Pappelallee. Andreas H. Apelt
nein, ganz und gar nicht.
Dann weiter, befiehlt der Mann.
Hülsmann zählt die Stockwerke. Im dritten Stock werden die Schritte langsamer.
Der Mann im dunkelblauen Jackett ringt nach Luft. Gehen Sie voran, fordert er Hülsmann auf. Vielleicht weil er sich an die Vorschriften halten will.
Hülsmann stockt.
Na weiter, sagt der Mann und schiebt Hülsmann in den Gang. Der ist so lang wie ein Bergwerksschacht. Am Ende flutet Tageslicht durch eine kleine Öffnung in den Stollen.
Aus dem frisch gebohnerten Fußboden steigt eine vertraute Geruchsmischung. Es ist der strenge Geruch von Bohnerwachs und einem beißenden Reinigungsmittel. Wenn es auch nur einen Einheitsgeruch in diesem Land gibt, so denkt Hülsmann, dann ist es genau dieser Geruch. Er ist ein Markenzeichen, das man urheberrechtlich schützen müsste. Egal welches öffentliche Gebäude man auch immer betritt, sei es der Kindergarten, die Schule, die Polizei, der Bahnhof oder gar ein Standesamt, alles dünstet diesen merkwürdig strengen Einheitsgeruch aus. Selbst in der Volksbühne, einem Theater, steht dieser Einheitsgeruch in den langen Gängen des Verwaltungstraktes.
Der Flurboden glänzt im Gegenlicht wie die aufgesetzten Jacketttaschen. Beidseitig des Ganges reihen sich Türen aneinander. Unendliche Türen, die in unbekannte Zimmer führen. Nur die dreistelligen Nummern in schwarzen Plastebeschlägen verraten Unterschiede.
Hinter den Türen rasseln Schreibmaschinen. Sie stempeln Buchstaben in Papierrollen. Ihre Anschläge sind so flink wie das Trommeln von Regentropfen auf einem Autodach.
Hülsmann sieht schon die Buchstaben auf mechanischen Füßchen durch die Räume eilen. Erst in Marschkolonnen, dann in Gruppen und Grüppchen. Und er hört sie. Wie das Rasseln von metallenen Ketten, die über einen harten Boden gezogen werden. Gleichmäßig und nur manchmal von einer kurzen Pause unterbrochen. Typisch Hülsmann, dem wieder die Gedanken durchgehen. Oder die Fantasie.
Aufgeschreckt durch die dröhnenden Schritte im langen Gang, laufen die Buchstaben wild auseinander, um sich hinter Schränken und Heizungen, Akten und Papierstapeln oder unter Linoleumböden zu verkriechen. Andere klettern auf Schreibtische und Schränke, Aktenordner und Ablagen. Dann endet das Klicken und Klacken, das Hämmern und Rasseln. Hülsmann würde jetzt gern ein Buchstabe sein und sich hinter einem Aktendeckel verstecken und abwarten. Aber er ist kein Buchstabe. Kein A und kein Z. Nicht mal ein H, wie Hans.
Halt, sagt der Mann hinter ihm. Es ist die Tür 328.
Der Mann ballt die rechte Hand zu einer Faust und schlägt mit den spitzen Fingerknochen entschlossen gegen die Tür. Dann tritt er einen Schritt zurück. Zugleich legt er seine linke Hand fest um Hülsmanns Oberarm. Der Zugeführte wehrt sich nicht.
Moment, schallt eine Stimme von innen. Dann ist es ruhig.
Aber die Tür öffnet sich nicht. Auch folgt keine Aufforderung zum Eintreten. Sekunden vergehen, oder steht die Zeit wieder einmal still? In solchen Momenten steht die Zeit doch immer still. Sie hält den Atem an, denkt Hülsmann. Also hält er auch den Atem an.
Herein, schallt es endlich aus dem Zimmer.
Der Mann öffnet die Tür und schiebt Hülsmann in einen Raum. Der Raum ist hell und freundlich. Die späte Nachmittagssonne wirft gelbe Lichtkegel auf den braunen Fußboden. Hinter einem großen braunen Schreibtisch sitzt ein Mann. Er schreibt. Der Füllhalter zittert über die abgenutzte Schreibtischplatte. Das Blatt, das er füllt, ist nicht zu sehen. Der Mann hat ein weißes eingefallenes Gesicht mit großen dunklen Ringen unter den Augen. Sein Kopf ist fast kahl. Nur ein Streifen dünner grauer Härchen zieht einen schmalen Kranz über Ohren und Hinterkopf. Auch er trägt ein dunkelblaues Jackett mit aufgesetzten Taschen. Als der Mann aufsteht, fällt ein dickes Sitzkissen zu Boden. Er lässt es liegen.
Jetzt ist auch die graue Hose aus den Präsent-20-Auslagen neben dem Wiener Café zu sehen. Und ein wohlgenährtes Bäuchlein. Das wölbt sich spitz unterhalb der eingefallenen Brust. Darüber hängt ein kurzer brauner Binder. Die Spitze des Binders sitzt auf dem Bäuchlein auf.
Langsam geht der kleine Mann zum Fenster. Dabei stützt er sich auf den Schreibtisch.
Nun, Herr Hülsmann, sagt der Mann nach einer Weile, dann erzählen Sie mal. Dabei schaut er Hülsmann das erste Mal richtig an. Diesen merkwürdigen jungen Mann mit seinem schwarzen abgewetzten Cordanzug und der schwarzen, am Bauch ausgebeulten Zimmermannsweste, auf der immerhin sechs Perlmuttknöpfe leuchten. Fast beiläufig weist er ihm mit der linken Hand einen Holzstuhl zu.
Aber was soll ich erzählen?, fragt Hülsmann. Langsam lässt er sich auf dem zugewiesenen Platz nieder und schaut sich fragend nach dem Mann hinter sich um.
Der aber rührt sich nicht. Wie angegossen steht er da, die Hände an die Seite gelegt.
Sie werden schon wissen was, sagt die Stimme am Fenster.
Ich weiß wirklich nicht, erwidert Hülsmann und hebt die Schultern.
Natürlich nicht, sagt der Glatzköpfige und lächelt. Sie können uns nichts vormachen, Hülsmann! Da können Sie rumlaufen, wie Sie wollen. Das hilft alles nichts!
Will ich doch nicht, beteuert Hülsmann. Dabei zieht er so ein Gesicht, ein typisches Hülsmanngesicht, aus dem ganze Bände sprechen. Aber dafür kann der Hülsmann nicht. Denn irgendwie hat er, trotz mancher Narben, immer etwas Verschmitztes im Gesicht oder besser unter den Augen.
Schade, sagt der Glatzköpfige noch mit ruhiger Stimme und stellt sich jetzt neben Hülsmann. Dann aber bricht es aus ihm lautstark heraus: Mit solchen Bürschchen wie Ihnen werden wir schon fertig. Keine Bange! Dann setzt er sich wieder hin und beginnt zu schreiben.
Hülsmann ist rot angelaufen. Aber …, versucht er noch einmal. Aber ich weiß wirklich nicht, ich hatte doch nur diese Vorladung …
Der Glatzkopf springt wieder auf. Glauben Sie im Ernst, dass wir Sie aus lauter Spaß vorladen, Hülsmann? Glauben Sie das wirklich? Denken wohl, wir hätten sonst nichts zu tun. Dabei fuchtelt er mit der Hand vor Hülsmanns Gesicht herum. Nein, nein, bilden Sie sich nur nichts ein!
Ich weiß doch wirklich nicht, versucht Hans Hülsmann noch einmal seine Unschuld zu beteuern. Dabei gibt er sich alle Mühe.
Wissen Sie, was ich an Ihrer Stelle machen würde, unterbricht der Glatzkopf und lehnt sich über den Schreibtisch.
Hans Hülsmann schüttelt den Kopf.
Ich würde schön ruhig sein und auspacken. Alles, verstehen Sie, alles!
Aber, … stottert Hülsmann.
Ich sehe, sagt der Mann, das hat keinen Zweck mit Ihnen. Naja, so können wir Ihnen auch nicht helfen. Helfen, sagt er wirklich. Hülsmann merkt sich diesen Satz genau.
Der Mann setzt sich wieder hinter den Schreibtisch. Das Kissen hatte er vorher unauffällig aufgehoben. Das, und dabei nickt der Mann, haben Sie sich alles selbst zuzuschreiben … Aber was, wirft jetzt Hülsmann laut ein. Was? Sie kommen sich wohl sehr wichtig vor Hülsmann, was? Der Glatzkopf lacht. Aber nichts für ungut. Sie werden es noch rechtzeitig zu spüren bekommen. Dabei füllt er einen Zettel aus. Und ich bin sicher, Sie denken an diesen Tag. Ich würde es auch an Ihrer Stelle. Den Tag sollten Sie nicht vergessen!
Hülsmann würde solche Tage auch so nicht vergessen. Er braucht keine Erinnerung. Denn Hülsmann hat ja sein Büchlein. Hier wird auch dieser Tag seine Erwähnung finden. Und Sätze wie: Dann können wir Ihnen auch nicht helfen. Oder: Das haben Sie sich alles selbst zuzuschreiben! Sätze, die keiner Erklärung bedürfen. Schreiben gegen das Vergessen, nennt das Hülsmann.
Also, sagt der Mann und lehnt sich über den Schreibtisch. Dabei streift die Spitze des braunen Binders über die Tischplatte. Ab sofort halten Sie sich zu unserer Verfügung. Was das heißt, muss ich Ihnen nicht erklären, die Stadt jedenfalls verlassen Sie nur noch nach unserer Genehmigung. Ich würde Ihnen raten, sich danach zu richten. Wenn nicht, dann müssen Sie mit Konsequenzen rechnen! Ich jedenfalls habe Sie gewarnt.
Hülsmann