BOY'S LIFE - Die Suche nach einem Mörder. Robert Mccammon
Der Meteor, so stellte sich heraus, musste auf seinem feurigen Weg aus dem Weltall zu Asche verbrannt sein. Ein paar Kiefern hatten Feuer gefangen, aber Sonntagnacht begann es zu regnen und das Feuer erlosch. Montagmorgen, als die Schulglocke läutete, regnete es immer noch und der Regen fiel den ganzen langen, grauen Tag. Am darauffolgenden Sonntag war Ostern, und Mom sagte, dass sie hoffte, der Regen – welcher der Vorhersage nach mehr oder weniger die ganze Woche über fallen sollte – würde am Samstag nicht die Merchants Street Osterparade verderben.
Am frühen Karfreitagmorgen, ab ungefähr sechs Uhr oder so, begann in Zephyr stets eine andere Art von Parade. Sie fing in Bruton an, in einem kleinen Holzhaus, das lila, orange, rot und sonnengelb gestrichen war. Eine Prozession dreier schwarzer Männer in schwarzen Anzügen, weißen Hemden und Krawatten ging von einer Gruppe strenggekleideter Frauen und Kindern gefolgt von Haus zu Haus. Zwei der Männer trugen Trommeln und schlugen einen langsamen, gleichmäßigen Rhythmus, der den Schritten den Takt setzte. Die Prozession marschierte über die Eisenbahnschienen hinweg und die Merchants Street entlang durch die Stadt und niemand sagte ein Wort. Da es ein alljährliches Ereignis war, kamen viele der weißen Einwohner von Zephyr aus ihren Häusern, um an den Straßen entlang zuzuschauen. Meine Mutter gehörte dazu, nur mein Dad war um die Zeit bereits auf der Arbeit. Ich ging meist mit ihr, denn ich verstand die Bedeutung dieser Parade genau wie alle anderen.
Die drei schwarzen Männer, die den Umzug anführten, trugen Jutesäcke. Um ihre Hälse hingen über der Krawatte Ketten aus Bernsteinperlen, Hühnerknochen und den Schalen kleiner Flussmuscheln. An diesem Karfreitag waren die Straßen nass und der Regen rieselte herunter, aber die Mitglieder der schwarzen Parade hatten keine Regenschirme. Sie sprachen mit niemandem auf den Gehwegen und gaben keinem Antwort, der so unhöflich war, sie anzusprechen. Ich sah Mr. Lightfoot in ungefähr der Mitte des Umzugs gehen, und obwohl er jedes weiße Gesicht in der Stadt kannte, sah er weder nach rechts noch links, sondern starrte dem Mann, der vor ihm marschierte, auf den Rücken. Marcus Lightfoot war in den zusammengehörenden Kommunen Bruton und Zephyr ein wichtiger Mann, ein Handwerker, der jedes der menschlichen Erfindungsgabe entsprungene Ding reparieren konnte, auch wenn er im selben Tempo wie wachsendes Gras arbeitete. Ich sah Mr. Dennis, den Schulhausmeister. Ich entdeckte Mrs. Velvadine, die in unserer Kirchenküche arbeitete, und ich sah Mrs. Pears, die im Merchants Street Bake Shoppe stets lachte und fröhlich war. An diesem Tag war sie allerdings todernst und hatte einen Regenhut aus Plastik auf.
Das hinterste Ende der Prozession, noch nach den Frauen und Kindern, bildete ein dürrer Mann in schwarzem Frack und Zylinder. Er trug eine kleine Trommel und seine schwarz behandschuhten Hände markierten mit ihrem Schlagrhythmus den Takt. Die meisten Menschen waren an diesem kühlen, verregneten Morgen rausgekommen, um diesen Mann und seine Frau zu sehen. Seine Frau würde später kommen; er marschierte allein mit nach unten gekehrtem Gesicht.
Wir nannten ihn den Mondmann, weil wir seinen richtigen Namen nicht kannten. Er war sehr alt, aber wie alt genau, war unmöglich zu sagen. Außerhalb von Bruton sah man ihn bis auf diesen Umzug äußerst selten, genau wie seine Frau. Ein Geburtsfehler oder eine Hautkrankheit hatte eine Seite seines langen, schmalen Gesichts hellgelb gefärbt, während die andere Seite dunkel wie Ebenholz war. Die beiden Hälften trafen sich in einem Krieg der Farbflecke auf seiner Stirn und seinem Nasenrücken, sowie dem weißbärtigen Kinn. Der rätselhafte Mondmann trug an beiden Handgelenken zwei Armbanduhren, und ein vergoldetes Kruzifix von der Größe eines Schinkens hing an einer Kette um seinen Hals. Wir nahmen an, dass er der offizielle Taktgeber der Parade war und auch eines der königlichen Mitglieder.
Der Umzug wand sich Schritt für Schritt durch Zephyr zur Gargoylebrücke über dem Tecumseh River. Die Parade dauerte ihre Zeit, aber dieser Anblick war es wert zu spät zur Schule zu kommen. Deswegen begann der Unterricht am Karfreitag auch nie so richtig vor zehn Uhr.
Als die drei Männer mit den Jutesäcken die Mitte der Brücke erreicht hatten, hielten sie an und verharrten wie schwarze Statuen. Der Rest des Umzugs schloss so dicht wie möglich auf, ohne die Brücke zu blockieren, obwohl Sheriff Amory entlang der Strecke Sägeböcke mit Warnlichtern aufgestellt hatte.
Einen Moment später fuhr ein Pontiac Bonneville, der von der Kühlerhaube bis zum Kofferraum mit glänzendem Strass bedeckt war, von Bruton aus langsam auf derselben Strecke wie die Parade die Merchants Street entlang. Als das Auto in der Mitte der Gargoylebrücke angekommen war, stieg der Fahrer aus und öffnete die hintere Tür und der Mondmann nahm die faltige Hand seiner Frau entgegen und half ihr heraus.
Die Lady war da.
Sie war dünn wie ein Schatten und genauso dunkel, hatte eine Baumwollwolke weißer Haare. Ihr Hals war lang und königlich, ihre Schultern gebrechlich, aber ungebeugt. Sie trug kein wildgefärbtes oder -geschnittenes Kostüm, sondern ein einfaches schwarzes Kleid mit einem silbernen Gürtel, weiße Schuhe und einen weißen Pillbox-Hut mit Schleier. Ihre weißen Handschuhe reichten ihr bis an die knochigen Ellbogen. Als der Mondmann ihr aus dem Auto half, spannte der Fahrer einen Regenschirm auf und hielt ihn über ihren königlichen, uralten Kopf.
Die Lady, so erzählte man sich, war im Jahre 1858 geboren. Damit musste sie hundertsechs Jahre alt sein. Meine Mom sagte, dass die Lady in Louisiana eine Sklavin gewesen und vor dem Zivilkrieg mit ihrer Mutter davongelaufen war und sich in den Sumpf geflüchtet hatte. Die Lady war in einer Kolonie aus Leprakranken, entflohenen Häftlingen und Sklaven im Bayou bei New Orleans aufgewachsen, und das war, wo sie alles gelernt hatte, was sie wusste.
Die Lady war eine Königin und Bruton war ihr Königreich. Niemand außerhalb von Bruton – und niemand in Bruton, soviel ich wusste – kannte sie unter einem anderen Namen als »die Lady«. Er passte zu ihr; sie verkörperte durch und durch Eleganz.
Jemand reichte ihr eine Glocke. Sie stand und starrte auf den gemächlich fließenden braunen Fluss hinunter. Langsam begann sie die Glocke hin und her zu schwenken.
Ich wusste, was sie tat. Meine Mom wusste es auch. Alle, die zuschauten, wussten es.
Die Lady rief das Flussmonster aus seiner schlammigen Villa heraus.
Ich hatte das Monster namens Old Moses nie gesehen. Als ich neun Jahre alt war, meinte ich, in einer Nacht nach einem Sturzregen, als die Luft so dicht wie Wasser war, Old Moses rufen gehört zu haben. Es war ein dunkles Grollen gewesen, wie die tiefste Note einer Kirchenorgel, so tief, dass man sie in seinem Knochenmark spürt, bevor die Ohren sie auffangen. Das Geräusch schraubte sich zu einem heiseren Brüllen hoch, das die Hunde der Stadt durchdrehen ließ. Und dann war es weg. Es hatte kaum fünf, sechs Sekunden lang angedauert. Am nächsten Tag gab es in der Schule kein anderes Gesprächsthema als dieses Geräusch. Ben und Davy Ray meinten, dass es das Pfeifen eines Zuges gewesen war. Johnny verriet seine Gedanken dazu nicht. Meine Eltern sagten, dass es der Zug auf der Durchfahrt gewesen sein musste, aber später fanden wir heraus, dass der Regen über zwanzig Meilen von Zephyr entfernt ein Schienenstück weggespült hatte und dass der Frachtzug nach Birmingham in jener Nacht gar nicht gefahren war.
So etwas wirft Fragen auf.
Einmal wurden unter der Gargoylebrücke die Überreste einer Kuh angetrieben. Ohne Kopf und Eingeweide, erfuhren mein Vater und ich von Mr. Dollar, als wir zum Haareschneiden gingen. Zwei Männer, die kurz hinter Zephyr vom Ufer Netze nach Flusskrebsen auswarfen, verbreiteten ein Gerücht über eine menschliche Leiche, die an ihnen vorbeigetrieben war; mit sperrangelweitem Brustkorb wie eine offene Sardinenbüchse und abgerissenen Armen und Beinen. Aber es wurde stromabwärts nie eine Leiche gefunden. In einer Oktobernacht rammte irgendetwas eins der Fundamente, auf denen die Brücke stand, und hinterließ Risse in den Stützpfeilern, die mit Zement gefüllt werden mussten. »Ein großer Baumstamm« lautete Bürgermeister Swopes offizielle Erklärung im Adams Valley Journal.
Die Lady läutete ihre Glocke, bewegte ihren Arm wie ein Metronom. Sie begann zu singen, überraschend klar und laut. Der Gesang bestand nur aus afrikanischen Worten, die ich ungefähr so gut verstand wie Nuklearphysik. Ab und zu hielt sie inne, legte den Kopf zur Seite, als hielte sie nach etwas Ausschau oder horchte, und dann fing sie wieder an die Glocke zu schwingen. Nicht ein einziges Mal sang sie den Namen »Old Moses«. Sie wiederholte ständig »Damballah, Damballah, Damballah«, und dann schraubte ihre Stimme