Auszeit mit Tine. Bernhard Spring
es unerträglich wird. Aber spannend war es trotzdem. Oder gerade deswegen. Wir müssen ja noch so viel erleben, und wenn wir unsere Wunschlisten miteinander vergleichen, wissen wir manchmal nicht, ob wir das alles zeitlich schaffen in unserem einen Leben. Wie gut, dass wir uns schon so jung gefunden haben!
SIEBENTES KAPITEL
Nach dem Baden und dem Abendbrot greift Tine in das kleine Bücherregal im Wohnzimmer und fischt eine alte Schwarte hervor. Dann wachsen wir uns unterm Dach zwei Kerzen auf einen Teller und ziehen die leeren Deckenbezüge über die Unterwäsche. Lesestunde ist angesagt. Tine will darüber zum Einschlafen kommen, weil sie eigentlich noch nicht richtig müde ist, aber Böll macht uns mit seinen Ansichten eines Clowns ganz traurig und deprimiert. „Ich dachte, da geht es um einen Zirkus oder so“, sagt Tine enttäuscht und legt das Buch schon nach der zweiten Seite wieder beiseite.
Da dümpeln wir nun also im Dachboden auf drei Matratzen verteilt rum, sind jung und frisch gebadet und könnten eigentlich zufrieden sein, aber uns liegt da leider diese halbe Liebesgeschichte vom ollen Böll im Magen. Und wie geht das mit uns mal weiter, lautet die böse Frage, die plötzlich unausgesprochen im Raum steht.
Und dabei hatten wir uns so fest vorgenommen, nur in ganz besonderen Ausnahmen an die Zukunft zu denken! Weil sie ja sowieso von ganz alleine kommt, egal, was wir über sie denken. Also wollen wir in den Tag hinein leben und uns keine Gedanken um uns machen, besonders nicht im Urlaub.
Das ist aber nicht immer leicht, gerade am Abend, wenn da so viel zwischen uns ist, dass es doch irgendwie mal gesagt werden muss, auch wenn uns die Worte dafür fehlen. Nur dass es etwas Großes ist, das wissen wir ganz bestimmt. Und dass es manchmal wehtut, auch weil es so groß und bedeutend ist. Wenn dann noch Bölls schwere Geschichte kommt, können wir gar nicht anders, als durch das dünne Tuch, das die Mücken fernhalten soll, über den Balkon und zum Mond hin verträumt zu gucken. Und dann fragen wir doch heimlich die Zukunft, was sie mit uns beiden vorhat, und wir bekommen ein bisschen Angst, weil sie nicht antwortet.
Die Stimmung kippelt bedenklich und ich kann mich nicht aufraffen, mich aufzuraffen. Da kitzelt mich Tine zum Glück in die Seite und ich muss wegzucken, wenn es stubenrein bleiben soll. Ich kitzle zurück, wir stänkern und zucken herum und lachen und da erwische ich den Kerzenteller mit dem Fuß. Tine schreit spitz auf, ich beuge mich über die züngelnden Flammen, puste kurz und wir sind in Sicherheit und im Dunkeln.
„Erst haust du die Kerzen um und dann löscht du den Flächenbrand“, stellt Tine verwundert fest. „Kindchen, Kindchen, da weiß ich jetzt vor Schreck gar nicht, ob ich dich loben oder in die Ecke stellen soll.“
„Ist ja nur ein kleiner Sachschaden“, beruhige ich sie und knauple mir das Wachs von den Fingern.
„Hm“, macht sie und ich höre, wie sie sich unter der Decke zurechtlegt. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die halbdunkle Bude.
„Auf jeden Fall bin ich jetzt wieder hellwach“, sagt sie nach einer Weile. Ich nicke gedankenversunken vor mich hin. Da fällt mir der Haufen Holzspäne ein, den ich am Mittag zusammengekehrt habe. Das Lagerfeuer!
„Du bist wo n bissl verrückt?“, fragt Tine ungläubig. „Hatten wir nicht grad eben Brand genug?“ Aber ein Stückchen will sie es schon wahrhaben.
„Komm“, bitte ich sie mit Hundeblick im Dunkeln und schmuse mich an sie heran, „wir können auch Brot rösten und was singen.“ Tine rappelt sich auf und ist gewonnen. „Na gut“, erklärt sie sich bereit. „Dann machen wir aber gleich richtig durch. Und ohne Singen, sonst verlass ich dich.“
Während sich Tine einen Pullover aus dem Klamottenberg sucht, bin ich schon auf der Terrasse und schichte eine hölzerne Pyramide zusammen. Nach dem kleinen Vorfall am Bett besteht Tine auf einen Eimer Regenwasser in der Nähe. Und weil ihr der Schreck doch noch ein bisschen in den Gliedern steckt, suche ich zur Sicherheit noch ein paar Sandsteine zusammen, die ich um das Holz kränze. „Nun reicht’s aber!“, befehle ich und Tine nickt demütig. Und rückt sogar ganz bereitwillig ihr Magazin raus, das nun als Feueranzünder herhalten muss. „Aber nicht die Seite mit den Sudokus“, sagt sie nur, „die hab ich noch nicht gemacht.“
Aber Tines entgleiste Bekannte taugen nicht zum Verfeuern. Die beschichteten Seiten vom Magazin kräuseln sich zusammen, die Flamme ist zu schwach. Ich denke an Böll, der bestimmt gut Zunder macht. Aber wir dürfen doch nicht jemand so Trauriges auch noch verheizen. Während ich noch etwas nachdenklich in der Landschaft stehe, wird Tine langsam ungeduldig. „Mach doch keene Wissenschaft draus, Kindchen!“, fordert sie schließlich. „Wie hasten Ofen anjemacht?“
„Mit Laub.“
„Na – und? Dann stell dich doch nicht so an.“
Also stell ich mich ab und eigentlich hat sie ja auch recht. Suche also etwas Laub zusammen, kokle ein bisschen vor mich hin und kurz darauf brennt die Terrasse kontrolliert ab. Tine legt ein paar Decken vor dem Haus aus, mummelt uns ein und dann gibt’s Wein und Röstschnitte am Spieß. Wir starren in die Flammen und bechern dabei, und flascheln schließlich. Tines Küsse schmecken erst nach lieblichem Dornfelder, dann nach irgendwas Fruchtigem aus Moldawien. Das Etikett kann ja kein Mensch entziffern, aber darauf kommt es ja auch nicht an.
Dann, als der Mond immer mal halbwegs von langsam vorbeiziehenden Wolken verdeckt wird, kommt die Zeit der Gruselgeschichten. Bei Tine geht es um sehr viel Dunkelheit und wenig Rettung, ich verlaufe junge Mädchen im Wald und böse Männer mit aufblitzenden Messern stechen immer daneben, um es spannender zu machen. Zum Schluss bin ich mir ganz sicher, dass so ein Dunkelmann oben in unserem Schuppen wohnt, und beschließe, demnächst dort mal nachzusehen. Tine lacht sich Mut an, auch über meine dämlichen Witze, und trinkt fleißig weiter. Den Frühburgunder macht sie fast im Alleingang nieder, als ich Holz nachlegen bin. Und dann ist sie so in Schwung geraten, dass sie gleich noch eine Flasche namens André entkorkt.
Das Brot knackt zwischen unseren Zähnen und krümelt uns unter die Deckendekolletés. „Trocken Brot macht Wangen rot“, kichert Tine albern in sich hinein. Und dann singen wir doch noch ein bisschen. Bob Dylan sitzt zwischen uns und hat auch Carole King mitgebracht, schade, dass ich nicht Gitarre kann. Wir singen mit halblauter Stimme, legen Scheit um Scheit nach, und wenn mal einer pinkeln muss, schwankt er verdächtig in die Nacht.
Irgendwann können wir nicht mehr singen, weil unsere Kehlen schlapp sind und uns die Texte ausgehen. Wir sacken zusammen wie zwei alte Indianer auf Nachtschicht. Fehlen nur noch die Pferde auf der Koppel und ein Little Bighorn im Hintergrund. Das Feuer prasselt vor sich hin, wird immer kleiner und kleiner und die Augen werden mir schwer. Wir lehnen nicht mehr aneinander, sondern sind zur Seite gerutscht, bis wir gemütlich zwischen Haus und Feuer liegen. Starren aus halboffenen Augen in die rote Glut und irgendwie glaube ich nicht, dass wir den Sonnenaufgang noch sehen werden.
ACHTES KAPITEL
Der nächste Morgen weckte uns viel zu früh mit seiner bissigen Kälte. Fröstelnd schlichen wir in das Wohnzimmer und machten uns am Ofen zu schaffen, um uns aufzuwärmen. Aber das half auch nicht viel, einschlafen konnten wir eh nicht noch einmal, es war schon zu hell.
„Junge, Junge“, murrte Tine mit zerstörter Miene, „du säufst ja schon für zwei.“
„Vorsicht“, knurrte ich müde in nicht besserer Stimmung. „In meinen Bauch passen definitiv höchstens zwei Flaschen Wein.“
„Deswegen ist dir die dritte Flasche auch zu Kopf gestiegen, Kindchen!“
Ein unschlagbares Argument.
Wir fühlten uns beide etwas verkatert, und weil wir mit so einem Haustier nicht unbedingt hinaus in die viel zu grelle Sonne wollten, blieben wir im Wohnzimmer liegen, wo wir uns träge umhersuhlten und unsere Kopfschmerzen bedauerten. Ab und an maulte Tine was und bekam eine ebenso gemaulte Antwort zurück, dann gab ein Wort das andere, es folgte ein kleiner Tritt oder ein Rest Röstbrot flog durchs Zimmer und dann war wieder Ruhe für eine Weile.
Tine bilderte durch