Der Würger im Strohsack. Bernd Kaufholz
Joachim Birr wirft seiner Ehefrau vor, sich mit anderen Männern herumzutreiben. Kurz nach den Osterfeiertagen hatte seine Vermutung erneut Nahrung bekommen. Im Briefkasten lag ein mit „Adolf“ unterzeichnetes Schreiben, das an seine Frau adressiert war. Darin bat der Absender um ein Foto und fragte, warum Hanna ihm nicht auf seinen ersten Brief geantwortet hätte. Von dem Schreiben hatte die 24-Jährige nichts erfahren, denn Joachim Birr hatte das Schriftstück behalten.
Zur Eifersucht des Ehemannes gesellt sich chronische Geldnot, weil der 27-Jährige auf Grund seiner häufigen Fehlstunden schon einige Male entlassen wurde.
Hanna Birr holt Tücher und hält sie unter kaltes Wasser. Sie macht dem Kind, dessen Kopf hochrot ist, Wadenwickel. Dabei kommt ihr der letzte Streit wieder in den Sinn. Ihr Ehemann hatte geschimpft: „Der Junge ist doch sowieso nicht von mir, und ich muss ihn trotzdem durchfüttern.“
Auf einmal glaubt die 24-Jährige einen Ausweg aus ihrer ehelichen und finanziellen Misere gefunden zu haben: „Das Kind muss weg. Dann klappt es auch wieder mit Joachim. Dann können wir die ganzen Sachen auslösen, die wir in den letzten Monaten auf die Pfandleihe geschafft haben.“ Sie entschließt sich, mit dem Kind nicht zum Arzt zu gehen, sondern es einfach sterben zu lassen.
Einen Überblick über die vielen Pfandscheine, die sie in einer kleinen Kiste aufbewahrt, hat sie schon lange nicht mehr. Seit Oktober 1962 hat sie alles, was sich zu Geld machen ließ, versetzt: Wäsche, Bekleidung Federbetten, Tischdecken, ein 24-teiliges Besteck, sogar ihren Regenschirm, zuletzt im Mai und Juni dieses Jahres zwei Anzüge ihres Mannes – insgesamt 45 Pfandbelege. An manchen Tagen ging Hanna Birr zuerst zur Pfandleihe, ehe sie den Kindern Milch kaufen konnte.
Entsprechend sieht die Eineinhalbzimmerwohnung im ersten Stock der Magdeburger Materlikstraße aus. Da die Familie seit Monaten kein Gas- und Stromgeld bezahlt hat, wurden die Anschlüsse gesperrt. Die Kochstelle ist ein so genannter Allesbrenner in der Küche – neben einem alten Eisenherd der einzige Einrichtungsgegenstand in diesem Raum.
Ihr Schlafzimmer haben die Birrs schon vor einigen Monaten an einen Altwarenhändler verkauft. Damit sie nicht auf dem Fußboden schlafen müssen, hatte ihnen der Mann ein altes Eisen- und ein Holzbett billig überlassen. Ein Draht- und ein Kleinstkinderbett sowie ein Vertiko, eine Wäschetruhe, ein Wäschekorb und ein Regal vervollständigen die Einrichtung des zwölf Quadratmeter großen Raums.
„Wenn Klaus weg ist, haben wir ja immer noch drei Kinder“, versucht die junge Frau ihr Gewissen zu beruhigen. „Die haben es dann besser.“
Am nächsten Morgen ist das Fieber des Babys nicht mehr ganz so hoch wie in der Nacht. Doch trinkt es weniger als üblich aus der Flasche – erst die Hälfte, dann kaum noch. Zumeist liegt der kleine Junge in einer Art Dämmerzustand in seinem Bettchen.
„Du musst mit Klaus zum Arzt gehen, wenn es ihm nicht gut geht“, sagt Joachim Birr an diesem Tag seiner Frau. „Und was soll ich mit den anderen drei machen?“, fragt sie. „Auf die kann meine Mutter aufpassen“, antwortet ihr Mann. Doch das will Hanna Birr nicht. Sie schüttelt den Kopf: „Du weißt doch, dass deine Mutter immer dann etwas vor hat, wenn sie mir mal die Kinder abnehmen soll. Wie damals, als ich zum Zahnarzt die Kinder mitnehmen musste, weil deine Mutter keine Zeit hatte, aufzupassen. Bleib du doch mal zu Hause.“
Das jedoch lehnt ihr Ehemann kategorisch ab. Ihm war vor einiger Zeit vom Wasserwerk wegen Arbeitsbummelei gekündigt worden und nur der Fürsprache seiner Frau hatte er es zu verdanken, dass er wieder eingestellt wurde. Mit harten Auflagen. „Dann musst du die Kinder eben mit zum Arzt nehmen“, will er das Gespräch beenden. „Dann gehe ich nicht“, fährt ihn seine Ehefrau an.
Nachdem ihr Mann aus dem Haus ist, hört Hanna Birr auf, das Kind sauber zu machen und zu windeln. Sie weiß, dass das Baby nicht mehr lange leben wird. Es ist nur noch ein Schatten seiner selbst.
Als ihr Mann abends von der Arbeit kommt, fragt er, ob sie beim Kinderarzt war. „Klaus hat ganz ruhig geschlafen“, verneint sie. „Das wird schon wieder.“
Hanna Birr ist mit ihrem Leben schon lange nicht mehr zufrieden. In den zurückliegenden Wochen ist sie beinahe jeden Abend aus ihrer ungemütlichen Wohnung geflüchtet, in der sie doch nur alleine war, weil ihr Mann erst spätabends und dann oft angetrunken aus der HO-Gaststätte „Express“ nach Hause kam. Sie spazierte häufig bis Mitternacht am Schleinufer, an der Elbe oder den Fürstenwall entlang.
Männerbekanntschaften suchte sie eigentlich nicht, aber als Mitte Juni ein Pkw-Fahrer anhielt und sie ansprach, war sie nicht abgeneigt. Als der Mann in den Vierzigern gegen 21.30 Uhr sein Auto neben ihr parkte, stand die 24-Jährige an der Mauer des Reichsbahndirektionsgebäudes, unweit der Elbe. „Bist du lebensmüde? Willst du ins Wasser gehen?“, fragte er sie.
Sie kamen ins Gespräch und die junge Frau erzählte, dass sie abends immer allein sei. „Dann können wir uns ja mal wiedersehen“, sagte der Kavalier. Doch Hanna Birr meinte nur, dass sie für vier Kinder sorgen müsse und immer erst abends die Wohnung verlassen könne, wenn die Kinder schliefen. Ob sie vielleicht am Alten Markt einkaufen gehe, wollte der Mann wissen. Und man sich nicht dort mal treffen könnte.
Am 21. Juni 1963 war es zufällig wirklich zu einem Zusammentreffen gekommen. Als Hanna Birr den kleinen Konsum schräg gegenüber dem historischen Rathaus verließ, stand plötzlich die Schleinufer-Bekanntschaft vor ihr. Die beiden sprachen eine Weile miteinander und der Mann fragte die 24-Jährige, ob sie sich am nächsten Dienstag gegen 21 Uhr an der Elbe treffen wollen. Die junge Frau sagte zu. Sie hoffte darauf, sich aussprechen zu können – über ihre familiären Probleme, ihre Geldsorgen … Doch dazu war es nicht mehr gekommen.
Am 14. Juni geht Hanna Birr zum Wasserwerk in Magdeburg-Buckau, wo ihr Mann arbeitet. Sie verlangt vom Lohnbuchhalter die Kindergeldkarte. „Ich ziehe mit den Kindern zu meinen Eltern in den Kreis Wanzleben. Ich will mich scheiden lassen“, erklärt sie. „Mein Mann verbraucht das Kindergeld ja doch nur für sich.“ Franz Stranitzky* kennt die junge Frau. Sie hat schon öfter bei ihm vorgesprochen. Und er weiß, dass die Familie ständig Geldsorgen hat. Er gibt ihr die Kindergeldbescheinigung und 80 Mark Kindergeld.
Zwei Tage zuvor hatte Hanna Birr 50 Mark Abschlag vom Lohn ihres Mannes haben wollen. „Der ist vom Saufen gekommen – ohne sein Fahrrad – ich muss jetzt eine neues kaufen“, lautete ihre fadenscheinige Begründung. Doch Geld hatte sie nicht bekommen.
Am 13. Juni war sie mit einer Vollmacht ihres Mannes aufgetaucht und wollte 30 Mark haben. Als der Buchhalter nach den Gründen für die leere Kasse fragte, antwortete die Bittstellerin, dass sie ihr Ehemann zu knapp halte und sie sogar zu Leuten schicke, um Geld zu borgen. Stranitzky versprach ihr, mit der Betriebsgewerkschaftsleitung zu sprechen, damit ihr der Lohn ihres Mannes ausgezahlt wird.
Als die 24-Jährige am Nachmittag des 14. Juni wieder nach Hause kommt, liegt Klaus im Sterben. Sie stellt sich vor das Bett und sieht zu, wie der erst drei Monate alte Junge noch einige Male nach Luft schnappt und dann mit weit aufgerissenen Augen an die Zimmerdecke starrt.
Die 24-Jährige nimmt das tote Kind aus dem Bett, geht damit auf den Hausflur und ruft laut nach ihrer Schwiegermutter, die im selben Haus wohnt. Doch die ist nicht daheim. Nur eine Nachbarin öffnet ihre Wohnungstür. „Mein Kind ist gestorben“, zeigt sie das kleine Bündel vor. „Dann musst du einen Arzt rufen, wegen des Totenscheins“, sagt die Frau.
Um 18.30 Uhr erscheint Dr. Herbert Frohse* in der Materlikstraße und stellt den Totenschein aus. Dem Arzt fällt nichts Besonderes an der kleinen Leiche auf. Doch der Sanitätsrat benutzt einen falschen Vordruck. Das bemerkt eine Standesbeamtin, die darauf umgehend Petra Dörries* von der Abteilung Mutter und Kind beim Rat der Stadt Magdeburg informiert. „Die Oma des Kindes hat uns den Totenschein gebracht“, merkt die Mitarbeiterin des Standesamts noch an, „und dabei hat sie sich so komisch geäußert: Wir sollten uns das Kind mal genauer ansehen.“
Dörries setzt sich sofort mit dem Arzt in Verbindung und veranlasst die Überführung der Leiche zur Pathologie der Medizinischen Akademie. An der Obduktion nimmt wegen des Anfangsverdachts auf Dystrophie (Ernährungsstörung) auf Grund von Kindesvernachlässigung ein Staatsanwalt teil. Im neuen Totenschein vom 17. Juni 1963 wird als Todesursache