Vermailt. Anja Nititzki
zu rennen. Die lallende Meute war erstaunlich fit, trotz Alkoholkonsums oder gerade deshalb. Sie waren mir auf den Fersen, immer dichter. Ich hatte Angst um mein junges Leben.
Ich hatte Glück im Unglück, denn ich war auf der Uferseite unterwegs, von der aus man auf Dresdens prächtige Altstadt blicken kann. Die Uferseite, von der aus die Touristen bis heute die schönsten Postkartenfotos machen. Der Einstieg ins Wasser ist dort seicht, nicht steil und mit Mauern befestigt wie gegenüber.
In meiner Panik stürzte ich mich ins kalte Elbewasser. Es war furchtbar, denn es war Winter, trotzdem sprang ich. Das Ufer war steinig, Geröll. Ich stolperte in die Elbe und versuchte mich in Ufernähe treiben zu lassen, ich hatte Angst, von dem breiten Fluss erfasst und davongetragen zu werden. Aber alles war besser, als von besoffenen Linken aus Dummheit gekillt zu werden.
Damit hatten sie wohl nicht gerechnet. Ich trieb schnell einige hundert Meter voran. Die Antifas blieben grölend am Ufer stehen und freuten sich über meinen feuchten Abgang. Einen gefühlten Kilometer weiter konnte ich mich ans Ufer retten. Unversehrt. Mir war nur furchtbar kalt. Aber das war besser als alles, was mir bevorgestanden hätte, wenn ich nicht in die Elbe gegangen wäre.
„Oben ohne“ zu leben war für mich also manchmal ein Problem. Jetzt nicht mehr. Was ist mit Deinem Haar? Ist das Rot echt?
Ich habe noch nie eine Frau mit roten Haaren getroffen.
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Betreff: Re: Elbe-Nazi
Datum: 16. 08. 2012, 08 : 31:54
Ja, meine Haarfarbe ist echt. Das Rot war durchaus konform mit der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Als Kind wurde ich oft gehänselt. Man nannte mich „Pumuckl“, wie den kleinen Kobold aus einer Kinderfilmserie, oder „Duracell“, wie die Batterie mit dem Kupferkopf. Die gab es in unseren dünn bestückten Geschäften im Osten freilich nicht zu kaufen, wie Du sicher noch weißt. Die Kinder hatten sich aber im Westfernsehen gründlich über die Produktvielfalt in unserem kapitalistischen Nachbarland informiert und sofort mit meiner Haarfarbe in Verbindung gebracht.
Meine Zulassung zum Abitur sollte aber nicht an Haarspalterei scheitern, sondern daran, dass ich mich weigerte, meinen monatlichen FDJ-Beitrag zu entrichten. Dreißig Ostpfennig waren mir schlichtweg eine zu große Investition in die Freie Deutsche Jugend.
Ich wurde bekehrt. Es wäre doch schade, wenn ein Arbeiterkind wie ich nicht studieren könne wegen dreißig Pfennigen.
Nach dem Abitur färbte ich meine Haare grün. In der Grünphase meines Lebens fühlte ich mich alternativ. Ich trug schwarze Lumpen und war militant gegen alles. Jetzt bin ich nur noch ich.
Nächste Frage: Rauchst Du? Ich nicht. Hier kommt meine Geschichte zum Rauchen: Ich hab es nur ein einziges Mal versucht. Eine Verzweiflungstat. Eine Geschichte, für die ich mich schäme, ich erzähl sie Dir trotzdem: Ich war schwer verliebt. Der Angebetete besuchte mich, um nie wiederzukommen, und er rauchte dabei. Das durfte er in meiner Nichtraucherwelt. Ich war so süchtig nach seinen Lippen, dass ich seine alten Kippen aufgeraucht habe, nachdem er weg war. Das ist peinlich. Es ist etwa fünfzehn Jahre her. Wie konnte ich mich nur so sehr erniedrigen. Ich habe nie wieder eine Zigarette angerührt und ihn auch nicht.
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Betreff: Rauchen
Datum: 17. 08. 2012, 10 : 00:12
Erniedrigt? Du hattest wenigstens ein romantisches Motiv. Du bist sehr leidenschaftlich. Ich habe früher geraucht, und wenn ich keine Zigaretten mehr hatte, habe ich die Kippen aus dem Aschenbecher aufgeraucht. Einmal musste ich dafür sogar den Mülleimer entleeren. Wie kann man sich so erniedrigen? Später habe ich mich für diese Sucht gehasst. Meine letzte Zigarette habe ich zur Jahrtausendwende ausgedrückt. Und ich fange auch nicht wieder an zu rauchen. Du musst Dir also keine Sorgen machen, dass ich mich gehen lasse, wenn wir zwei an einem öffentlichen Aschenbecher vorbeikommen. Schreib mir bitte weiter Geschichten aus Deinem Leben. Ich will alles wissen!
Betreff: Bravo! Schlagen!
Datum: 17. 08. 2012, 11 : 13:10
Ich war geschäftstüchtig und kleinkriminell. An unserer sozialistischen Schule blühte der Schwarzhandel mit abfotografierten Bildern aus dem kapitalistischen Ausland, genauer gesagt waren die Fotos aus der „Bravo“. Ich muss Dich jetzt nicht fragen, ob Du diese Jugendzeitschrift noch kennst, oder? Die weisen Ratschläge des Dr.-Sommer-Teams waren uns doch allen sehr wichtig. Mein Opa hatte ein kleines mobiles Fotolabor. Immer wenn Filme zu entwickeln waren, hat er es in Omas Küche aufgebaut. Wir haben zusammen die Stars meiner Jugend abfotografiert und auf Fotopapier entwickelt. Die „Bravo“ war ein rares Gut. Also verkaufte ich die Fotos von den Star-Postern für ein paar Ostmark. Ich durfte mich freilich nicht erwischen lassen. Ich wäre mit Sicherheit beim Schulappell getadelt worden und hätte niemals die Lessing-Medaille für gute schulische Leistungen verliehen bekommen.
Was machst Du mit meinen Geschichten? Ich erlaube Dir, aus allem, was wir schreiben, ein Buch zu machen. Ich hätte nur gerne einen anderen Namen. Schon deshalb, weil ich einmal einen Mann geschlagen habe. Das solltest Du vielleicht wissen, bevor wir uns treffen. Er hat mich so gereizt und geärgert, dass ich meiner Wut freien Lauf ließ. Es war in einer Disco in Leipzig. Ich habe ihm ins Gesicht geschlagen. Ein guter Schlag, er kam direkt aus der rechten Schulter, voller Körpereinsatz. Mein Opfer flog nach hinten in die Massen und sein Freund bewahrte ihn vor meiner nächsten Attacke. Mir ging es danach sehr gut. Manchmal muss man machen, wonach einem der Sinn steht. Das befreit. Wir waren danach noch zwei Jahre zusammen. Ein kleiner Schlag wirkt manchmal Wunder.
Dich aber küsse ich, Dich schlage ich nicht.
Deine Ex-Schlägerin
Betreff: Re: Bravo! Schlagen!
Datum: 17. 08. 2012, 12 : 00:00
Vor Deinen Schlägen habe ich keine Angst, Anna, eher vor Deiner möglichen Zärtlichkeit und was sie in mir auslösen könnte.
Ich muss für heute Schluss machen, das Wochenende steht vor der Tür, ich muss nach Hause. Am Montag bin ich wieder voll für Dich da. Bis dahin hoffe ich, dass ich Dir wenigstens zwischendurch eine SMS schicken kann.
Darf ich Dich auch küssen, Anna?
Roger
Betreff: Aw: Bravo! Schlagen!
Datum: 17. 08. 2012, 12 : 02:08
Ja, Roger, Du darfst mich Küssen. Seit Wochen träume ich davon. Fühl Dich zart angeatmet, an Deinem Hals rechts. Bis Montag!
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Betreff: Schlagende Argumente
Datum: 20. 08. 2012, 10 : 13:09
Guten Morgen, da bin ich wieder und ich habe schlagende Argumente für Dich.
Mir ist einmal die Hand ausgerutscht. Ich war 17 oder 18 und fest davon überzeugt, dass meine erste, echte Freundin mich betrügt. Ich hatte meine Informationen. Es geschah auch nach einem Discoabend in einem Jugendclub in Dresden. Sie war schon im Club und wir hatten die Absprache, dass der Erste, der im Club ist, dafür sorgt, dass der andere am Türsteher vorbeikommt. Ich sah ihr Gesicht einige Male hinter