BOY'S LIFE - Die Suche nach einem Mörder. Robert Mccammon
Sie nickte, woraufhin der Mondmann die Glocke entgegennahm. Die Lady sah mit starren Augen zum Fluss hinunter, aber was sie dort sah, wusste ich nicht. Dann trat sie einen Schritt zurück und die drei Männer mit den Jutesäcken stellten sich an die Brückenbrüstung. Aus den Säcken holten sie in Papier und Klebeband eingewickelte Päckchen heraus. Das eine oder andere Papier war blutdurchtränkt, und man konnte den Kupfergeruch von frischem Fleisch riechen. Dann fingen sie an, das blutige Mahl auszuwickeln und warfen die Steaks, Bratenstücke und Rippchen in das wirbelnde braune Wasser. Ein ganzes gerupftes Huhn fiel in den Fluss, sowie Hühnerinnereien, die aus einem Plastikbecher geschüttet wurden. Kälberhirn rutschte aus einer grünen Tupperware-Schüssel und nasse rote Rindernieren und Leber aus einem der feuchten Päckchen. Ein Glas mit eingelegten Schweinefüßen wurde aufgedreht und der Inhalt platschte ins Wasser. Das letzte Stück war ein Rinderherz, größer als die Faust eines Boxers. Es klatschte in den Fluss wie ein roter Stein. Dann machte die Lady wieder einen Schritt nach vorn, wobei sie aufpasste, nicht auf dem Blut auszurutschen, welches auf den Asphalt getropft war.
Mir kam der Gedanke, dass gerade eine ganze Menge Sonntagsdinner ins Wasser gefallen waren.
»Damballah, Damballah, Damballah!«, sang die Lady noch einmal. Vier oder fünf Minuten lang beobachtete sie bewegungslos, wie der Fluss unter der Brücke hindurchströmte. Dann gab sie einen langen Seufzer von sich, und als sie sich zu ihrem Strass-Pontiac umdrehte, erhaschte ich hinter ihrem Schleier einen Blick auf ihr Gesicht. Sie runzelte die Stirn; was sie auch gesehen oder nicht gesehen hatte, stimmte sie nicht froh. Sie stieg ins Auto, der Mondmann folgte ihr, der Fahrer machte die Tür hinter ihnen zu und setzte sich ans Steuer. Der Pontiac fuhr bis zu einer Stelle, an der er wenden konnte, und setzte sich dann in Richtung Bruton in Bewegung. Die Prozession marschierte die gleiche Strecke zurück, die sie gekommen war. Normalerweise wurde nun viel gelacht und geredet und die Mitglieder des Umzugs blieben stehen, um sich unterwegs mit den weißen Zuschauern zu unterhalten. An diesem Karfreitag aber hatte sich die ernste Stimmung der Lady verbreitet und niemandem schien nach Lachen zumute zu sein.
Ich wusste ganz genau, um was es bei dem Ritual ging. Jeder im Ort wusste es. Die Lady warf Old Moses seinen alljährlichen Festschmaus zum Fraß vor. Wann das begonnen hatte, wusste ich nicht; es war schon lange ein Brauch gewesen, bevor ich überhaupt zur Welt kam. Vielleicht findet ihr es heidnisch oder Teufelswerk wie Reverend Blessett von der Freedom Baptist Church, und denkt, dass es der Bürgermeister und Stadtrat hätten verbieten sollen, aber genügend Weiße glaubten an Old Moses, um sich gegen die Beschwerden des Predigers durchzusetzen. Es war nicht viel anders als eine Hasenpfote als Glücksbringer anzusehen oder sich Salz über die Schulter zu werfen, wenn man welches verschüttet hatte. Es war einfach etwas, das zum Leben gehörte und das man zur Sicherheit machte, nur für den Fall, dass Gottes Wege unerklärlicher waren, als wir Christen begreifen konnten.
Am Tag danach regnete es noch stärker und Donnerwolken schoben sich über Zephyr. Die Osterparade der Merchants Street wurde zum großen Bestürzen des Kunstvereins und der Handelskammer abgesagt. Mr. Vandercamp Junior, dessen Familie der Futtermittel- und Baumarkt gehörte, verkleidete sich schon seit sechs Jahren als Osterhase und fuhr steht im letzten Auto der Parade mit. Er hatte diese Rolle von Mr. Vandercamp Senior geerbt, der zum Herumhüpfen zu alt geworden war. An diesem Ostern ertränkte der Regen jedoch jegliche Aussichten, einige der von diversen Ladenbesitzern und ihren Familien aus den Autos geworfenen Schokoladeneiern zu ergattern. Die Damen des Sunshine Clubs konnten weder ihre Osterkleider, Gatten noch Kinder zur Schau stellen, Zephyrs Kriegsveteranen konnten nicht hinter der Flagge hermarschieren und die Confederate Sweethearts – Mädchen, die die Adams Valley Highschool besuchten – konnten weder ihre Reifröcke anziehen noch ihre Sonnenschirme drehen.
Ostern dämmerte grau in grau heran. Mein Dad und ich mochten es beide nicht, wenn wir uns mit gestärkten Hemden, Anzügen und polierten Schuhen fein anziehen sollten. Mom hatte auf unser Grummeln stets die gleiche Antwort. »Es ist ja nur der eine Tag«, lautete ihr Spruch, als fühlten sich der steife Kragen und Krawattenknoten dadurch bequemer an. Ostern war ein Tag, an dem die ganze Familie zusammenkam. Mom rief Grand Austin und Nana Alice an, und Dad danach Granddaddy Jaybird und Grandmomma Sarah. Wie immer zu Ostern würden wir uns in Zephyrs First Methodist Church treffen, um unseren Reverend über der leeren Gruft predigen zu hören.
Als wir endlich einen Parkplatz für unseren Pick-up gefunden hatten, füllte sich die weiße Kirche in der Cedarvine Street bereits. Wir gingen durch den feuchten Dunst auf das Licht zu, das aus den Buntglasfenstern der Kirche strömte. Die Schuhcreme auf unserer feinen Fußbekleidung wurde von der Nässe aufgesogen. Unter dem Dachüberhang an der Eingangstür legten die Kirchgänger ihre Regenmäntel und Schirme ab. Es war eine alte Kirche, 1939 erbaut, deren Kalkanstrich sich löste und graue Flecken zum Vorschein brachte. Normalerweise wurde die Kirche für Ostern frisch geweißelt, aber in diesem Jahr hatte der Regen den Pinseln wie dem Rasenmäher das Handwerk gelegt. Vor dem Gebäude rankte das Unkraut.
»Hereinspaziert, meine Hübsche! Willkommen, Blümchen! Bitte aufpassen, Nudel! Einen schönen Ostermorgen, Sonnenschein!« Das war Dr. Lezander, der die Gemeinde begrüßte. Soviel ich wusste, tat er das jeden Sonntag. Dr. Frans Lezander war der Tierarzt von Zephyr. Er war es gewesen, der Rebel letztes Jahr von starkem Würmerbefall geheilt hatte. Er war Holländer, und obwohl er immer noch mit starkem Akzent sprach, waren er und seine Frau Veronica meinem Dad zufolge schon aus Holland weggezogen, bevor ich überhaupt geboren war. Er war Mitte fünfzig, ungefähr eins-fünfundsiebzig groß, hatte breite Schultern, eine Glatze und einen akkurat getrimmten grauen Bart. Er trug stets schicke dreiteilige Anzüge, immer mit Fliege und einer Nelke in der Brusttasche, und dachte sich für die Gottesdienstbesucher Namen aus. »Guten Morgen, Pfirsichflaum!«, sagte er zu meiner lächelnden Mutter. Und mit einem knöchelzermalmenden Handschlag zu meinem Vater: »Nasses Wetter, was, Donnervogel?« Er drückte mir die Schulter und grinste, dass das Licht an seinem silbernen Schneidezahn aufblitzte: »Hereinspaziert, Bronco!«
»Hast du gehört, wie Dr. Lezander mich genannt hat?«, fragte ich meinen Dad, als wir die Kirche betraten. »Bronco!« Für einen Tag lang einen neuen Namen zu bekommen war stets ein Highlight des Kirchenbesuchs.
Obwohl die Holzflügel der Ventilatoren sich drehten, war die Luft im Sanktuarium abgestanden und feucht. Vorn spielten die Glass-Schwestern auf Klavier und Orgel ein Duett. Die beiden waren die perfekte Definition des Wortes seltsam. Obwohl sie keine eineiigen Zwillinge waren, sahen die altjüngferlichen Schwestern sich so ähnlich wie verzerrte Spiegelbilder. Beide waren lang und dürr, Sonia mit hochaufgetürmten weißblonden Haaren und Katharina mit hochaufgetürmten blondweißen Haaren. Beide trugen Brillen mit breitem schwarzem Gestell. Sonia spielte Klavier, aber nicht Orgel, und bei Katharina verhielt es sich genau andersherum. Je nachdem, wen man fragte, waren die Glass-Schwestern – die ständig aneinander herumzunörgeln schienen, aber in der Shantuck Street zusammen in einem wie ein Lebkuchenhäuschen aussehenden Holzhaus wohnten – achtundfünfzig, zweiundsechzig oder fünfundsechzig. Ihre seltsame Aufmachung wurde von ihrer Kleidung vervollständigt: Sonia trug nichts außer Blau in all seinen Schattierungen, während Katharina sich sklavisch an Grün hielt. Was unweigerlich zur Folge hatte, dass wir Kinder Sonia Miss Blauglas nannten und Katharina … genau, ihr habt es erraten. Aber seltsam oder nicht; sie spielten wunderbar Klavier und Orgel.
Die Bänke waren fast vollbesetzt. Es war so feuchtwarm, dass die Kirche sich wie ein Gewächshaus anfühlte, in dem exotische Hüte blühten. Auch andere Kirchengänger suchten nach Plätzen, und einer der Platzanweiser – Mr. Horace Kaylor, der einen weißen Schnurrbart und ein wanderndes linkes Auge hatte, das gruselig aussah, wenn man es anstarrte – kam durch den Gang auf uns zu, um uns zu helfen.
»Tom! Hier! Herrgott nochmal, bist du blind?«
Auf der ganzen weiten Welt gab es nur einen einzigen Menschen, der in der Kirche wie ein Hirsch zur Brunftzeit losröhrte.
Er stand auf und winkte uns über das Meer von wogenden Hüten mit beiden Armen zu. Ich konnte spüren, wie meine Mutter beschämt den Kopf einzog. Mein Vater legte ihr den Arm um die Schultern, als wollte er ihr das Rückgrat stärken. Granddaddy Jaybird schaffte es jedes Mal seinen nackten Arsch zu zeigen, wie mein Dad es nannte, wenn er dachte, ich würde es nicht hören. Heute würde keine Ausnahme sein.