Auszeit mit Tine. Bernhard Spring
das Terrassengeländer. Ich sehe ihr die Mühe an und wir sind uns einig, ab heute nur noch Badehosen zu tragen. Oder gar nichts, im Notfall.
Aber dann gibt es leider doch keinen Notfall, sondern Mittag. Viel Hunger ist nicht, dafür sind wir wegen der Wärme zu schlapp. Zu der Kartoffelsuppe, die ich aus zwei Dosen befreie, gibt es wieder mal Brotscheiben und blaue Trauben. Wir sehen uns den Holzstapel und die trocknende Wäsche an und siehe, es war gut.
SECHSTES KAPITEL
So ein Mittag in der freien Natur kann ausgesprochen scheintot sein und dabei juckt es uns so in den Beinen. Also müssen wir einen Spaziergang machen, uns diese wilden Beine vertreten, die eigentlich schlafen wollen, aber nicht können. Tine packt mir den Rucksack, in den unbedingt eine leichte Decke, viel Wasser medium und etwas zu Knabbern muss. Ein Kartenspiel darf auch mit hinein. Mit einem Tuch bindet sie sich die Haare ab und sieht richtig niedlich aus. Dann geht es los, Hand in Hand durchs schöne Land. Tine summt eine kleine Melodie und ich begreife, dass wir zwei es auch in weniger als achtzig Tagen um die Welt schaffen würden. Weil wir so verdammt glücklich sind.
Der Weg, der zur Stadt führt, gabelt sich am Weizenfeld. Da geht es einmal runter nach Freibach, wohin wir aber nicht wollen, das kennen wir ja schon. Und dann geht es zwischen dem Feld entlang, nur eine Treckerspur breit ins Unbekannte. Das ist unser Weg.
Zwischen dem Weizen gehen wir schweigend entlang. Es ist eine sehr zufriedene, wenn auch etwas tiefsinnige Stille. Ich denke daran, wie schön es ist, dass wir schlendern können. Und ob Tine auch so fürsorglich wäre, wenn sie keine Krankenschwester wäre? Ich glaube schon, dann wäre sie eben eine fürsorgliche Bauarbeiterin. Aber sie wäre immer sie und das ist beruhigend.
Am Ende der Felder steht wieder Wald und davor ein Dorf, als hätte es sich verlaufen. Wir können aber nicht sofort in dieses Großliebdorf einfallen, weil uns die Kirschbäume am Ortseingangsschild aufhalten. Unten im Gras liegen erst ganz wenige matschige Kirschen und Tine breitet die Decke aus. Sie beschließt Arbeitsteilung: Ich geh auf den Baum und werfe die Kirschen herunter und Tine isst sie auf und hängt sich die Zwillinge an die Ohren, um sich in meine persönliche Kirschkönigin zu verwandeln. Und wirklich: Als ich ihr die Kirschen von den Ohren knabbern darf und die Tine auf den Mund küsse, schmeckt sie ganz richtig nach Kirschen.
Da fühle ich mich plötzlich wie am Bein beleckt, und als ich mich danach umdrehe, kriege ich fast einen Herzinfarkt. „Der tut nichts!“, höre ich von fern einen Ruf, während Tine den Übeltäter gleich ganz süß findet und seinen strubbeligen Nacken krault. Der alte Mann, der den Weg entlangkommt, stellt sich zu mir vor unsere Decke hin und freut sich, dass sich Tine und sein Hund freuen. „Wie heißt der denn?“, fragt Tine. Und der Mann sagt: „Susi.“
„Das ist schon ein ganz altes Mädchen, meine Susi“, sinniert er, aber Tine sieht ihn leicht vorwurfsvoll an. „So was sagt man doch nicht über eine Dame!“, weist sie den Mann zurecht, der erst stutzt, aber dann breit lächelt. „Die hab ich jetzt schon eine halbe Ewigkeit bei mir auf dem Hof“, erklärt er und schaut mal zu mir, mal in Richtung Dackel. Dabei sieht er aus wie ein gutmütiger Opa, schlank bis eingefallen, leicht krumm, wirres, weißes Haar, aber ein freundliches Grinsen in den Augen. So ein alter Mann, mit dem man gern auf der Bank vorm Haus schwatzt, mit dem man aber lieber nicht ins Bad geht, weil es da nach altem Witwer aussieht. Irgendwas sagt mir, dass Susi ihm beim Hausputz auch nicht gerade eine große Hilfe sein wird.
„Und Sie sind nicht von hier?“, fragt er mich aus purer Höflichkeit, weil er die Antwort ja schon weiß. Wer so viele Jahre wie er die Feldwege um Großliebdorf durchstreift, kennt ja jeden Hasen und alle Igel.
„Wir versuchen Urlaub zu machen“, meint Tine von unten und hat gleich wieder den Dackel in der Mache. „Du süßer, kleiner Wauwau, du!“, säuselt sie und knuddelt ihm die Backen.
„Urlaub in der Natur also“, stellt der Mann fest und seufzt ein erhellendes „Aha. Und haben Sie schon viel gesehen, hier rundrum?“
„Na ja“, sage ich und denke an den Wald und die Wiesen und dass das alles für den lieben Kerl hier bestimmt nicht so ein Brüller ist wie für uns. „Wir wollten gerade hier ins Dorf, uns mal umschauen …“
„Da können Sie mich begleiten, wenn Sie wollen“, fällt er mir ins Wort und schon ziehen wir zu viert in sein Großliebdorf ein.
Der alte Mann heißt Herr Riemer und wohnt hier schon seit immer. Er hat einen sehr gemütlichen Gang, weil er lange Rentenjahre Zeit hatte, ihn einzustudieren.
„Früher hieß das noch Kleinliebdorf“, macht er bereitwillig den Fremdenführer. „Aber dann kam das ganze Land an die LPG und das Dorf wurde zu Großliebdorf. Und heute – na, das sehen Sie ja.“
Und wir sehen ja. Einen kleinen Wohnpark linker Hand ins Feld gestellt, frisch geteerte Straßen, eine schöne Bushaltestelle am breitesten Stück vom Fußweg und immer wieder ein paar alte Bauernhöfe mit imposant großen Torbögen. „Ich hab als Schlosser in Rotleben gearbeitet, unten an der Bundesstraße“, erklärt Herr Riemer. „Aber auch damals hab ich immer hier gewohnt.“ Er wandert mit uns einmal durch das ganze Großliebdorf, aus Mangel an Alternativen immer auf der Hauptstraße lang. Der alte Mann hat sogar Kinder, die weggezogen sind, um ihn ab und zu besuchen zu können. Seine Frau ist schon eine ganze Weile tot, weshalb er nur noch Susi hat, und so schließt sich das Gespräch. Mehr gibt es nicht zu sagen und auch nicht zu sehen. Die Häuser glänzen in der Sonne, die Leute sind wohl alle ausgeflogen zur Arbeit, nur wir vier und …
„Guck mal“, deute ich überrascht die Straße runter. „Der Junge!“
„Was für ein Junge?“, fragt Tine, die ja eh grad nur Augen für den Hund hat. Ich aber bin völlig durch den Wind. „Das ist der Junge, den ich heute im Wald gesehen habe.“
Herr Riemer kneift die Augen zusammen. „Das ist vom alten Schäfer Kanitz der Enkel. Michael Kanitz. Hat es auch nicht leicht.“
Das will ich genauer wissen, aber Herr Riemer winkt nur ab. „Das ist wieder eine ganz andere Geschichte“, sagt er und ist bald am Ende seines Rundgangs angelangt. Wir stehen vor seinem Haus. „Wenn Sie mal wirklich was von der Natur sehen wollen, dann können Sie ja mal mit auf meinen Hochstand kommen“, lädt er uns zum Abschied ein. „Wenn man Glück hat und Susi die Schnauze hält, ist das eine ganz schöne Sache.“
Tine ist gleich hellauf begeistert, schon allein, weil sie so das Hundchen noch mal wiedersehen kann, von dem sie gar nicht mehr loskommt. Wir sagen also zu. „Am nächsten Freitag wäre gut, treffen wir uns vorn an der Weggablung, so gegen zehn.“
Damit ist es abgemacht. Der alte Mann stellt sich ordnungsgemäß an sein Gartentor und winkt uns nach. Und wir drehen uns immer mal um und winken zurück, bis die Hauptstraße einen Bogen macht und wir uns aus den Augen verlieren.
Tine ist ganz vergnügt, weil wir uns so gut unterhalten haben, die Mädchen für sich und die Männer für sich. Und fragt mich immer wieder, ob ich nicht auch die Susi anstandslos toll fände. Und ob ich mir gemerkt hätte, wann und wo wir uns am Freitag treffen. Und was wir wohl mitbringen sollten? „Bestimmt keinen Wein, den mag er ganz sicher nicht, oder?“ Ja, lieber oder. Wir haben ja noch Zeit für andere Ideen.
Ich klettere noch einmal auf einen der Kirschbäume, um die Versorgung für unsere Rückreise zu sichern, und dann laufen wir zwischen dem Getreide entlang.
„So nachdenklich, Kindchen?“, meint Tine in unser Schweigen hinein.
„Mir geht der Junge nicht aus dem Kopf“, gestehe ich. „Was wohl mit dem los ist? Herr Riemer hat so komisch getan.“
„Ach ja?“, macht sie halb zärtlich, halb voll bitterer Ironie. „Dir geht der Junge nicht aus dem Kopf?“
„Na ja“, gebe ich zu, „irgendwie interessiert mich das.“
„Da weiß ich aber, wie wir dir helfen können“, sagt sie mit einem plötzlichen Elan und spaziert schnurstracks mit ihren Schlappen vom Weg ab. „Komm!“, ruft sie und schon tauchen wir in ein gelbes Meer aus