Pappelallee. Andreas H. Apelt

Pappelallee - Andreas H. Apelt


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ihnen stehen Unkraut, Efeu und Rittersporn. Sie zeigen den Grad der Verwahrlosung an. Und des Vergessens.

      Was sind da schon drei Stunden, denkt Hülsmann. Drei Stunden gegen die Ewigkeit. Drei Stunden gegen das Vergessen.

      Hülsmann nimmt erneut auf einem der Holzstühle Platz und lehnt den Kopf nach hinten an die weiße Wand. So kann er mit geschlossenen Augen die Kälte des Steins spüren, die in seinen Kopf kriecht.

      Das Leben geht weiter, immer weiter, so oder so. Mit dieser Feststellung ist Lothar nicht allein. Schon gar nicht im Luftikus. Da wimmelt es geradezu von diesen Wahrheiten. Wahrheiten, die die Welt nicht braucht. Vielleicht Hülsmann, der sie vielleicht notieren würde in sein kleines Büchlein, das er unter seiner schwarzen Cordweste trägt. Aber der will sie heute auch nicht hören.

      Also Lothar. Ein langer schlaksiger Kerl mit einer ebenso auffallend langen Nase. Wohnt seit dreißig Jahren in der Lettestraße am Helmholtzplatz. Davor war er bei den Eltern. Stargarder, Ecke Dunckerstraße, erster Hinterhof. Aber nicht lange. Denn er war keine zwanzig, als sich der Vater totgesoffen hat. Die Mutter, eine Verkäuferin aus dem Konsum in der Pappelallee, brannte Mitte der Fünfzigerjahre mit einem anderen Mann nach dem Westen durch und ließ den Sohn mit einem Zettel zurück. Den fand er auf dem Küchentisch, als er vom Milchholen kam. Darauf stand, dass sie endlich einmal leben wolle. Er würde das schon später verstehen.

      Lothar verstand es auch später nicht. So kam er zunächst ins Heim, was damals nicht ungewöhnlich war. Nach der Lehre fand er dann bei einer Großtante ein Zimmer in der Gneiststraße ums Eck. Auch das gehört zum Pappelkiez. Was anderes kennt der lange Lothar nicht.

      Mit zwanzig heiratete er eine junge Frau, die er im Heim kennengelernt hatte. Sie war ein Flüchtlingskind und hatte den Vater an der Ostfront und die Mutter bei einem Bombenangriff auf Breslau verloren. Zur Feier tauchte sogar Lothars Mutter aus dem Westen wieder auf. Aber Lothar hat sie trotz des teuren Westgeschenks vor die Tür gesetzt. Soll man bleiben, wo der Pfeffer wächst!, hat er gesagt.

      Bereut hat er es bis heute nicht, auch wenn er manchmal an die Mutter denken muss. Zumal sie damals schon so krank war und an einer chronischen wie schmerzhaften Muskelentzündung litt. Vielleicht ist sie auch inzwischen gestorben. Herausfinden wird er es wohl nicht mehr.

      Viel herumgekommen ist der Lothar mit seinen fast fünfzig also nicht. Aber wer ist das schon im Kiez. Bis Köpenick hat es noch keiner geschafft. Fast keiner. Was ja auch nicht notwendig ist. Das Bier kommt da auch nur aus dem Hahn.

      Und so eine Molle im Luftikus, Berliner Pils versteht sich, ist ohnehin nicht zu verachten. Womit schon einmal klar ist, dass es sich beim Luftikus nicht um eine Wärmehalle handelt. Klar ist auch, dass jeder das Luftikus sagt, wo es doch eigentlich der Luftikus heißen müsste. Aber so ist das nun mal in der Pappelallee, wo auch das Luftikus ist. Mit grammatikalischer Akrobatik, wie es Hülsmann nennt, hat hier keiner was am Hut. Schon gar nicht, wenn es noch korrekt sein soll.

      Also das Luftikus!

      Noch Fragen?

      Besser nicht.

      Na bitte, geht doch! Beruhigt drehen sich die Männer am Tresen wieder dem Wirt zu.

      Im Luftikus jedenfalls, Pappelallee Nr. 80, überragt Lothar alle. Wirklich alle!

      Und das will schon etwas bedeuten, denn im Luftikus, was eigentlich eine Kneipe ist und so typisch wie der Kiez, gibt es viele Menschen. So viele, dass man am Abend Mühe hat durchzukommen. Durchzukommen?

      Ja, sozusagen.

      Naja, fast. Also Durchkommen, vom Tresen, der vorn rechts neben der Tür steht, bis zum Klo und wieder zurück, ist gar nicht so einfach.

      Vorbei an dem klappernden Ventilator über dem Eingang, der alten Musikbox aus den Fünfzigerjahren und den schwitzenden Wänden, denen das Wasser über das vernarbte Ölpaneel läuft. Vorbei an den verrosteten Garderobenständern, schäbigen Holztischen und Stühlen. Vorbei an dem kleinen Kachelofen in der Mitte.

      Und dazwischen die vielen Menschen mit ihren ebenso schwitzenden Leibern, stehend, sitzend, anlehnend, rauchend, trinkend, redend, schreiend. Nein, das ist gar nicht einfach. Schon gar nicht am Freitag und am Samstag. Dann nämlich, wenn es Tanz gibt. Richtigen Tanz. Nicht das Hula-hula-Zeug.

       Fährt ein weißes Schiff nach Hongkong.

       Hab ich Sehnsucht nach der Ferne.

       Aber dann in weiter Ferne.

       Hab ich Sehnsucht nach zu Haus.

      So und nicht anders. Tanz eben. Was eigentlich nichts Besonderes ist, schließlich wird ja nur die Musikbox zur Seite geschoben, damit genug Platz ist. Und einer muss natürlich eine Mark in die Box werfen, damit das Ding endlich in Bewegung kommt. Mit Hits der Fünfzigerjahre versteht sich. Danach setzte der Plattennachschub aus dem Westen aus. Und die Ostmusik wollte eh keiner hören. Aber wenn man dann schon mal beim Schieben ist, folgen, im Takt versteht sich, auch gleich noch die Frauen. Aber die heißen hier Weiber.

      Natürlich nur in den Armen ihrer galanten Tänzer. Nach dem fünften Pils und dem entsprechenden Kompott dazu, sind hier alle Männer galant. Da haben sich dann auch die Weiber nicht so. Männer sind eben Männer. Und Tanz ist Tanz, ob Schiebermaxe oder Walzer. Ob Elvis Presley oder Freddy Quinn. Also Prost.

      Der lange Lothar ist allerdings beim Tanzen nicht mehr dabei. Was wohl an seiner Alten liegt, die, obwohl noch gar nicht so alt, es nicht ertragen kann: Lothar im Luftikus! Denn Lothar ist immerhin Elektriker. Und bald hätte er es zum Meister gebracht. Aber nur bald, denn dann kam die Mauer. Und während das Luftikus auf seine Platten verzichten musste, konnte Lothar seinen Meister abschreiben. Genau wie seine Arbeit im Wedding. Und damit auch die Kohle, was schon eine Sauerei genug war.

      Statt Meister im Wedding, Prolet im Prenzlauer Berg, sagt Lothar und lächelt. Dabei weiß jeder, dass dem Langen bei diesen Gedanken gar nicht zum Lachen ist. Denn auch der Meister im Osten war ihm versagt, wo doch die Mutter im Westen war. Also Herr Laurisch, wo denken Sie hin, Verwandtschaft ersten Grades und dann auf unsere Kosten einen Meisterlehrgang. Vergessen Sie es mal schnell.

      Lothar kann aber nicht vergessen, auch wenn das schon über ein Vierteljahrhundert her ist. So was frisst sich doch in den Bauch und rumort. Da hilft dann nur noch ein Kräuterschnäppschen. Jedenfalls gut für den Bauch und den Kopf. Vor allem wenn die Erinnerung kommt. Also Prost, Lothar.

      Das Luftikus könnte somit eine Tanzbar sein. Ist es aber nicht. Trotz Freddy Quinn und dem weißen Schiff nach Hongkong. So was gibt es hier nicht im Prenzelberg, jedenfalls nicht in einer Seitenstraße der Schönhauser. Das Luftikus ist eine Kneipe, davon gibt es hier viele. Nicht groß und doch hat sie etwas Besonderes, denn sie versteckt sich im Pappelkiez, wie die Leute sagen. Aber vor wem?

      Keiner weiß es. Vielleicht ist es die große Schönhauser Allee mit dem Viadukt in der Mitte zwischen den Fahrspuren, über das die U-Bahn rattert. Also überirdisch! Und das in einem Tempo, dass selbst dem langen Lothar ganz schwindlig wird. Im Luftikus gibt es kein Tempo, hier steht die Zeit, selbst beim Tanz.

      Aber vielleicht sind es auch die Blicke des Generalsekretärs und seiner Helfershelfer, vor denen sich das Luftikus versteckt. Blicke, die sonst nie haltmachen. Nicht mal vor einer kleinen Kneipe im Prenzlauer Berg. Da könnte sich das Lokal noch so sehr hinter der verfallenen Fassade eines Mietshauses aus der Gründerzeit verkriechen. Aber was ist schon normal. Im Prenzlauer Berg ist nichts normal, sagen schon die Gäste, überhaupt nichts.

      Also findet im Luftikus nicht einmal der Generalsekretär Eingang. Der, der sonst jeden Weg kreuzt. Auf jedem Bahnhof, in jeder Schule, in jedem Krankenhaus, in jeder Behörde, selbst im Altersheim oder im Kaninchenzüchterverein. Immer ist er da.

      Nur eben hier nicht. Es gibt kein Bild des Generalsekretärs über dem Stammtisch und auch keines über dem Tresen. Auf das ewige Lächeln müssen die Gäste verzichten.


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