Pappelallee. Andreas H. Apelt

Pappelallee - Andreas H. Apelt


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kritisch. Sehr sogar, wie Graustock bestätigt. Und alle nicken.

      Gegen die Militarisierung! Gegen den Wehrkundeunterricht an den Schulen! Für die Einführung von Zivildienst! Das ist der Fortschritt wie ihn Graustock, Voss und Hülsmann verstehen. Und nun saß einer vom Militär an ihrem Tisch. Noch dazu so ein künftiges hohes Tier.

      Selbst Kierow, der sonst immer schlagfertig ist, blieben die Worte im Halse stecken.

      Aber geschehen ist geschehen.

      Das Ende hat sich Katharina lieber nicht anschauen wollen, auch nicht Hülsmann und Ottmar Graustock. Während der uniformierte Peter weiter bestellte und ganz selbstverständlich die versteinerten Mienen der Gäste ignorierte, verließen sie das Café. Geschlagen, mit hängendem Köpfen und sprachlos, als hätte ihnen, zu allem Unglück, der Peter die Worte geraubt.

      Und das will schon was heißen, wenn Graustock und Hülsmann schweigen.

      Ja, der Peter. Eine glückliche Hand hatte der trotzdem nicht. Denn auch diese Siege sind nur Pyrrhussiege. Verloren hat er trotzdem, egal, ob er sich in der Öffentlichkeit oder in Katharinas Umfeld bewegte. Schon die Schule schaffte er gerade so. Mit der Lehre als Maschinist im Fernsehwerk Oberschöneweide sah es nicht besser aus. Immerhin war er so im sicheren Schoß der Arbeiterklasse. Noch dazu wo er mit gesellschaftlicher Arbeit glänzte. Die Freie Deutsche Jugend war seine zweite Heimat. FDJ, was für Buchstaben, die eine ganze Welt beschrieben und diese gelb auf blauem Grund umspannten. Seine Welt leuchtete rosarot wie der Sozialismus, dessen Siegeszug nicht aufzuhalten war. Und vielleicht halfen seine zweite Heimat und die Kandidatur als Mitglied der SED, dass die Lehrer ein Auge zudrückten, wenn es um den Abschluss ging. Geschafft ist schließlich geschafft.

      Nun stand dem jungen Mann die Welt offen. Peters Zukunft hieß Armee. Als Vertreter der Arbeiterklasse zur Armee! Nicht ein und ein halbes Jahr, wie üblich für den Grundwehrdienst. Nein, nicht mal drei Jahre, um Unteroffizier zu werden und den beruflichen Fortgang zu sichern, waren ihm genug. Zehn Jahre, so viel sollten es schon sein. Berufssoldat!

      Kein Wunder, wenn der Peter bald zum Liebling seines Vaters wurde. Nun war wenigstens noch ein weiterer der Hoffmanns im Klassenkampf. Und hielt den Kopf hin, wo es wehtut. Genau so hat es Vater Hoffmann gesagt. Genossen, wo es wehtut!

      Den Kopf hat er wirklich hingehalten, der Peter, auch noch als er schon ahnte, dass etwas mit seiner jungen Frau nicht stimmen konnte. Die Ute hatte es nämlich auch auf Uniformen abgesehen. Allerdings haben ihr wohl die Uniformen von Peters Vorgesetztem besser gefallen als die von Peter. So ein richtiger Oberleutnant ist ja doch eine ganz andere Nummer. Kein blutjunger Offiziersschüler.

      Der Klassenkampf an der vordersten Front fand bald sein erstes Opfer. Vielleicht hätte es Peter auch noch verkraften können, dass die Ute ein Verhältnis mit dem Oberleutnant hatte, wenn nicht … Ja, wenn nicht genau dieser Oberleutnant ihn immer zu Sonderaufgaben in die Kaserne beorderte, während er selbst die Ute im Neubaublock um die Ecke besuchte. Mit Blumen, in der Regel Nelken, Weinbrandbohnen und einem guten Tropfen Rotkäppchen. Ganz im Klassenauftrag versteht sich.

      Peter musste es geahnt haben. Die Eifersucht machte jedenfalls nicht vor dem Klassenbewusstsein halt. Und Eifersucht kann auch pflichtbewusste Offiziersschüler rasend machen. So fand eine hoffnungsvolle Karriere, wie Vater Hoffmann zu jeder Gelegenheit betont, ein jähes Ende. Und das nur wegen der Ute, die anderen Männern schöne Augen machte. Ja, das konnte sie. Große schwarze Augen. Pflichtvergessen. Weiber eben! Immer sind es die Weiber!

      Peter mochte sich das nicht lange ansehen. Er nahm seine Dienstwaffe und schoss sich in den Mund. Und das im Zimmer des Oberleutnants. Dabei war der nicht einmal anwesend. Zum Glück, wer weiß, was sonst noch passiert wäre.

      Seiner Ute hinterließ Peter keinen Brief. Wohl aus Rache, sagt Katharina. Aber das ist Interpretation. Andere sagen, dass er sich in dem Brief abfällig über Vorgesetzte geäußert habe. Da hat man das Schriftstück lieber gleich verschwinden lassen.

      Was wohl auch besser ist.

      Jedenfalls für die Nationale Volksarmee und unseren Parteisekretär, der jetzt allein den Kopf hinhalten muss, wo es wehtut. Denn Pflicht ist eben Pflicht.

      Nein, es geht nicht aus dem Kopf. Es bleibt, als hätte es jemand eingepflanzt wie einen Baum, der größer und größer wird und Wurzeln schlägt. Kopfwurzeln.

      Ottmar Graustock ist ans Fenster getreten und schaut in den grauen Vormittagshimmel. Dabei ist es Mitte Juni. Und da ist es wieder da, dieses Bild, das sich jetzt mit Leben füllt und einem Gefühl, das man Heimat nennt. Mit diesem einfachen altmodischen Wort, Heimat. Und schon sieht er das Wasserschloss mit seinem verschlammten Wassergraben, den Lindenplatz mit dem Verwalterhaus, das ein Hirschgeweih ziert, die alte Brauerei, den kleinen Markt …

      Drehna, flüstert Graustock und er flüstert es so geheimnisvoll als wäre es ein Zauberwort. Dabei denkt er gar nicht an den Zauber, sondern an das, was er zurückgelassen hat in diesem Dorf bei Luckau, wo der Vater eine Pfarrstelle bekleidet. Und die Welt, so klein sie auch ist, irgendwie heil scheint. Wäre da nicht dieser Tagebau, der sich um Drehna frisst und so manches Dorf der Umgebung dem Untergang weiht: Presenchen, Stiebsdorf, Wanninchen, Gliechow, Pademagk … Die Aufzählung würde kein Ende finden. Und es geht weiter, Schlabendorf und Teile von Zinnitz sollen folgen. Einfach so. Der Teufel, heißt es, hat die Kohle unter die Dörfer gelegt. Ja, der Teufel war es. Wer denn sonst?

      Er hat die Menschen vertrieben, weil auch sie keine Heimat haben dürfen. Und dabei ihre Seelen gebrochen.

      Aber Drehna steht wie ein Fels in der Brandung oder besser wie ein Stück Leben in einer unwirklichen Mondlandschaft. Diese gehört den Kettensägen, den Baggern und Kohlezügen. Vielleicht hängt deshalb Graustocks Herz umso mehr an diesem Ort, Drehna, den Fels, den Gott ins Herz schließen sollte. Schließlich vereint er alles: Familie und Geschichte, Heimat und Erinnerung und vor allem Hoffnung. Eben ein vertrauter Klang, der in den Ohren liegt, egal wo man ist. Schwer und wehmütig.

      Und damit ist dieses Drehna, hundert Kilometer südlich Berlins, unweit der Autobahn nach Dresden, ein magischer Ort.

      Graustock schüttelt den Kopf. Seltsam, denkt er, dieses Heimatgefühl trägt man an den Füßen in jedes neue Haus. Und so sehr sich die Menschen auch Mühe geben, es von den Füßen abzustreifen, es bleibt und wird uns begleiten bis in den Tod.

      Heimat, so denkt Graustock weiter, ist eben doch eine Erinnerung. Und eine Erinnerung schmerzt, weil sie die Sehnsucht nach einem Frieden gebiert.

      Wie wacklig dieser Frieden auch in Drehna ist, hat Graustock selbst erfahren. Da ist die alte Noack, die einst in Presenchen lebte, einem der vom Erdboden verschwundenen Orte. Und diese alte Frau ist es, die jetzt die Grabsteine der verstorbenen Presenchener in ihrem Drehnaer Garten aufstellt. Und das nur, weil sie ihre Geschichte und die Geschichte der Presenchener vor dem Vergessen retten will. Nicht ohne Probleme, wie sich denken lässt. Denn da sind die argwöhnischen Behörden und die Vorschriften. Wo denken Sie hin, Frau Noack! Ein Garten ist doch kein Friedhof. Sich gegen den Fortschritt zu stemmen mit diesem Starrsinn! Der Sozialismus wird auch mit solchen wie Ihnen fertig!

      Und da sind die Kloses, vertriebene Ostpreußen, die noch immer an der Heimat hängen und die ihre eigene Geschichte einholt. Spätestens dann, wenn Kloses Frau heulend und schreiend im Keller des Bauernhauses verschwindet, weil sie glaubt, dass die Russen sie holen. Erst nach Tagen taucht sie wieder auf. Es sei denn der Klose, der ein Bein in Russland gelassen hat, findet vorher für seine Frau einen Platz in Teupitz. Dort, wo die Irrenanstalt ist.

      Und begonnen hat das alles mit der alten Beckmann. Ihr war der Ottmar Graustock zuerst auf der Spur. Denn die Beckmann hatte eine eigene Geschichte. Eine Geschichte des Ertragens und Erduldens. Eine gebrochene Frau, die sich schließlich zu wehren wusste und das letzte Presenchener Gehöft wie eine Festung gegen die anrückenden Tagebaumaschinen verteidigte. Ohne Wasser und Strom hielt sie über Wochen aus. Bis man sie abholte und dem alten Backsteinhaus mit Sprengstoff den Garaus machte. Da war sie schon über achtzig. Seitdem wartet sie an das Bett gefesselt im Luckauer Altersheim auf den Tod. Auch das kann


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