Pappelallee. Andreas H. Apelt
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Vier Schritte vor, vier Schritte zurück. Mehr kann der Mann nicht gehen. Dann endet der Raum. Der braune Linoleumboden nimmt die Schritte auf. Hohl und leer. Vier Schritte vor und vier Schritte zurück.
Irgendwann kann auch das ausgetretene Linoleum die Schritte nicht mehr ertragen und wirft die eintönigen Rhythmen gegen die weißen Wände. Die sind oberhalb eines fettigen braunen Ölpaneels in ein krankes Neonlicht getaucht. Von dort stürzen sie hinab, schlagen wie vollgeblasene Gummibälle erneut auf den Boden, um dann die gegenüberliegende Wand anzuspringen. Irgendwann holen sich Aufschlag und Echo ein. Wie bei einem Pingpong-Ball, den man in ein enges Gefäß wirft. So ist es mit den Schritten. Die laufen ihrem Echo nach und einem Mann, der ihnen nicht ausweichen kann. Die Schritte werden immer lauter und dröhnender.
Der Mann presst sich die kalten Handflächen gegen die Ohren. Nur wenn er stehen bleibt und an die hohe weiße Decke starrt, laufen die Schritte aus. Sie werden leiser und verlieren sich.
Auch das Herz des Mannes schlägt diese dumpfen nervösen Schläge. Er steht in einer Ecke des Raumes und versucht seine Gedanken an irgendetwas zu hängen. Aber alle Gegenstände hat er schon gemustert. Den großen Tisch mit der Sprelacartplatte, die wie eine große kahle Ebene über der Raummitte thront und die fünf hellbraunen Holzstühle, die sich in einer Reihe an das Ölpaneel drücken. Selbst die weißen Kalkwände hat er nach Spuren, Vertiefungen, winzigen Strichen, Rissen oder kleinen Erhebungen abgesucht. Alles in der Hoffnung, Zeichen einer fremden Welt zu finden. Umsonst.
Nicht mal Gedanken wollen hier bleiben, denkt er. Wenn man sie an etwas hängen will, gleiten sie darüber hinweg und entschwinden in der Ferne. Eine Leere bleibt zurück. Und diese Leere füllt ein unbestimmtes Gefühl. Man weiß nicht, woher es kommt, aber es ist da. Einfach da. Vielleicht ist es Angst, denkt der Mann. Sie kriecht in Stühle und Tische, in Wände und Lampen. Dort wehrt sie sich gegen die fremden Gedanken.
Zwangsläufig bleibt der Blick des Mannes an dem einzigen Bild hängen. Das Bild passt nicht zu dem Raum, denn der Mann, der darauf abgebildet ist, lächelt. Er lächelt, als wäre dieser, in weißem Neonlicht ertrinkende Ort, Teil einer vertrauten heilen Welt.
Der Mann unter dem Bild versucht dem lächelnden Blick auszuweichen. Aber egal wohin er sich auch stellt, ob er sich bewegt oder sitzt, der Mann auf dem Bild lässt seinen Blick nicht von ihm. Der Mann auf dem Bild ist ein Generalsekretär. So lässt er sich jedenfalls nennen, auch wenn keiner weiß, was eigentlich ein Generalsekretär ist und was er genau macht.
Auch der Mann unter dem Bild weiß es nicht und will es eigentlich auch gar nicht wissen. So geht er erneut vier Schritte. Vier Schritte nach vorn, vier Schritte zurück. Mehr lässt der Raum nicht zu.
Der Generalsekretär scheint die Unruhe nicht bemerkt zu haben. Sein Lächeln liegt vertraut über der Szene.
Erneut versucht der Mann sich dem Lächeln zu entziehen, stellt sich neben und auch unter das Bild. Es hilft nichts. Diesem Lächeln kann man sich nicht entziehen.
Der Mann schaut wieder auf seine Armbanduhr. 12 Uhr, denkt er. 12 Uhr steht auf der Vorladung. Jetzt ist es 15 Uhr. Und nichts geschieht. Immer nur warten. Er setzt sich auf einen der knarrenden Holzstühle. Dann schaut er auf seinen abgeschabten schwarzen Hut, der neben ihm liegt und den er bereits bei seiner Ankunft abgenommen hatte. Und er schaut erneut auf die Uhr, verfolgt den Sekundenzeiger drei ganze Runden und steht wieder auf. Der leere Raum verschluckt das Knarren des Stuhles. Jetzt geht er, die Hände tief in die Hosentaschen vergraben, im Raum auf und ab. Vier Schritte nach vorn, vier Schritte zurück. Niemand will sie hören. Denn das Haus, Schönhauser Allee 22, das den Namen Volkspolizeiinspektion führt, hat viele Zimmer und zählt viele Schritte.
Vorladung, heißt es. Zur Klärung eines Sachverhaltes. Mehr nicht. Aber Vorladung ist doch auch so viel. Nicht wie Einladung, nein, Vorladung! Das ist wie Vorzeigen, Vorsprechen, also kein Widerspruch!
Der Mann zieht die graue Vorladungskarte aus der großen Hosentasche seiner schwarzen Cordhose. „Diese Vorladung ist mitzubringen und unaufgefordert vorzuzeigen.“ So steht es.
Er streicht mit der Faust die zerknitterte Karte auf der weißen Sprelacartplatte gerade. „Sollten Sie der Aufforderung nicht Folge leisten, werden Sie zugeführt.“ Zugeführt, auch das ist so ein merkwürdiges und doch vielsagendes Wort. Deutsche Sprache, denkt der Mann. Zugeführt, so wie zuschließen, zumachen. Nicht führen, nicht geführt, sondern zugeführt. Dafür gibt es noch nicht einmal ein richtiges Substantiv.
Er dreht die Karte. Hans Hülsmann, Gethsemanestraße 5, 1058 Berlin, so steht seine Adresse mit blassen Schreibmaschinenlettern Buchstabe für Buchstabe in die graue Karte gehämmert. Daran gibt es nun wirklich keinen Zweifel. Auch wenn das Wort Gethsemane gar nicht auf so eine graue Karte passt. Wie auch, so ein biblischer Garten, in dem Jesus am Tag vor seiner Kreuzigung betete, hat doch nichts mit einer Volkspolizeiinspektion in Berlin-Prenzlauer Berg zu tun. Gar nichts.
Oder doch?
Also Hülsmann. Da sitzt er in diesem Raum und wartet. Wartet und wartet. Und atmet tief. Eine Luft, die nach Linoleum riecht, Reinigungsmittel, Bohnerwachs und nach Papier. In Aktendeckel gepresstes Papier, das Druckerschwärze und Tinte ausdünstet und Schweiß. Angstschweiß und Arbeitsschweiß.
Einen Moment lang überlegt Hülsmann, ob er sich nicht vielleicht doch der Vorladung hätte entziehen können. Diesem Gang von seiner kleinen Wohnung unweit der Gethsemanekirche, die den Prenzlauer Berg überragt, der Stargarder Straße und Schönhauser Allee entlang zu diesem vierstöckigen gelben Backsteingebäude. Am Eingang ist das Schild Volkspolizeiinspektion Prenzlauer Berg befestigt. Dabei, so denkt Hülsmann, war es einst ein Altenheim für bedürftige Juden. Doch nachdem die Bewohner und Pflegekräfte 1944 nach Theresienstadt deportiert wurden und das Gebäude bis zum Kriegsende leer stand, hat es eine andere Bestimmung. Und die macht noch heute Angst.
Vielleicht sind es die Uniformen, die im Haus aus- und eingehen, denkt Hülsmann. Uniformen machen immer Angst.
Kein Wunder, wenn Hülsmanns Wege zu diesem Haus stets große oder kleine Umwege sind. Die Pappelallee steht für so einen Umweg. Ausgerechnet die Pappelallee. Dabei ist der Name viel zu schön für einen Umweg. Die Straße ist es sicherlich nicht: graue Fassaden, vergilbte Ladenschilder, vom letzten Krieg gerissene Baulücken, Schlaglöcher und quietschende Straßenbahnen. Aber Hülsmann weiß auch um die Wege im Haus, vorbei am Pförtner, der als erster Ausweis und Vorladung sehen will. Und das mit diesem misstrauischen Blick. Also, Ihre Papiere! Mehr sagt der Mann hinter der kleinen ovalen Luke nie.
Muss er auch nicht, denn der prüfende Blick über die Brillengläser ersetzt jeden weiteren Satz.
Dann zum wachhabenden Offizier, der das Ritual gründlicher und misstrauischer wiederholt. Diesmal mit einem Blick, der vor Verachtung strotzt. Das jedenfalls glaubt Hülsmann, der die hochgezogenen Augenbrauen und das Wippen des uniformierten Körpers genau registriert. Und jene wegwischende Geste der rechten Hand. Freundlich interpretiert, denkt Hülsmann, ist es eine Beschreibung des Weges in das Wartezimmer. Dort wo er allein sein wird, allein mit sich und dem Lächeln des Generalsekretärs.
Das Fenster zum Hof ist normalerweise verschlossen, nur heute nicht. So kann Hülsmann an dem angeklappten Milchglasfenster und den Gitterstäben vorbei in den schmalen betonierten Hof sehen. Dort stehen Autos, auch Polizeiautos. Die Autos sind geputzt.
Was denn sonst!, hört er schon einen Uniformierten sagen. Sind doch nicht bei den Hottentotten.
Ja, die Ordnung, sagt Hülsmann leise und sein Blick geht über die Hofmauer.
Hinter der Hofmauer liegt der Jüdische Friedhof. Hier wurden die verstorbenen Heimbewohner beigesetzt. Auch der jüdische Stifter des Hauses, Manheimer. Sein Grab ist vom Fenster aus genauso wenig zu sehen wie das des Malers Max Liebermann.