüller versuchte mit Handbewegungen, Rieder zu beruhigen. Riel hatte den Polizisten mit starrem Blick fixiert. „Vielleicht könnte Hauptkommissar Rieder etwas mehr Geduld aufbringen“, meinte er mit ruhiger Stimme. Damp hatte die Arme vor der mächtigen Brust verschränkt, Behm spielte mit seinem Bleistift und versuchte wegzuschauen.

      „Kann ich fortfahren?“ Als kein Widerspruch erfolgte, berichtete Riel, dass er in diesem Telefongespräch von Bökemüller erfahren habe, dass Pfarrer Jens-Uwe Schneider verschwunden sei. „Es ist Ihnen doch sicher klar, dass uns das nicht ganz kaltlassen kann. Immerhin war unser Minister persönlich am Sonntag hier, bei der Preisverleihung für Herrn Schneider alias Jean Jacques Hoffstede.“ Riel und Kubicki waren deshalb am Morgen nach Stralsund gefahren, um sich bei Bökemüller über die Situation zu informieren. „Tja, doch dann wurden wir von den Ereignissen überrollt, meine Herren.“ Sie waren gerade in der Polizeidirektion angekommen, als Bökemüller und Behm nach Hiddensee aufbrechen wollten, um den Fundort der Leiche Schneiders aufzusuchen, und entschlossen sich, auch gleich nach Hiddensee zu fahren. „Warum stand Jens-Uwe Schneider unter unserem besonderen Schutz?“ Riel schaute wie ein Schullehrer nacheinander jeden am Tisch an, als erwarte er von ihnen eine Antwort, die er dann aber selbst gab. „Jens-Uwe Schneider, geboren 1955 in Hessisch-Oldendorf bei Hameln, Vater Pfarrer, Mutter Hausfrau, ist 1981 von, wie heißt es hier im Osten noch immer so schön, von der BRD in die DDR übergesiedelt. Zuvor hatte er an den Vorbereitungen eines Banküberfalls durch Angehörige der Roten Armee Fraktion und Unterstützer dieser Gruppe teilgenommen. Kurz vor der Tat hat er sich den Behörden offenbart, man könnte auch sagen, er hat kalte Füße bekommen. Jedenfalls hat er mitgeholfen, seine beiden Komplizen, darunter einen lang gesuchten Terroristen, auf frischer Tat zu überführen. Leider kam es bei dem Überfall, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, zu einem Schusswechsel, bei dem ein Polizist so schwer verletzt wurde, dass er später im Krankenhaus starb. Schneider wurde zwar Straffreiheit zugesichert, aber er wurde nicht in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Er ist deshalb dann in die DDR gegangen. Das erschien ihm offensichtlich der sicherste Weg, um einer möglichen Racheaktion zu entgehen. Seit 1985, aber das wissen Sie ja alle selbst, war Schneider hier Pfarrer.“

      Rieder, Damp und nun auch Behm waren sprachlos. Bökemüller dagegen wirkte wenig überrascht. „Sie wussten das“, fragte ihn Rieder.

      „Seit gestern Abend.“

      „Aber da hätten Sie doch mal …“

      „Hätte er nicht“, mischte sich Riel ein. „Ich habe ihren Chef um Stillschweigen gebeten, und darum muss ich Sie alle nun auch bitten.

      „For eyes only“,


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