Auszeit mit Tine. Bernhard Spring

Auszeit mit Tine - Bernhard Spring


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      Tine zieht eine Schnute. „Na im Rucksack, das hättste dir doch denkn könn, Kindchen. Den wirste wo jetz nochema runnerholn müssn.“

      Der Zug fährt an und Tine ist damit beschäftigt, sich mir gemütlich zu machen. Erst lehne ich mich an sie, dann wechseln wir, je nach Stimmung. Wir kauen Kekse und trinken Wasser medium, was sie gern hat, weil es natürlich ist und reinigt, von innen. Sagt sie. Erst reden wir von unserem Ferienhaus, das sie noch nicht mal auf Fotos gesehen hat, dann von ihr und auch ein bisschen von mir. Wenn Tine von sich erzählt, kommen dabei viele Krankenschwestern und kleine kranke Kinder vor, was mich immer ein bisschen traurig macht. Kranke Kinder sind viel schlimmer als kranke Erwachsene. Außer wenn es Eltern sind, die sind genauso schlimm.

      „Möchtest du mal Kinder, wenn du groß bist?“, fragt mich Tine und diesmal sächselt sie nicht so sehr. Ich liege grad so mollig unter ihrem Arm und träume zum Fenster raus und muss jetzt nachdenken. „Zwei wären nicht schlecht“, sage ich und habe keine Ahnung, wann die kommen wollen. Die liegen da irgendwo hinter der dreißig auf der Lauer.

      „Warum nicht vier?“, bohrt Tine nach und stupst mir die Nase viermal an. „Eins sieht so aus wie du, eins wie ich, eins wie wir beide zusammen und eins müssen wir nach meiner Omi nennen.“

      Mir gehen die Augenbrauen von alleine hoch. „So viel Zeit haben wir doch gar nicht für so viele Kinder.“ Aber Tine kennt die Lösung schon. „Pass ma off, Kindchen. Ich wees ja nich, wie’s die annern Fraun machen, a’ar ich brauch nur neun Monate pro Stück. Un der Herr Dogdor der Jeschichde wird ja wo jenuch Zeit hamm, um ne kleene Windel zu wechseln oder n Kinnerlied zu summen, meenste nich?“ Und ehe ich etwas sagen kann, antwortet sie schon für mich: „Siehste!“

      Dann dauert die Fahrt doch ein bisschen lange und wir fühlen es. Ich sehe Tine zu, die Fingerabdrücke auf die Fensterscheibe macht und mir dabei erklärt, was ich sehe. „Da, guck mal, eine olle Windmühle. Damit haben sie Mehl gemahlen. Früher, als du noch Quark im Schaufenster warst. Und gucke mal da, da hinten, nee, jetzt ist es schon weg. Das war so ein Vogel, du weißt schon, so ein seltener.“

      Als ich wach werde, liest Tine Fotos aus so einem Frauenmagazin, in dem dünne und fehlgeschminkte und betrunkene Bekannte vorgestellt werden. Ganz in die Bilder vertieft, krault sie mir meinen Kopf. Ich möchte glatt wieder einschlafen oder wenigstens schnurren, um mich bei ihr zu bedanken, und als ich ihre Finger küsse, schaut sie mich ganz verschlafzimmert an. „Na, da kommt wohl jemand langsam in die Pubertät. Ob ich dich noch unter die Mädels lassen kann, ohne dass es Ärger gibt?“, fragt sie uns besorgt.

      Seit wir uns kennen, bin ich ihr Kindchen, und das obwohl ich drei Jahre älter als sie bin. Aber Tine hat nachgerechnet und festgestellt, dass sie die eigentlich Ältere ist. Und zwar wären Frauen eh immer um zwei Jahre voraus. Und in meinem speziellen Fall wäre das sogar noch schlimmer: drei Jahre, mindestens. So genau könne sie sich nicht festlegen, weil ich ziemlich mal so und mal so sei, seit ich im letzten September die Grundschule abgeschlossen hätte. „Das kommt vom Stress, Kindchen“, erklärte sie mir. „Du willst dich unter deinen neuen Klassenkameraden behaupten und da vergisst du dann halt manchmal, dass du schon abwaschen kannst. Aber bis zum Professorschlag hast du das ganz sicher wieder im Griff.“

      Als wir aus dem Zug ausstiegen, begrüßte uns ein sehr kleiner Bahnhof. Dahinter erstreckte sich eine Kuhweide, dahinter ein paar rote Ziegeldächer. Das also war Freibach. Und nach ein paar Hundert Metern war’s das auch schon wieder.

      „Mensch, Kindchen“, staunte Tine Bauklötze vor das Bahnhofshäuschen, „wie hast du denn das gefunden? Das Örtchen suchen die doch bestimmt schon seit der Völkerwanderung!“

      Aber ich hatte alles bestens geplant. Ich kannte das Ferienhaus, die große Überraschung, aus dem Internet und den Weg dorthin aus dem Brief vom Vermieter. Zweieinhalb Kilometer Luftlinie durch den Wald hinter Freibach, immer auf dem Feldweg lang. Nicht zu verfehlen, alles war bis ins letzte Detail durchorganisiert. Nur eins hatte ich vergessen: Tine musste ihren Rucksack bis dorthin tragen.

      Durch den Ort trug sie ihn mit Fassung. Sie nahm es positiv. „Jetzt sehen die hier mal, dass auch eine aus der Stadt ordentlich was weghucken kann.“ Auch weiter hinten, wo der Wald anfing, blieb sie gelassen. „Wenigstens ist es hier schön kühl, da brennt mir der Juli keine Streifen auf den Rücken.“ Ihr Lächeln hatte aber mittlerweile schon einen leicht verbissenen Zug und ich fürchtete um mein Leben, als ich ihn bemerkte. Ich hätte ihr vielleicht von der Steigung erzählen sollen, die noch vor uns lag. Als wir so weit waren, fiel Tines Kampfgeist wie befürchtet mit Anlauf bergab. „Sag mal, wo schleppst du mich denn hin? Ich bin doch kein Lama. Was machen wir? Pause oder in fünf Minuten da?“

      Ich schlug vorsichtig eine kleine Pause vor. Aber jetzt wollte es Tine genau wissen: Wie lange müssen wir noch das Gepäck für zwei Wochen durch die Pampa schleppen? Frauen mit unbeständiger Laune gegenüber sollte man diplomatisch auftreten, dachte ich mir. Ehrliche Antwort also: Etwas mehr als fünf Minuten dauert’s schon noch. Wie lang genau? Na, so etwa eine halbe Stunde vielleicht, aber vielleicht auch nur zwanzig Minuten noch. Ja, maximal zwanzig Minuten.

      Tine rieb sich die Schulter und sah mir direkt in die Augen. „Dann machen wir jetzt keine Pause, Kindchen. Das will ich jetzt hinter mich bringen, aber gnade dir Gott, wenn das länger dauert.“

      Zu meinem Glück kamen wir pünktlich bei dem Ferienhaus an, nach irgendwas zwischen vierzig Minuten und einer Stunde.

      „Meine Güte, da hast du mal einen echten Glücksgriff gemacht!“, freute sich Tine über das Haus und den Schuppen und alles Grüne drum herum. „Hier sieht es ja ganz wie im Märchen aus, so ganz ohne modern times und so.“ Ich strahlte ebenfalls, aber vor Stolz, weil es ihr so sehr gefiel. Es war ja ihre Idee gewesen, irgendwo in der Abgeschiedenheit Urlaub zu machen, wo es keinen Strom gab. Aber dass es hier dann auch tatsächlich so aussah wie unberührte Nostalgie, überraschte uns nun doch ein bisschen.

      Wir setzten unsere Rucksäcke ab und ich schloss das Gartentor auf. „Darf ich bitten?“, fragte ich und machte einen standesgemäßen Diener. „Darfst du, Kindchen, solange kein andrer vorbeikommt.“

      Mit federnden Beinen tanzte sie durch das Gatter, über die Wiese und auf die Terrasse vor das Haus. Dann ein Staunen. Das gute, alte Haus guckte uns ganz einladend durch ein großes Fenster an. „Das ist es“, präsentierte ich ihr unser Domizil. „Schön ist es, Himmel!“, raunte Tine und gab mir einen Kuss. „Aber jetzt sperr die Tür auf und spann mich nicht so auf die Folter!“ Also schloss ich, statt zu spannen. Und ich führte sie durch die Zimmer, die ich vom Prospekt her kannte, und überraschte uns beide mit der Wirklichkeit. Da war erst einmal ein schmaler Flur, der wie ein L im Haus lag. Am Hals vom Flur, etwas versetzt zur Haustür, kamen wir in das Wohnzimmer und fanden es perfekt. Die wichtigsten Erfindungen der Menschheit waren in diesem Raum versammelt: eine breite Bank, die um zwei Ecken ging, ein dicker Tisch, ein Bücherregal und, das Beste überhaupt, ein kleiner Steinofen für die Abende. Ich stellte mir schon einiges vor, während Tine die Küche am kürzeren Ende vom Flur-L inspizierte. „Junge, hier müssen wir mit Gas kochen. Da lass man lieber nur mich ran, sonst brauchen wir gar nicht erst auspacken“, rief sie durch das L.

      Hinter der Haustür, gleich links, führte eine schmale Treppe in das Dachgeschoss rauf, wo wir nur geduckt stehen konnten, so zuvorkommend kam uns die Decke entgegen. Da lagen drei Matratzen nebeneinander und sonst gähnte uns nur die Weite der Holzdielung an. Tine entdeckte den winzigen Balkon, der gehörig knarrte, als wir beide feststellten, wie weit man von ihm aus sehen konnte. Da lagen die anderen Berge unserem gegenüber, und zwischen allem, was wir aber vor lauter Bäumen nur ahnen konnten, schwabberte die Unstrut durch. „Hier kann man’s aushalten“, stellte Tine überzeugt fest. „Sogar mit dir.“

      Den Rest des Nachmittags verbrachten wir damit, uns häuslich einzurichten. Während ich die Rucksäcke über die Treppe hievte, zählte Tine das Besteck in der Küche ab und fand heraus, dass wir spätestens am nächsten Tag einkaufen müssten, um nicht zu verhungern. Dann half sie mir, die frisch gespannten Laken zu zerknittern, indem


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