Der Würger im Strohsack. Bernd Kaufholz
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Bernd Kaufholz
Der Würger im Strohsack
Authentische Kriminalfälle
mitteldeutscher verlag
Inhalt
Vorwort
Zum dritten Mal sind Adalbert Winter und seine Leute von der Magdeburger Bezirksmordkommission unterwegs, um spektakuläre Morde zwischen Seehausen in der Altmark und Benneckenstein im Harz aufzuklären. Diesmal sind es die Jahre 1963 bis 1972, in denen die Ermittler Zeugen befragen, Kriminaltechniker jede noch so kleine Spur untersuchen, Verhörspezialisten Tatverdächtigen auf den Zahn fühlen und Rechtsmediziner sowie Psychiater versuchen, Licht in neun spektakuläre Fälle zu bringen, die in Magdeburg, Oschersleben Genthin, Burg, Stendal, Klötze und Zerbst die Menschen erschütterten.
Und trotz der aus heutiger Sicht einfachen Möglichkeiten, die es damals speziell auf dem Gebiet der Kriminaltechnik/-wissenschaft gab – der genetische Fingerabdruck war noch nicht „erfunden“ – klärten die Mordermittler beinahe jedes Tötungsdelikt auf.
Bekannte Namen, die bereits aus den beiden vorausgegangenen Büchern mit authentischen Kriminalfällen („Der Beilschlächter von Osterwieck“, 2007, und „Der Muttermörder mit dem Schal“, 2008) bekannt sind, begegnen den Lesern erneut. Andere Kriminalisten aus den Kreisen tauchen zum ersten Mal auf. Die Ermittler, Staatsanwälte und Richter sind mit Klarnamen aufgeführt. Bei den Tätern wurden die Nachnamen hingegen frei erfunden.
Breiten Raum in diesem Buch nimmt der Lehrermord von 1964 im Kreis Burg ein. Er gehörte bereits in der DDR zu den Fällen, die in Polizeischriften und Psychiatrieblättern breit dargestellt wurden, weil sie nicht zur Norm der Tötungsdelikte gehörten. Der Täter war erst 15 Jahre alt. Mord von gerade Strafmündigen gehörte damals zu den ganz seltenen Fällen – was sich bis heute nicht geändert hat.
Oft werde ich gefragt, warum ich die alten Fälle aus DDR-Zeiten wieder „ausgrabe“? Darauf gibt es drei Antworten: Zum Ersten geht es mir darum, auf Fälle aufmerksam zu machen, die zwar von Mund zu Mund gingen – was oft zur Legendenbildung beitrug – über die jedoch kaum zuverlässig berichtet wurde. Zum Zweiten möchte ich zeigen, mit welchen Mitteln, Methoden und mit welcher Akribie die Kriminalisten zu dieser Zeit ihre Fälle lösten.
Das dritte Anliegen hat meine Eichsfelder Kollegin, die Diplomjournalistin Christine Bose, in ihrer Rezension zum „Muttermörder“-Band auf den Punkt gebracht: „Schon heute kann das Buch als (DDR-)Geschichtsdokument angesehen werden, findet doch der Leser darin Alltagssituationen dargestellt, die jetzt bereits kaum noch denkbar sind: So wurde viel mehr gelaufen, geradelt, auch Moped gefahren, ganz einfach deshalb, weil den meisten Bürgern kein PKW zur Verfügung stand. Für jugendliche Leser mag es seltsam erscheinen, dass Nachbarn oder auch Fremde, um telefonisch die Polizei zu rufen, zunächst dorthin laufen mussten, wo es ein Telefon gab: Das befand sich, außer in einer Telefonzelle beispielsweise in einer Gaststätte oder einem Betrieb.“
Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre.
Hinweis: Die mit Sternchen (*) versehenen Namen in den Geschichten wurden geändert.
4.240 Gramm
„Hier ist ein Umschlag von der Staatsanwaltschaft für Sie, Genosse Hauptmann.“ Mit diesen Worten legt der Diensthabende im Magdeburger Polizeikreisamt dem Arbeitsgruppenleiter AK 3 am Nachmittag des 19. Juni 1963 einen braunen A4-Umschlag auf den Schreibtisch. Kripohauptmann Müller öffnet das Couvert und schaut sich die Unterlagen an. Darunter ist ein Obduktionsbericht der Gerichtlichen Medizin der Medizinischen Akademie. Auf acht Seiten haben Oberarzt Dr. Friedrich Wolff und Assistenzärztin Dr. Margot Laufer die Ergebnisse der Öffnung der Leiche eines drei Monate alten Kindes notiert.
Und was der erfahrene Kriminalist liest, lässt ihn nicht kalt. Einige Worte und Sätze unterstreicht er: „Reduzierter Ernährungszustand“, „erheblich verschmutzt“, „ungepflegter Eindruck“, „Unterkörper in hohem Maße verunreinigt“, „Fettpolster an der Brust- und Bauchhaut nur schwach entwickelt“. Dann der entscheidende Satz: „Die Sektion allein ergab keinen Anhalt für eine sichere Todesursache, insbesondere nicht für einen natürlichen Tod auf Grund eindeutiger Organbefunde. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich jedoch um die Folgen einer erheblichen Vernachlässigung des Säuglings im Hinblick auf Wartung und Ernährung.“
„4.240 Gramm Gewicht“, schüttelt Müller den Kopf. Eigentlich hätten es fast 1.800 Gramm mehr sein müssen, entnimmt er dem Protokoll. „Erheblich reduzierter Ernährungszustand (Dystrophie).“
Und bevor er es noch schwarz auf weiß auf Seite 7 liest, denkt der Kriminalist: „Gewaltsame Einwirkung in Form einer Kindesvernachlässigung liegt vor – keine Frage.“
Dann schaut er sich die Fotos an, die vor der Obduktion vom Leichnam gemacht wurden. Sie zeigen einen kleinen Jungen mit tief eingesunkenen Augen und fast schwarzen Augenringen, einem faltigen Hals wie bei einem alten Mann und eine deutlich sichtbare Einschnürung oberhalb des Bauchnabels.
Dann liest Müller das Anschreiben von Staatsanwalt Rudolph: „Hiermit weise ich an, in der Sache Klaus Birr* sofort Ermittlungen aufzunehmen und ein Ermittlungsverfahren wegen Totschlagsverdachts und Vernachlässigung der Fürsorgepflicht einzuleiten. Die Bekleidung des Kindes befindet sich noch bei der Staatsanwaltschaft und ist von dort abzuholen. Personalien des verstorbenen Kindes sind noch nicht bekannt.“
Eine Woche zuvor. In der Nacht vom 11. zum 12. Juni weint Klaus, der jüngste Nachwuchs der nunmehr sechsköpfigen Familie, beinahe ununterbrochen. Gegen 3 Uhr steht Hanna Birr* auf und misst Fieber. Das Quecksilber steigt sofort auf über 40 Grad „Du, Klaus hat Fieber“, ruft die 24-Jährige ihrem Ehemann zu. Doch Joachim Birr* dreht sich nur grunzend auf die andere Seite und schläft weiter. „Typisch“,