Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
fragte Ulrich Volkert.
»Vielleicht. Man weiß es nicht genau.«
Dr. Volkert nahm Renis Hand. »Wie stellen Sie sich die Zukunft vor, Frau Reni?«
»Niemand weiß, was morgen geschieht, Dr. Volkert. Hier in Sophienlust darf ich bleiben.« Etwas wie Angst stand dabei in ihren dunklen Augen.
»Gewiss dürfen Sie bleiben«, beruhigte der Arzt sie mit einem freundlichen Lächeln. »Es fragt sich nur, ob Sie es auch wollen.«
»Warum nicht? Frau Rennert, die Heimleiterin, oder Schwester Regine, die sich der Kleinen annimmt, haben hier eine Lebensaufgabe gefunden.«
»Das lässt sich nicht abstreiten. Es ist sogar eine schöne und unendlich wichtige Aufgabe, die diese Frauen erfüllen. Doch Ihr eigener Platz wird eines Tages nicht mehr hier sein.«
Reni zog ihre Hand zurück, die er fest in der seinen gehalten hatte. »Warum sagen Sie das?«, fuhr sie auf. »Sie wissen, dass ich nie nach Hellendorf zurückkehre. Mein Mann sollte endlich die Konsequenzen ziehen. Ich verlange wirklich nicht viel.«
»Verzeihen Sie, ich wollte Ihnen nicht wehtun.«
Ihr Gesicht entspannte sich etwas. »Ich habe bisher immer das Gefühl gehabt, dass Sie mich verstehen, Doktor«, flüsterte sie mit unsicherer Stimme.
»Ja, ich verstehe Sie, Frau Reni«, gab er ruhig zurück. »Wenn Sie Hilfe brauchen sollten, können Sie zu jeder Stunde auf mich zählen.«
Reni sah ihn an. In seinen Augen las sie Güte und Aufrichtigkeit. Von sich aus streckte sie ihm die Hand wieder hin. »Ich glaube, ich muss mich bei Ihnen bedanken, lieber Doktor. Es ist schlimm, wenn man alles verloren hat. Vielleicht werde ich Sie schon bald um Ihre Hilfe bitten.«
»Ich bin immer für Sie da.« Doch zugleich besann Dr. Volkert sich auf seine zahlreichen anderen Pflichten. Er schaute auf die Uhr und äußerte mit leichtem Bedauern, dass er nun aufbrechen müsse. »Nur noch die Spritze, Frau Reni. Das geht ja rasch.« Er öffnete seine Bereitschaftstasche und bereitete die Injektion vor. Wie immer, war der Einstich für Reni kaum zu spüren.
»Brauche ich das Mittel wirklich?«, fragte sie ihn.
»Ich halte es für wichtig. Selbstverständlich werde ich Sie nicht gegen Ihren Willen weiterhin damit behandeln.«
»So meine ich es nicht. Ich vertraue Ihnen.«
»Das ist gut, Frau Reni. Morgen setzen wir einmal aus. Ich bin leider verhindert.«
Ein Schatten von Enttäuschung glitt über Renis Gesicht. »Schade. Ich rede gern jeden Tag ein Weilchen mit Ihnen. Bis übermorgen also, lieber Doktor.«
Ulrich Volkert packte seine Tasche ein und warf noch einen abschiednehmenden Blick auf das Bild Sophie von Wellentins.
»Ich begleite Sie, Doktor«, erklärte Reni, »denn ich will in den Pavillon draußen im Park. Dort spielen die noch nicht schulpflichtigen Kinder. Meine Manuela ist dabei.«
Der Arzt schwieg zu ihren Worten. Reni bemerkte nicht, dass er sich von ihrer Vorliebe für die kleine Manuela wenig Gutes versprach.
*
Denise saß mit Alexander vor dem Kamin von Schoeneich. Es hatte den ganzen Tag geregnet, und der Abend war kühl. Man wärmte sich also nur zu gern am Feuer.
Sascha war wieder in Heidelberg. Nick saß oben in seinem Zimmer und schrieb einen Aufsatz, der morgen abgeliefert werden musste, und Henrik schlief bereits.
Der Hausherr hatte eine Flasche Wein entkorkt und zwei Gläser gefüllt. »Auf dich, Isi«, sagte er und trank seiner Frau zu.
»Ich bin gar nicht zufrieden mit mir«, entgegnete sie mit ernstem Gesicht.
»Wo fehlt’s denn? Willst du mal wieder ein Wunder vollbringen und ärgerst dich, dass du für andere Leute nicht die Sterne vom Himmel holen kannst?«
Denise hob die Schultern. »Es geht um Reni, Alexander. Ich fürchte, es war ein Fehler, sie nach Sophienlust übersiedeln zu lassen.«
»Es wäre das erste Mal, Isi, dass Sophienlust sich ungünstig auswirken würde. Aber wenn Reni sich dort nicht wohlfühlt, kann sie doch jederzeit zu uns zurückkehren. Der Tag muss ohnehin kommen, an dem sie wieder nach Hellendorf geht.«
»Allmählich gebe ich die Hoffnung auf, Alexander. Sie scheint die Absicht zu haben, Sohienlust nie mehr zu verlassen. Sie flieht vor der Wirklichkeit. In der heilen geborgenen Welt von Sophienlust fühlt sie sich wie auf einer Insel, die von dem Schrecklichen, das sie erlebt hat, nicht erreicht werden kann. Die Begegnung mit der kleinen Manuela hat den Anstoß dazu gegeben. Inzwischen hat sich Reni völlig in ihre Vorstellungen versponnen. Ich sehe da eine tragische Entwicklung voraus und weiß nicht, wie ich sie aufhalten soll.«
»Was meint denn der Doktor?«
»Ich habe keinen rechten Mut mehr, mit ihm darüber zu sprechen, Alexander. Er kommt fast jeden Tag und unternimmt lange Spaziergänge mit Reni, sofern es das Wetter erlaubt. Man kann sich nur wundern, wie viel Zeit er für diese eine Patientin opfert. Nick machte heute Nachmittag eine seiner vorlauten Bemerkungen über die beiden.«
»Nick hört gern das Gras wachsen, Isi.«
»Ich bin nicht sicher, ob er so unrecht hat, Alexander. Er sagte in seiner schnodderigen Art, dass die nächste Hochzeit in Sophienlust bald fällig sei. Das hat mich ziemlich erschreckt. Immerhin ist Reni noch mit Bodo verheiratet. Bodo wartet auf sie und erträgt die Trennung mit bewundernswerter Geduld.«
»Das ist richtig. Allerdings lässt er sich wohl von Frau Berner trösten.«
Denise sah ihren Mann vorwurfsvoll an. »Nun bläst du ins gleiche Horn! Nick hatte bereits eine fertige Theorie, mit der ich jedoch ganz und gar nicht einverstanden bin. Zuerst eine Scheidung von Reni und Bodo, denn zwei Hochzeiten – eine in Hellendorf, die andere in Sophienlust. Danach würden Reni und der Doktor Manuela adoptieren. Für das kleine Mädchen wäre das doch das große Glück.«
»Warum findest du diese Lösung so schrecklich, Isi? Manchmal ist eine Scheidung unvermeidlich. Dann sollte man vernünftig sein und sie akzeptieren.«
»Ich glaube nicht daran, dass es zwischen Reni und Bodo keine Gemeinsamkeit mehr gibt. Wenn Dr. Volkert mehr für sich will als Renis Vertrauen als Patientin, dann enttäuscht er mich gewaltig. Man hört leider ab und zu davon, dass solche Beziehungen entstehen. Reni ist innerlich vereinsamt. Der Arzt, dem sie jeden Tag ihr Herz ausschütten kann, hat im Grunde ein leichtes Spiel bei ihr. Wenn er sich einmal in die hübsche Reni verliebt hat, wird er die Augen davor verschließen, dass sie krank ist. Doch die Liebe zu Bodo ruht tief verschüttet in ihr. Es wäre ein großes Unrecht, wenn Dr. Volkert das außer acht ließe.«
»In solchen Dingen bist du weiser als ich, Isi. Vielleicht hilft die Zeit.«
»Die Zeit kann auch alles schlimmer machen, Alexander. Ich sehe die Gefahr, dass Reni sich immer mehr von dem entfernt, was wirklich geschehen ist. Gestern hörte ich zufällig, dass sie Manuela heimlich Gitti nennt, wenn sie sich unbeobachtet glaubt.«
»Solltest du das nicht dem Arzt andeuten, Isi?«
»Ja, das wäre wohl richtig. Wenn ich ihm noch voll vertraute, hätte ich es schon getan. Ich habe es gut gemeint, als ich Reni bei mir behalten wollte. Jetzt kommt es mir fast so vor, als wäre sie in einer Klinik besser aufgehoben gewesen.«
Alexander stand auf und umarmte seine Frau. »Du darfst nicht verzagen, Isi. Sollten Manuelas Eltern sich melden, wird Reni sich sowieso von der Kleinen trennen müssen. Vielleicht wird ihr das die Augen öffnen. Es gibt auch Schocks, die heilsam sind.«
»Wir haben schon allerlei versucht, um eine Nachricht von Manuelas Eltern zu erhalten. Bis jetzt konnten wir nichts erfahren. Frau Cortez hat nicht den Eindruck auf mich gemacht, dass sie ihr Töchterchen gewissermaßen abschieben möchte. Deshalb muss man wohl befürchten, dass etwas Unvorhergesehenes geschehen ist.«
»Wir wollen nicht gleich das Schlimmste befürchten,