Der Würger im Strohsack. Bernd Kaufholz

Der Würger im Strohsack - Bernd Kaufholz


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in Eilsleben, Kreis Wanzleben. 1953 begann die junge Frau bei der Konsumgenossenschaft Wanzleben eine zweijährige Lehre als Verkäuferin.

      Das erste Mal mit dem Gesetz in Konflikt kam Birr 1957. Sie leitete damals den kleinen Lebensmittelkonsum in Gehringsdorf im Kreis Wanzleben. Gleich bei der ersten Inventur wurde ein Fehlbetrag von 8.000 Mark festgestellt. Der Fall wurde angezeigt und das Kreisgericht Wanzleben verurteilte sie zu einer Haftstrafe von neun Monaten. Außerdem wurde sie in Höhe von 1.700 Mark in Regress genommen. Nach sieben Monaten öffneten sich für die Frau die Tore des Halberstädter Gefängnisses wieder.

      Ihren Ehemann lernte sie 1958 bei einer Betriebsfeier kennen, 1959 heiratet das Paar. Im Dezember desselben Jahres wurde ihr erstes Kind geboren, die zweite Tochter 1961, das dritte Kind ein Jahr später, 14 Monate danach Klaus.

      Am 24. Juni 1963 wird Hanna Birr von Kripo-Leutnant Kühnhardt verhört. Sie räumt ein, dass Klaus in der Nacht vom 11. zum 12. Juni hohes Fieber gehabt hat. „Der Junge hat geschrien, und ich habe knapp 40 Grad gemessen.“

      Was es mit der tiefen Einschnürung am Bauch des Kindes auf sich habe, will der Kriminalist wissen. „An der Gummihose, die im Bund zu knöpfen ist, sind die Knöpfe abgegangen. Weil ich keine Lust hatte, sie wieder anzunähen, hab ich die Hose mit einem Gummizug zugeschnürt. Der war wohl zu eng.“ Eine „schlechte Absicht“ habe sie damit jedoch nicht verfolgt.

      Hanna Birr räumt ein, nichts unternommen zu haben, als ihr Sohn mehr und mehr die Nahrung verweigerte – und sie gibt zu: „In vollem Bewusstsein, dass er sterben muss.“

      Noch am Tag des Verhörs wird die Tatverdächtige in Untersuchungshaft genommen. Beim Hafttermin vor dem Kreisgericht des Stadtbezirks Magdeburg-Mitte bekräftigt die Beschuldigte, dass sie ihr Kind „beseitigen“ wollte. „Ich wollte, dass mein Kind stirbt und unterließ bewusst, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen“, sagt sie Richter Wiedemann. „Klaus umzubringen, das war mein Entschluss – nur meiner allein.“

      Einen Tag später wird auch gegen den Ehemann, Joachim Birr, ein Ermittlungsverfahren eröffnet. Ihm wird „Vernachlässigung der Fürsorgepflicht und Misshandlung Abhängiger“ vorgeworfen. Kripo-Hauptmann Müller vom Polizeikreisamt begründet das damit, dass der 27-Jährige „den größten Teil seines Verdienstes in alkoholische Getränke umsetzte und somit seine Frau und seine Kinder in Not und Elend zurückließ“. Durch seine Handlungsweise sei es zur schweren Unterernährung seiner Kinder gekommen.

      Am 3. Juli wird Joachim Birr verhört. Der Kohleasche-Fahrer geht sofort in die Offensive: „Ich möchte gleich zugeben, dass ich meiner Familie gegenüber äußerst unverantwortlich gehandelt habe.“ Er habe laufend die Arbeitsstelle gewechselt, gebummelt und sei deshalb längere Zeiträume ohne Arbeit gewesen. 500 Mark habe er monatlich ausgezahlt bekommen. Davon habe er „große Teile“ für sich behalten „und verbraucht“. Er habe seine Frau des Öfteren aufgefordert, „Geld borgen zu gehen“, wenn es mal wieder hinten und vorn nicht reichte. „Um meine Kinder habe ich mich nie gekümmert.“

      Seine Eifersucht allerdings sei begründet gewesen, beteuert er seinen Vernehmern. Neben Kühnhardt ist das diesmal noch Hauptmann Winter, der Chef der Mordkommission. Als Beispiel führt er den „Liebesbrief“ an, den seine Frau nach Ostern bekommen hat. Den Absender habe er zwar nicht lesen können, weil er in deutscher Schrift verfasst worden sei, aber der Inhalt sei mit lateinischen Buchstaben geschrieben worden. „Ich erkannte, dass es ein Liebesbrief war. Außerdem waren Herzen darauf gemalt.“

      Und auch, dass sich seine Frau am Schleinufer mit einem Mann getroffen habe, sei ihm von einer Freundin seiner Frau hintertragen worden. „Sie ist mit ihm zum Fürstenwall gegangen und hat sich dort längere Zeit mit ihm unterhalten.“ Seine Frau habe abends immer noch einmal das Haus verlassen, sei ihm aufgefallen. „Ungefähr 14 Tage vor dem Tod von Klaus hatte sie einen Knutschfleck am Hals.“

      Nach der Vernehmung wird auch gegen Joachim Birr Haftbefehl erlassen.

      Fünf Tage später kommt es zur Gegenüberstellung des Ehepaars. Den Ermittlern geht es darum, Licht in das Dickicht von gegenseitigen Beschuldigungen zu bringen und herauszubekommen, ob an den „Männerbekanntschaften“ Hanna Birrs etwas dran ist. Die junge Frau bestreitet erneut, Männerbekanntschaften angeknüpft zu haben. Beide beschuldigen sich gegenseitig, nicht mit Geld umgehen zu können.

      Die Eltern von Hanna Birr sagen aus, dass ihre Tochter „keine gut Ehe geführt“ habe. „Mein Schwiegersohn ist ein Arbeitsbummelant. Darunter hat die Ehe zu leiden“, erklärt ihr Vater. Zuerst sei der Haushalt der Tochter sauber gewesen, erläutert er Hauptmann Winter. Nachdem das vierte Kind da war, sei der Haushalt in Unordnung geraten. „Wir haben Hanna so gut es ging unterstützt. Haben ihr Geld gegeben und Lebensmittel.“

      Dass es mit der Sauberkeit in der Birr-Wohnung immer weiter bergab gegangen ist, bestätigt eine Nachbarin und ehemalige Freundin Hanna Birrs: „Kurz nach ihrer Heirat, damals hatte sie nur ein Kind, sah alles sehr ordentlich und sauber aus.“ Als sie im Februar 1962 die Räume gesehen habe, sei sie „sehr enttäuscht gewesen“. „Schmutzig und schlechte Luft“, fasst sie ihren Eindruck gegenüber Hauptmann Winter zusammen.

      Die neugierige Nachbarin war es auch, die dem Ehemann den Tipp mit der „Schleinufer-Bekanntschaft“ gegeben hatte. „Am 8. Juni 1963 habe ich Hanna Birr von meinem Wohnungsfenster aus beobachtet, als sie gegen 20 Uhr neben der Reichsbahndirektion stand. Ein Mann mit Fahrrad sprach mit ihr. Dann schob er sein Rad am Gebäude lang. Meine Bekannte ist durch ein Loch im Zaun gestiegen und ging zum Fürstenwall.“ Sie habe genau gesehen, dass der Mann Frau Birr hinterhergefahren sei. „Ich bin den beiden dann mit meiner Schwägerin gefolgt, um zu sehen, was sich da abspielt. Wir haben gerade noch gesehen, dass sie aus einem Gebüsch herauskamen.“

      Sie habe ihre Freundin gefragt: „Das ist wohl dein Freund?“ Doch sie habe nur geantwortet: „Der ist doch verheiratet. Guck doch, der hat doch einen Kindersattel am Rad.“

      Über die Verhältnisse innerhalb der Familie in punkto Kinderbetreuung gibt ein Schriftwechsel zwischen der Mordkommission und dem Säuglingsheim der Stadt Magdeburg in Heyrothsberge Auskunft. Am 25. Juni 1963 war dort das zweitjüngste Kind, Hans-Joachim, eingeliefert worden. Heimarzt Dr. Thal schreibt, dass der Eineinhalbjährige „körperlich stark verschmutzt“ und in „zerrissener, verdreckter Kleidung“ aufgenommen wurde. „Am 29. Juni wurde das Kind ärztlich untersucht. Es wog bei der Aufnahme 7.600 Gramm, war also stark untergewichtig.“ Zudem habe der Junge einen „verstörten, ängstlichen und zurückgebliebenen Eindruck“ gemacht.

      Am 30. Juli wird die Untersuchungsgefangene Hanna Birr noch einmal eindringlich zu eventuellen Männerbekanntschaften befragt. Und diesmal räumt sie „zwei Bekanntschaften wegen des schlechten Eheverhältnisses und insbesondere wegen des laufenden Alkoholgenusses“ ihres Mannes ein. „In einem Falle habe ich einen jungen Mann auf der Karl-Marx-Straße vor dem ,Blitzgastronom‘ kennengelernt und war mit ihm einige Wochen befreundet“, gibt sie nun an. Den zweiten jungen Mann – einen Lkw-Fahrer – habe sie am Schleinufer getroffen. „Er hat mich dann ein paar Mal mit dem Kipper mitgenommen.“ Geschlechtliche Beziehungen habe es jedoch mit beiden nicht gegeben.

      Anfang August wird Joachim Birr zum letzten Mal verhört. Diesmal vom Staatsanwalt. Birr gibt zu, bemerkt zu haben, dass Klaus wenige Tage vor seinem Tod „etwa nur noch die Hälfte seiner Flasche trank“ und dass das Baby „unsauber und wund zwischen den Beinen“ war. Er habe sich jedoch nicht weiter darum gekümmert. „Ich tat dies absichtlich nicht, obwohl ich erkannte, dass das Kind gröblichst vernachlässigt wurde.“ Er habe deshalb nichts für den Jungen getan, weil er glaubte, dass es seine Frau mit anderen Männern treibe. Ihm sei bereits damals der Gedanke gekommen, dass Klaus auf Grund der Vernachlässigung sterben könnte. „Ich hätte den Tod verhindern können.“

      Am 12. September 1963 beginnt vor dem I. Strafsenat des Magdeburger Bezirksgerichts die Hauptverhandlung gegen das Ehepaar. Und bereits einen Tag später verkündet Oberrichter Richter die Urteile: Acht Jahre Haft wegen Totschlags für Hanna Birr. Joachim Birr muss wegen fortgesetzter Vernachlässigung der Fürsorgepflicht in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung fünf Jahre ins Gefängnis. Die Zeit der Untersuchungshaft wird angerechnet.


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