Norderende. Tim Herden
Über Hiddensee hingen noch ein paar dunkle Wolken. Als Rieder wieder im Revier angekommen war, zeigte sich am Horizont über der Ostsee schon wieder blauer Himmel. Behm war mit seiner Mannschaft wieder zurück auf dem Weg nach Stralsund. Er hatte versprochen, sich um einen Verbindungsnachweis von Steins Handy zu kümmern. Vielleicht ergaben sich daraus neue Ansatzpunkte für die Ermittlungen.
Rieder und Damp saßen sich schweigend gegenüber. Rieder war ungeduldig. Bei der neuen Arbeitsteilung im Revier musste er sich mit Damp abstimmen und konnte nicht einfach machen, was er wollte. So fragte er in das gemeinsame Schweigen: „Wie wollen wir weiter vorgehen?“
Damp saß hoch aufgerichtet auf seinem Stuhl und starrte vor sich hin. Doch Damps äußerliche Lethargie täuschte. In seinem Kopf arbeitete es. Er wollte Initiative zeigen. Er musste doch jetzt allen beweisen, dass er der richtige Mann für den Posten war. Einen Rückschlag hatte er allerdings schon hinnehmen müssen. Damp hatte gehofft, der Zeugenaufruf würde schnellere Ergebnisse bringen. Deshalb war er schnell ins Revier zurückgegangen. Er hatte sogar Rieder den Wagen überlassen, damit er die Spurensicherer zum Hafen in Vitte bringen konnte. Er wollte unbedingt im Büro sein, falls sich Zeugen meldeten. Es musste doch Strandgänger und Kinobesucher gegeben haben, die etwas gesehen hatten. Doch kein Mensch hatte sich bisher gemeldet, und Damp hatte nicht den gewünschten Informationsvorsprung, mit dem er auch vor Bürgermeister Durk hätte glänzen können.
Jetzt blieb Damp nur eine Chance. Er musste sich an Rieder dranhängen. Vielleicht kam er da auf eine erfolgversprechende Spur. Man muss den Feind mit seinen eigenen Waffen schlagen, dachte er sich.
„Was schlagen Sie vor?“, fragte er zurück.
„Ich denke, wir fahren in Steins Haus und schauen uns mal genauer um. Akten, Kalender, Adressbücher, der ganze Kram“, schlug Rieder vor. „Vielleicht bringt uns das weiter.“
„Gute Idee“, antwortete Damp. Er rückte seinen Stuhl zurück, stand auf und zurrte schon mal seine Uniform zurecht. Doch Rieder machte nun plötzlich gar keine Anstalten mehr, aufzustehen. Stattdessen nahm er ein Lineal, klopfte damit in seine Hand und schaute nachdenklich: „Wer könnte ein Motiv haben, Stein zu ermorden?“
„Woher soll ich das wissen?“, antwortete Damp trotzig.
„Sie sind doch schon so viele Jahre auf der Insel, müssen Stein doch gekannt und vielleicht auch gehört haben, was über ihn geredet wurde?“
„Wer redet denn schon mit mir? Hier auf der Insel!“ Da hatte Damp zwar Recht, wie Rieder aus eigener Beobachtung wusste, aber so völlig unwissend konnte selbst er nicht sein.
„Hatten Sie denn nie mit ihm zu tun?“
„Selten. Er kam vorbei, wenn es um Absperrungen für Baustellen ging oder er eine Straßensperrung haben wollte, wenn er mit seiner Truppe die Schlaglöcher und Kuhlen in den Wegen zuschüttete. Aber was sollte er sonst mit mir reden und ich mit ihm? Fragen Sie besser Ihren allwissenden Nachbarn. Malte Fittkau.“
Rieder stutzte. „Ich dachte, seit der Geschichte mit dem Pfarrer kommen Sie besser miteinander aus?“ Jedenfalls hatte er letzte Nacht diesen Eindruck gehabt.
„Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer und ein paar Bier keine Freundschaft“, antwortete Damp nicht ohne Bitterkeit.
Er ging in Richtung Tür und fragte ungeduldig: „Wollen wir nun los?“ Rieder stand auf und wollte seinem Kollegen gerade folgen. Da klopfte es.
Damp riss die Tür auf. Ein riesiger gelber Regenhut war das Erste, was die beiden Polizisten sahen. Damp machte vor Schreck einen Schritt zurück.
„Sind wir hier richtig? Bei der Polizei?“, fragte eine leise Stimme. Rieder stand auf. Unter dem Hut sah er das Gesicht einer älteren Dame. Bevor er etwas sagen konnte, drehte sich die Frau auf dem Absatz um und verschwand wieder im Treppenhaus. Von dort hörten die Polizisten die Frau rufen: „Helene, komm doch mal.“
Dann kam sie zurück. Nun in Begleitung. Beide Frauen glichen sich völlig in der Kleidung. Die gleichen Regenhüte, die gleichen Regenjacken, die gleichen Wetterhosen und natürlich auch die gleichen Gummistiefel. Wie Zwillinge. Doch im Körperbau waren sie völlig verschieden. Die angeklopft hatte, war klein und korpulent, ihre Begleiterin recht groß und hager.
„Guten Tag, meine Name ist Jahnke. Hildegard Jahnke“, begann die Frau noch einmal, etwas ängstlich im Ton. Sie fasste ihre Gefährtin an der Hand. „Und das ist meine Freundin Helene Witt.“ Die Hagere grüßte nur mit kurzem Kopfnicken. „Wir kommen schon seit dreißig Jahren nach Hiddensee. Und nun sind wir, wie soll ich es sagen ...?“
Die Hagere räusperte sich kurz. „Ja, wir sind gekommen wegen des Aushangs.“ Dann wandte sie sich an ihre Freundin Hildegard: „Mach doch nicht so ein Gewese.“
Die gab beleidigt zurück. „Du wolltest doch gar nicht hierher.“
Rieder unterbrach die beiden. „Frau Jahnke, Frau Witt. Nehmen Sie doch Platz.“
Die Frauen setzten sich auf die beiden Besucherstühle, ganz vorn auf die Kante.
„Warum sind Sie gekommen? Haben Sie gestern Abend am Zeltkino etwas beobachtet?“, fragte Damp hoffnungsvoll.
Die Frauen schauten sich kurz an. „Also, wir wollen Frau Ekkehard keine Schwierigkeiten machen. So lange wir auf die Insel kommen, so lange kennen wir sie schon“, begann Helene Witt.
„Sie ist so eine herzensgute Frau. Jedes Jahr schickt sie uns, kurz bevor wir kommen, schon das Kinoprogramm“, ergänzte Frau Jahnke, „und streicht an, welche Filme uns vielleicht besonders gefallen könnten.“
„Was ist denn nun mit Frau Ekkehard?“, unterbrach Rieder, etwas ungeduldig.
„Es war so“, berichtete Frau Witt, „wir waren gestern schon recht früh am Kino, weil wir fürchteten, sonst schlechte Plätze zu bekommen. Hilde hat immer Angst, dass ein Großer vor ihr sitzt und sie dann nichts sieht ...“ Sie hielt kurz inne. „Wo war ich stehengeblieben? Ach ja. Also wir waren recht früh da, kauften Karten und waren wirklich die Ersten im Kino. Jedenfalls, als wir saßen, hörten wir von hinten ziemlichen Krach. Zwei Leute brüllten sich an.“
„Wer brüllte sich an?“, fragte Rieder nach.
„Frau Ekkehard und ein Mann“, meldete sich Frau Jahnke, schaute dabei aber wieder etwas ängstlich auf ihre Begleiterin.
Aber auch die bestätigte: „Also, Frau Ekkehard habe ich auch gehört. Die Stimme von dem Mann kannte ich nicht.“
„Und worüber stritten die beiden?“
Beide Frauen zuckten mit den Schultern.
„Haben Sie irgendetwas verstanden?“
„‚Du kriegst mich hier nicht weg!‘, rief Frau Ekkehard mehrmals. Und der Mann schrie: ‚Das wirst Du schon sehen! Du hast kein Erbrecht. Irgendwann ist auch für dich Schluss‘. Und sie antwortete: ‚Nur über meine Leiche!‘ So ungefähr“, berichtete Hildegard Jahnke. Und Frau Witt ergänzte: „Dann knallte eine Tür.“
„Haben Sie den Mann gesehen?“
Die beiden schüttelten die Köpfe. Damp holte ein Foto von Peter Stein hervor und zeigte es den Frauen. „Haben Sie diesen Mann in der Nähe des Kinos gesehen? Vielleicht, als sie die Karten gekauft haben?“
Sie schauten sich das Foto an. „Also, auf der Insel habe ich den schon oft gesehen“, meinte Helene Witt. „Aber gestern?“
„Wir haben uns schon so auf den Film gefreut“, ergänzte ihre Freundin. „Und dann geht das uns auch eigentlich nichts an. Wie gesagt, wir wollen der Frau Ekkehard keine Schwierigkeiten machen.“
„Aber wir sind auch geschockt, dass so etwas auf Hiddensee passieren kann“, empörte sich Frau Witt. „Ein Mord!“
IX
Nachdem