Affentanz. André Bergelt

Affentanz - André Bergelt


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sehr schön gelegen. Direkt am Ufer mit Blick auf den See. Ich fühlte mich in dieser Welt pudelwohl, baute im Wald Buden, spielte mit anderen Kinder ‚Räuber und Gendarm‘ oder fuhr mit Schlauchboot über den See. Auch zu unseren Nachbarn hatte ich ein ausgezeichnetes Verhältnis. Kaum, dass unsere Familie das Wochenende eingeläutet hatte, seilte ich mich ab und ließ es mir bei den Frauen der Offiziere gut gehen. Selbstgebackene Waffeln, Obstkuchen mit extragroßen Streuseln und Sahne oder eine hausgemachte Mischung aus Kakao und Zucker als Schokoladenersatz, mein Leben war ein zuckersüßer Traum.“

      Betty nickt mir lächelnd zu und nimmt sich meinen Tabak.

      „Nun, eines schönen Tages lief ich mit meinem Vater zum Strand. Mein Vater lief zu Fuß, ich fuhr neben ihm auf meinem neuen Kinderrad hin und her. Kurz vor dem See gesellte sich ein fremder Mann aus der Nachbarsiedlung zu uns. Er war in etwa so alt wie mein Vater und hatte ein Badehandtuch dabei.“

      Ich nehme einen kräftigen Schluck aus der Weinflasche und fahre fort: „Der Mann schaute zu mir und sagte plötzlich mit spöttischem Unterton: ‚Wetten, du schaffst es nicht, mit deinem Rad in den See zu fahren.‘ Ich war völlig durcheinander und sah den Mann verdutzt an. Wie sollte ich mich verhalten? Immerhin hatte mich dieser Erwachsene gerade herausgefordert. Ich sah also hilfesuchend zu meinem Vater, doch der sagte nichts. Also sah ich wieder zu dem fremden Mann, nahm seine Herausforderung an, schrie laut los und trat wie ein Bekloppter in die Pedalen.“

      Betty zündet sich die selbstgedrehte Zigarette an und sieht mich überrascht an.

      „Du bist aber nicht in den See gefahren? Sag nicht, dass du in den See gefahren bist?“

      „Nun, ich mobilisierte alle Kräfte, überholte jeden, der gerade auf dem Weg zum Strand war, umkurvte mehrere ausgelegte Badedecken, nahm noch einmal richtig Tempo auf, hielt auf einen kleinen Sandhügel zu, flog gute drei Meter durch die Luft, überschlug mich und krachte kopfüber mit meinem neuen Rad in den See. Die Leute am Strand sahen mir perplex nach. Sie müssen sich wohl ziemlich erschrocken haben. Als ich wieder auftauchte und allen klar wurde, dass mir nichts passiert war, lachte die Menge los. Der ganze Strand lachte mich aus. Da begriff ich, dass mich der fremde Mann verarscht hatte. Er hatte sich einen Spaß auf meine Kosten gemacht, und mein Vater hatte es nicht verhindert. Ich heulte los und schwor bittere Tränen vergießend Rache. Natürlich kam mir mein Vater zu Hilfe. Er nahm mich in den Arm, versuchte mich zu trösten. Doch egal, wie sehr er sich auch bemühte, mein Vertrauen gegenüber der Welt der Erwachsenen war beschädigt worden.“

      „Du Ärmster, da hat dir der Mann aber übel mitgespielt.“

      „Ja, aber er hat auch dafür bezahlt“, antworte ich und lehne mich zurück.

      „Wie, du hast du dich an ihm gerächt? Wie denn das? Hast du ihm in seine Blumenrabatten gepinkelt oder auf die Terrasse gekackt?“, fragt Betty.

      „Ich habe gar nichts gemacht. Ich habe ihn nur jeden Abend beobachtet. Zwei Wochen später hat er sich dann beim Holzmachen ins Bein gehackt. Wäre seine Nachbarin, eine völlig verlotterte Sufftante, nicht rechtzeitig aus ihrer Bude gekommen, er wäre wohl jämmerlich auf seinem Grundstück verblutet.“

      Betty sieht mich mit großen Augen an und fragt: „Du hast zugesehen, wie er sich ins Bein gehackt hat und hast keine Hilfe geholt?“ „Natürlich habe ich keine Hilfe geholt. Damals gab es ja noch keine Handys oder Notrufsäulen. Außerdem durfte ja niemand wissen, dass ich da war und ihn beobachtet hatte. Am Ende hätte meine Vater noch geglaubt, ich hätte etwas mit der Sache zu tun gehabt.“

      Betty nimmt mir die Weinflasche ab, steht auf und fragt: „Und wie alt warst du da?“

      „Fünf oder sechs Jahre alt“, antworte ich.

      Betty schüttelt sich vor Lachen.

      „Meine Güte, du bist ja ein richtiger Psychopath.“

      „Findest du?“

      Ich nehme mir meinen Tabak und fange an, mir eine zu drehen. Betty nimmt einen großen Schluck aus der Flasche, sie reicht mir den Wein und sagt: „Du hast ihm nicht geholfen und er wäre deswegen fast verblutet. Klar, du warst enttäuscht, weil er dich vor all diesen Leuten am Strand verarscht hatte. Das hat dir sicher wehgetan. Aber Erwachsene handeln nun mal oft unverantwortlich. Sie sind unfair, verlogen und einige sind sogar bösartig. Unsere ganze verdammte Gesellschaft ist so. Und ehe du dich versiehst, bist du selbst erwachsen und lügst fleißig mit.“

      Ich stelle den Wein beiseite, zünde mir meine Zigarette an, sehe zu Betty und antworte: „Auf Lügen und Selbstbetrug fahre ich nicht so ab. Was hat man denn davon, wenn man sich selbst betrügt?“

      „Aber wenn du in den Zoo gehst, machst du dir da nicht auch etwas vor? Diese Bühne hat doch nicht wirklich was mit der realen Welt zu tun. Sie ist ein künstlich erschaffenes Biotop, ein trügerisches Theater voller geliehener Emotionen.“

      „Aber die Menschen, die in den Zoo gehen, und die Musik, die dort gespielt wird, beides ist doch tatsächlich existent“, halte ich dagegen.

      „Vieles ist tatsächlich existent und dennoch nichts weiter als ein wackliges Konstrukt.“

      „Das klingt alles so abgeklärt“, stelle ich ernüchtert fest.

      Betty zuckt mit den Schultern, greift wieder nach der Weinflasche und sagt: „Der Drang, sich was vorzumachen, ist in jedem von uns. Dieser Drang schützt uns. Ohne ihn gäbe es keinen Club, keine Musik, keine Wissenschaften und womöglich auch keine Liebe. Letztlich steht doch alles, was sich der Mensch erdacht hat, auf sehr dünnen Beinchen.“

      Ich inhaliere den Rauch meiner Zigarette.

      „Findest du wirklich, dass ich mir was vormache?“

      Betty sieht mich einen Moment lang an, sie zuckt mit den Schultern und antwortet: „Diese Frage kann sich jeder nur selbst beantworten.“

      Wieder reicht Betty mir die Weinflasche. Ich nehme einen kräftigen Schluck und parke die Flasche zwischen meinen Beinen.

      „Und Liebe ist deiner Meinung auch nur ein Konstrukt?“

      Betty nickt. Ich sehe sie fasziniert an und beiße mir auf die Lippen. Betty nimmt ihre Arme zur Seite hoch, dreht sich ein paarmal um sich selbst und trällert: „Kann denn Liebe Sünde sein? / ​Darf es niemand wissen, wenn man sich küsst, / ​wenn man einmal alles vergisst vor Glück?“

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