Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
Erzählen Sie bitte!«
»Dann sollte ich wohl bei Lilo beginnen. Früher haben wir uns gedutzt. Sie ist vier Jahre älter als ich und war mit meinem Bruder Hasso befreundet, als sie noch ein junges Mädchen war. Vielleicht hatte sie Torschlusspanik bekommen, als ihre Schwester Jan Campen heiratete, jedenfalls zeigte sie es Hasso ein bisschen zu deutlich, dass sie geheiratet werden wollte. Vielleicht war es auch etwas anderes, dass er sich von ihr trennte. Er hat nie darüber gesprochen, und seit zwei Jahren ist er nun mit der richtigen Frau verheiratet. Lilo hat mich seither wie eine Fremde behandelt. Das macht mir zwar nichts aus, aber seit Rubinchen hier ist, muss auch das Kind darunter leiden. Wir haben uns nämlich auf Anhieb gemocht.«
»Rubinchen ist ein reizender Name, so reizend wie das Kind selbst«, warf Denise ein.
Nanni erklärte ihr, wie der Name entstanden war, und sie sagte auch, dass Lilo abwechselnd Ruth oder Sabine sagte.
»Schon mit den Namen zeigt sie ihre Launen. Sabine sagt sie nur höchst selten. Einmal hat mir die Kleine schon ihr Herzchen ausgeschüttet, aber es ergibt sich nur höchst selten eine Gelegenheit, allein mit ihr zu sprechen, und seit Lilo das Kind wie verrückt trainiert, was ich nicht nur für unsinnig, sondern auch für schädlich halte, ist es ganz aus.«
»Und der Vater? Duldet er das denn?«
»Herr Campen ist schon seit Monaten in der Türkei. Deswegen hat er Rubinchen seiner Schwägerin in Obhut gegeben. Ruth, Rubinchens Mutter, ist bei der Geburt gestorben. Sie war ganz anders als Lilo. Sie war meine Freundin. Jan Campen kenne ich nur flüchtig. Er hat jetzt eine Bombenstellung, und soviel ich weiß, liebt er sein Kind auch sehr. Ich glaube nicht, dass er damit einverstanden wäre, was Lilo mit dem Kind treibt. Was mich aber besonders nachdenklich stimmt, ist die Tatsache, dass Lilo jetzt des Öfteren mit diesem Mr Miles zusammensteckt. Er ist Manager einer Eisrevue.«
»Du lieber Himmel«, sagte Denise erschrocken, »sie wird doch nicht schon Kapital aus dem Kind schlagen wollen?«
»Das eben fürchte ich. Nun, vielleicht kann Rubinchen heute entwischen und ich erfahre mehr.«
Denise überlegte. »Wir werden morgen noch früher ins Stadion gehen«, sagte sie. »Vielleicht komme ich mit dieser Lilo ins Gespräch. Sie haben mich neugierig gemacht, Nanni.«
Aber das war es nicht allein. Denise hatte ein Herz für Kinder und besonders für jene, die nicht unbeschwert Kind sein durften. Nicht umsonst nannte man Sophienlust das Haus der glücklichen Kinder.
*
Rubinchen staunte, wie freundlich Tante Lilo heute mit ihr war. Sie bekam Kalbschnitzel, die sie besonders gern mochte, ihr Knie wurde bandagiert, und Lilo raffte sich sogar zu ein paar mitfühlenden Worten auf. Rubinchen sah die Möglichkeit, ihr zu entwischen, allerdings immer mehr schwinden.
»Schreiben wir an Daddy?«, fragte sie.
»Dazu habe ich heute keine Zeit«, erwiderte Lilo. »Ich muss noch dein Kleidchen für morgen fertig machen. Ach ja, du könntest von Frau Brühl einen Reißverschluss holen. Das wird dein Bein wohl nicht zu sehr anstrengen.«
In diesem Augenblick tat es gar nicht mehr weh, denn von dem kleinen Laden der Frau Brühl war es wirklich nicht weit bis zu den Willbrechts. Rubinchen sah einen Silberstreif am Horizont.
»Ich kann ja langsam gehen«, sagte sie schlau. »Hinfallen darf ich nicht noch einmal, wenn ich morgen laufen soll.«
»Du bist ja ganz vernünftig«, meinte Lilo, und ihr schmaler Mund, der schon ein bisschen verkniffen wirkte, lächelte.
Rubinchen schlüpfte in die langen Hosen und zog ihren Anorak an. Frühzeitig war sie zur Selbstständigkeit erzogen worden.
»Binde den Schal um, damit du kein Halsweh bekommst«, sagte Lilo mahnend.
Rubinchen tat widerspruchslos, was man von ihr verlangte. »Kann ich noch etwas für dich besorgen, Tante Lilo?«, fragte sie.
»Ein paar Krapfen kannst du uns mitbringen. Die magst du doch.«
Von so viel Freundlichkeit wurde Rubinchen verblüfft. Sie überlegte, ob das wohl auch mit dem fremden Mann zusammenhing. Vielleicht wollte Lilo mit ihm ausgehen. Langsam ging Rubinchen die Straße entlang, bis sie vom Haus aus nicht mehr zu sehen war. Dann lief sie schneller.
Vielleicht findet Lilo doch einen, der sie heiratet, dachte sie. Dann wird sie endlich nicht mehr davon reden, dass es für mich das Beste wäre, wenn Daddy sie heiraten würde. Der Gedanke, dass Tante Lilo Daddys Frau werden könnte, ängstigte sie, aber Daddy hatte so etwas nie verlauten lassen.
Nun sah sie das Haus der Willbrechts und dachte nicht mehr an Tante Lilo, denn Pipp kam ihr schon entgegengelaufen, als hätte er sie längst gewittert.
»Lieber Pipp«, sagte sie zärtlich und kraulte ihm den Kopf, und dann sah sie Nanni. Ein glückliches Leuchten kam in die schönen Augen des Kindes.
»Ich muss etwas holen, und darum konnte ich schnell kommen«, rief sie.
»Hast du dir heute Morgen arg wehgetan?«, fragte Nanni besorgt.
»Es geht schon«, erwiderte Rubinchen. »Muss ja morgen laufen, vor all den vielen Leuten am Nachmittag.«
Erschrocken sah Nanni das Kind an. »Willst du das?«
»Tante Lilo will es«, erwiderte Rubinchen seufzend. »Ich kann nichts machen. Ich habe bloß Angst, dass ich mich blamiere. Ich möchte so gern spielen.« Sehnsüchtig wanderten die Augen zu den beiden Jungen, die jetzt näher kamen.
»Bleib doch hier«, rief Henrik, der es gehört hatte.
Rubinchen schüttelte den Kopf.
»Meine Tante wartet«, sagte sie. »Vielleicht darf ich übermorgen kommen, wenn ich morgen gut laufe.«
»Dann fahren wir schon bald wieder weg«, sagte Henrik enttäuscht.
»Nanni, ich möchte dir gern etwas sagen«, flüsterte Rubinchen.
»Du kannst mir alles sagen.«
Des Kindes Blick verdunkelte sich. »Ich muss aber schnell wieder heim«, erwiderte es.
»Dann begleite ich dich ein Stück.«
Henrik wollte auch hinterherlaufen, aber Nick hielt ihn zurück. Er hatte begriffen, dass das kleine Mädchen etwas auf dem Herzen hatte, was sie nicht jedem erzählen wollte. Und so war es auch. »Weißt du, Nanni, Tante Lilo hat gesagt, dass Daddy es gern will, wenn viele Leute mir zuschauen. Sie sagt, dass er das geschrieben hat. Aber sie hat mir einen ganz alten Brief von Daddy vorgelesen, in dem das stehen soll, und vorher hat es da nicht dringestanden. Ist das Lüge?«
Was sollte Nanni dazu sagen? Sie traute es Lilo ohne Weiteres zu, dass sie so etwas tat, wenn es ihren eigenen Zielen nützlich war.
»Vielleicht hast du dich getäuscht und es war doch ein anderer Brief, Rubinchen«, sagte sie beklommen.
»Aber Daddy hat mich doch lieb. Er weiß doch, dass ich es gar nicht mag, wenn die Leute mich anschauen.«
»Er wird aber auch stolz sein auf sein begabtes Töchterchen«, meinte Nanni.
»Wir sind doch aber immer nur zum Spaß gelaufen, und mit Daddy war das auch schön«, sagte Rubinchen. »Ich muss mir so viel den Kopf zerbrechen. Jetzt bin ich schon bald sechs Jahre, aber ich möchte so gern noch fünf bleiben, Nanni. Am liebsten möchte ich jetzt gar nicht mehr Schlittschuh laufen.«
Nanni verspürte eine tiefe Verzweiflung. Sie konnte dem Kind nicht helfen. Sie musste es mit billigem Trost abspeisen. Sie wusste genau, dass Lilo Lüdke noch unnachsichtiger werden würde, wenn sie sich einmischte.
»Ich möchte auch zu gern wissen, warum Tante Lilo dich nicht mag«, sinnierte Rubinchen. »Vielleicht weil du so hübsch bist und die Männer dir immer nachschauen.«
»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, mein Kleines«, sagte Nanni. »Morgen sind wir wieder im Stadion, ganz früh.«
»Danke«,