Pappelallee. Andreas H. Apelt

Pappelallee - Andreas H. Apelt


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Zeiger der Wanduhr auf die Sechs rutscht. Dann ist es so weit.

      Angie drückt das Aluminiumtablett, auf das sie Kaffeekännchen, Tasse und Untertasse gestellt hat, in den schmalen Bauch und läuft durch das Lokal. Vorbei an dem klappernden Ventilator über dem Eingang, der alten Musikbox und den schwitzenden Wänden. Vorbei an den drängelnden Kohleträgern, die am Abend mit weißen Hemden und schwarzen Kragen im Luftikus erscheinen und den verblühten Damen in bunten Blümchenkleidern ihre Aufwartung machen. Vorbei an den Schlossern mit den zernarbten Händen, den verschwitzten Möbelträgern, übel riechenden Müllfahrern und den Zimmerleuten aus Michas Brigade, die ihre Fingerstumpen hinter gefüllten Gläsern verstecken.

      Angie! Ein Dutzend Augen laufen ihr nach, ihrem wehenden, hennagefärbten Haar, den schwingenden Hüften und den elegant gesetzten Schritten. Sie laufen ihr nach mit einem Blick, der vielsagender nicht sein kann. Vom Tresen bis hinten zum letzten Tisch, dem vor dem Klo. Angies Laufsteg, hat Hülsmann einmal gesagt, was Angie als Kompliment auffasste, sodass der Hülsmann das lieber nicht kommentierte. Und die Männer hinter den Biergläsern haben ihn ohnehin nicht verstanden, vielleicht weil sie sie gar nicht wissen, was ein Laufsteg ist.

      Am letzten Tisch bleibt Angie stehen, stellt Kaffeekännchen, Tasse und Untertasse ab und macht eine leichte Verbeugung. Dabei fällt ihr ein Lächeln aus dem Gesicht, das nicht nur ihre großen weißen Zähne zeigt, sondern auch die Augen leuchten lässt. Und das sind große Augen, rehbraune Kulleraugen. Dann zieht sie den kurzen Rock wieder gerade, kneift die Augen zusammen und wirft das Haar über die Schulter. So bleibt sie noch eine Weile stehen. Lange genug, dass die Männer im Gang und am Tresen sich noch das Feuchte aus den Mundwinkeln wischen können.

      Das eingefallene alte Männlein am Tisch nimmt kaum Notiz von seiner Bedienung. Ungerührt sitzt es da, im Anzug aus feinem Zwirn und mit einem großkarierten Binder. Nur langsam hebt es den greisen Kopf mit den herausgetretenen Backenknochen. Aber Chefs können sich das leisten. Die Angestellten mit Nichtbeachtung strafen.

      Jeder andere Gast hätte jetzt mindestens eine halbe Stunde auf Angies nächste Lieferung gewartet. Und das wäre noch eine milde Strafe. Denn Angie kann auch ganz anders. Schon bei einer Wiederholungstat würde der Gast schlichtweg verdursten!

      Aber Chefs dursten nie. Kaffee trinkend thront das alte Männlein an seinem Einzeltisch und schreibt Abrechnungen. Jeden Tag. Mindestens dreißig Jahre macht es das so, sagt der Wirt. Und der muss es als Sohn ja wissen. Irgendwann wird er auch mal am Ecktisch sitzen und den Chef spielen. Aber erst wenn sein Sohn den Tresen übernimmt. Doch das kann noch dauern. Können ja nicht loslassen, die Alten!

      Lothar nickt vom Tresen aus dem alten Mann zu.

      Auch der Mann nickt. Dabei hat er den langen, aber schmalen Raum im Auge. Und die Gäste.

      Ehrfürchtig schlagen die Männer einen großen Bogen um den Chef. Nur Angie, die schöne Angie, die den Kaffee bringt, darf an den Tisch. Die Uhr kann man danach stellen. Sonst bleibt der Tisch leer.

      Fünf Kellnerinnen hat der schon überlebt, sagen die Leute. Fünf Kellnerinnen in dreißig Jahren. Da sind die davor, als er noch am Tresen stand, gar nicht mitgerechnet.

      Aber so eine prallbusige mit großen braunen Augen war noch nie dabei, sagt einer der Zimmerleute mit den fehlenden Fingern.

      Zitternd führt der Alte die Tasse zum Mund. Über die weiße schmale Hand ziehen sich kleine rote Adern. Zwei dicke Goldringe glänzen. Aber wieder nippt er nur. Ein Kännchen pro Abend, zwei am Tag.

      Die Angie schafft er auch noch, flüstert eine der verblühten Damen vom Tresen und kichert.

      So ein knackiges junges Ding, schnalzt ein kräftiger Kohlenträger. Da würde ich nicht lange fackeln.

      Die Dame unterbricht ihr Kichern und macht große Augen. Von wegen, raunt sie den Mann an. Nicht mal berühren würdest du die!

      Der kräftige Kerl kratzt sich mit seiner rechten großen Pranke am Kopf. Der Kopf ist rot. Sagen muss er nichts mehr, denn die Umstehenden lachen schon. Und dann schauen sie neidisch auf den runden Stammtisch. Denn nur die Gäste am Stammtisch klopfen im höchsten Glücksrausch mal auf Angies Hintern. Natürlich nur, wenn das Trinkgeld stimmt.

      Aber das ist selten.

      Meistens lassen auch sie nur ihre Augen Angie nachlaufen, blasen nervös graue Qualmwolken in die Höhe und drücken sich an die kranke feuchte Wand hinter dem Stammtisch. Dort wo der Schimmel kniehoch steht.

      Die Wand hat die Blattern, weiß Schüller. Und der muss es wissen. Das ist in alten Häusern wie eine Seuche, erklärt er bedeutungsschwer. Dabei wedelt er sich mit seinem Hut frische Luft zu.

      Die Blattern!, lacht Lothar. Von wegen!

      Was denn sonst?, sagt Schüller.

      Ja, was denn sonst.

      Warum auch nicht. Also.

      Zu viel Wasser, sagen die Leute. Die Feuchtigkeit steigt aus den Grundmauern bis ins Erdgeschoss. Und wenn man wartet und nichts macht, steigt er auch noch weiter, hinauf bis zum ersten Stock. Dann ist der Putz wie ein vollgesaugter Schwamm, nur schwerer. Und zum Schluss fällt er ab. Da muss man aufpassen, dass man den Dreck nicht auf den Kopf bekommt. Kann nämlich schmerzhaft sein.

      Schöne Bescherung.

      Wenigstens die vielen Tierchen, die die Wand wie einen Fels erklimmen, fühlen sich wohl. So sagt es Angie, wenn sich einer über die kranke Wand beschwert. Ist schließlich nicht ansteckend.

      Wenn nur nicht immer der Gestank wäre.

      Gestank?

      Hat schließlich auch was, so ein süßlicher Geruch. Fast anziehend, sagt einer der Müllfahrer und atmet tief ein. Wie nach Verwesung.

      Verwesung, das hört sich auch nicht besser an! Da kann man auch gleich von den Blattern reden.

      Eben nicht, denn diese Verwesung hat noch eine andere Bedeutung. Das ist wie das geadelte Verderben. Und damit hat sie einen gewissen Charme. Aha! Aber so quer denkt nur einer im Luftikus, und der ist noch gar nicht da. Ja, der Hülsmann würde solche Erklärungen finden und dabei den Boden unter den Füßen verlieren. Künstler eben, Lebenskünstler noch besser.

      Also doch Verwesung, wiederholt der Mann von der städtischen Müllabfuhr.

      Und es riecht nach Liebe, ergänzt sein Nachbar. Fleisch, Schweiß und Liebe. Dabei kreist seine Zunge um den geöffneten Mund.

      Und das ist dann fast der Höhepunkt. Es sei denn, Angie kommt vorbei und hinterlässt den Duft eines unbekannten Parfüms. Und dieser Duft mischt sich mit dem Geruch nach Verwesung. Der Tod könnte süßer nicht sein.

      Kein Wunder, wenn einige der Gäste die Augen schließen. Und dabei das Luftikus verlassen, auf dem Weg ins Paradies.

      Da muss dann schon der Wirt selbst eingreifen. Von wegen Umsatz und so. Oder eine der Damen.

      Hört auf zu träumen, ertönt auch schon eine kräftige Frauenstimme. Wobei die Dame wohl ahnt, keinen Platz in dem Männertraum zu finden.

      So gehen die Augen wieder auf. Nicht im Paradies, sondern im Luftikus. Und dann ist sie schon da in ihrer ganzen Fülle. Gerda. Zu bieten hat auch sie was. Breite kräftige Arme, die sie quer über den Tisch legt und ein pausbäckiges rundes Gesicht, in das eine schwere Brille rutscht. Also meine Herren!

      Gut. Dann eben Gerda. Frauen sind im Luftikus ohnehin rar.

      Und Gerda ist zufrieden, trotz Konkurrenz. Muss ja nicht immer gleich ein Schieber sein oder gar ein Fleischermeister. Nach ein paar Doppelten sehen die Männer eh alle gleich aus.

      Der feuchten Wand hilft kein Doppelter. Sie kann ja nicht mal eine Tapete tragen! So haben es die Maler nach einer ausgiebigen Untersuchung festgestellt und es gar nicht mehr versucht. Den Tapetenkleister haben sie lieber gegen ein paar Frischpils vom Tresen und einem sensationellen Augenaufschlag von Angie getauscht.

      Vor die Wand schiebt man besser die Musikbox. Dann sieht man den Schimmel nicht mehr.

      Also


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