Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
»Liest du mir Daddys Brief bitte noch einmal vor, Tante Lilo?«, fragte sie.
»Heute nicht. Du musst ruhen«, sagte Lilo. »Es war dumm von mir, es dir überhaupt zu sagen. Dein Vater wird es sich sicher noch anders überlegen.«
»Vielleicht hat er sie sehr lieb«, flüsterte Rubinchen. »Ob er sie lieber hat als mich?«
Lilo wünschte diese Yasmin gewiss zum Teufel, andererseits überlegte sie aber auch schon, was sie tun könnte, damit Jan Rubinchen bei ihr ließ. Sie sollte ihn vielleicht noch einmal nachdrücklich darauf hinweisen, dass das Klima in der Türkei dem Kind gar nicht zuträglich sein würde.
Und das wollte sie ihm gleich heute schreiben. In ihr war eine schreckliche Unruhe. Sie hatte Sorge, dass Rubinchen patzen würde, und Gordon Miles das Interesse an ihr verlor.
Sie sah das Kind schon als Eisstar, und sie würde auch einen Teil des Erfolges honoriert bekommen. Heute würde man ihren Namen schon nennen, wenn Rubinchen angekündigt wurde. Miles arrangierte das bestimmt großartig. Er war überhaupt ein großartiger Mann. Warum sollte sie ihre Gedanken eigentlich noch an Jan verschwenden?
Sie musste heute äußerlich wirken. Als sie einen langen Blick in den Spiegel geworfen hatte, kam es ihr zum Bewusstsein, dass sie nicht viel dafür getan hatte.
»Ich gehe jetzt zum Friseur«, sagte sie zu Rubinchen. »Schlaf jetzt.«
Das war leicht gesagt. Wie konnte sie schlafen mit all den wirren Gedanken und der Angst, die sie vor den vielen Leuten hatte? Wenn sie allein lief, war das ganz anders.
Sie wartete, bis Lilo das Haus verlassen hatte, dann setzte sie sich ans Fenster. Der Himmel war wolkenverhangen. Bestimmt würde es wieder schneien. Und kalt würde es sein! Fröstelnd zog sie die Schultern zusammen.
Und da sah sie auf der Straße Nanni daherkommen. Pipp trottete neben ihr her.
Rubinchen vergaß alle Vorsicht. Sie öffnete das Fenster und rief laut: »Nanni!«
Nanni hob den Kopf. Sie war sichtlich verwirrt. Aber sie blieb stehen.
»Ich komme runter«, rief Rubinchen. Es war ihr ganz gleich, ob jemand sie hörte.
Nanni zögerte. Ihr Herz klopfte schnell, als sie über die Straße ging und in der Eingangstür des Hauses stehen blieb. Pipp setzte sich brav neben sie.
Rubinchen kam schon. »Tante Lilo ist beim Friseur«, sagte sie. »Komm doch herein, Nanni. Ich muss dich etwas fragen.
»Ich möchte nicht, dass du geschimpft bekommst, Rubinchen«, sagte Nanni.
»Mir ist alles egal«, platzte das Kind heraus. »Daddy will heiraten. Sie heißt Yasmin, und sie ist so was wie eine Türkin, und Tante Lilo will, dass ich dann bei ihr bleibe. Ich weiß gar nicht, was ich tun soll, Nanni. Ich kann Daddy doch nicht schreiben. Ich kann doch noch gar nicht schreiben. Würdest du das für mich tun? Bitte, bitte! Du kannst ihm doch schreiben, dass ich dich darum gebeten habe.«
»Ich habe seine Adresse nicht, Rubinchen«, sagte Nanni.
»Ich hole sie dir. Bitte, tue es. Schreib ihm, dass ich nicht immer bei Lilo bleiben will. Was sie ihm schreibt, weiß ich doch nicht.«
»Gut, ich werde ihm schreiben«, sagte Nanni, um das erregte Kind zu beruhigen.
Rubinchen lief die Treppe hinauf und kam bald atemlos mit einem Briefumschlag zurück.
»Da ist er«, flüsterte sie. »Und bitte, drück mir heute Nachmittag die Daumen. Ich habe solche Angst.«
Nanni nahm sie liebevoll in die Arme. »Ich werde immerzu an dich denken, Kleines«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Ich möchte dir so gern helfen, Rubinchen. Ich weiß doch nicht, wie ich das tun kann.«
»Mein Bein tut so weh. Viel schlimmer als gestern. Es ist ganz heiß. Ach, Nanni, wenn du doch meine Tante wärst!«
Es klang wie ein Aufschrei in tiefster Herzensnot. Nanni fühlte, wie ihre Augen feucht wurden. Ich muss etwas tun, dachte sie. Ich kann dieses Kind nicht im Stich lassen. Sie spürte, wie Rubinchen bebte.
»Wenn ich gut laufe, darf ich mit anderen Kindern spielen«, flüsterte sie. »Ich muss ganz gut laufen, Nanni.«
»Ich werde dort sein«, sagte Nanni leise. »Wir alle werden dort sein.«
»Dann wird es schon gehen«, erwiderte Rubinchen. »Danke, Nanni.«
*
Nanni hatte am Nachmittag darauf gedrängt, dass sie früh genug zum Eisstadion gingen, obgleich sie sich ihre Platzkarten schon gesichert hatten. Pipp musste diesmal daheim bleiben. Er war tief gekränkt und zeigte das deutlich, indem er sich vor den Kamin legte und keine Notiz mehr von Nanni nahm.
Nanni hatte lange grüne Hosen an und eine rote Jacke, die schmeichelnd ihr gebräuntes Gesicht mit einem hochgestellten Kragen einrahmte.
Denise von Schoenecker war in ihrem dunklen Mantel unglaublich attraktiv anzusehen. Mit ihrem interessanten Mann an der Seite waren sie wohl das Paar, dem am meisten Beachtung geschenkt wurde, und auch der bildhübsche Nick erntete schon bewundernde Blicke.
Denise wurde es manchmal ganz bange, wenn auch reifere Mädchen so offensichtlich seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen suchten. Aber dazu lachte Alexander von Schoenecker nur.
»Dieser Kindskopf merkt das doch gar nicht«, flüsterte er seiner Frau leise zu.
Die Halle war bald bis auf den letzten Platz gefüllt, nur direkt vor Nanni und den Schoeneckers waren noch zwei Plätze frei. Ausgerechnet Mr Miles und eine recht junge Begleiterin nahmen dort Platz.
Nanni, die bisher geistesabwesend auf die spiegelblanke Eisfläche gestarrt hatte, geriet in eine fieberhafte Spannung, als sie einige Worte aus der Unterhaltung der beiden auffing. Sie sprach Englisch, aber das beherrschte Nanni perfekt.
Sie entnahm dem Gespräch, dass die junge Dame Bedenken hatte wegen Rubinchens sehr jungen Jahren.
»Sieh sie dir erst einmal an, Jane«, bemerkte er, da ertönte auch schon ein Tusch. Grell hallte darauf eine Stimme durch den Lautsprecher. Die Gäste wurden willkommen geheißen. Dann kam auch schon die erste Ankündigung, die Nanni Herzklopfen bereitete.
»Sozusagen als Aperitif präsentieren wir Ihnen, verehrte Gäste, einen aufgehenden Stern am Eislaufhimmel. Ruth-Sabine Campen, fünf Jahre jung, Rubinchen genannt, und, wie Sie sehen werden, wahrhaft ein Juwel. Trainiert wird die junge Dame von Frau Lilo Lüdke.«
Dann schwebte Rubinchen in einem roten Kleidchen auf die Eisfläche. Klein und verloren stand sie da, so rührend hilflos, dass Nanni am liebsten zu ihr geeilt wäre, um sie dem Scheinwerferlicht zu entreißen.
Die Leute klatschten, und an Nannis Ohren rauschten Ausrufe vorbei. »Wie süß! Ach, ist die niedlich! Goldig!«
Dann lief das kleine Rubinchen nach der russischen Volksweise »Kalinka« das von Lilo mit so großer Zähigkeit einstudierte Programm. Sie tanzte und sprang, und was ihr an Routine und Kraft fehlte, machte sie durch ihre rührende Zerbrechlichkeit wett. Man klatschte im Takt und auch gegen den Takt der Musik, und Nanni hielt sich die Ohren zu.
Zum Schluss kam die Pirouette. Nanni sah, dass das Kind fast am Zusammenbrechen war, aber als der tosende Beifall emporbrandete, sah sie wie durch einen Schleier Lilo an der Bande stehen, die Rubinchen wohl noch zu einer Zugabe bewegen wollte. Ohne eine Sekunde zu überlegen, sprang Nanni auf. Nick und Henrik sahen sie ganz erschrocken an, als sie an ihnen vorbeihastete, und Denise bemerkte beunruhigt, dass sie geradewegs auf Lilo Lüdke zueilte.
Rubinchen hielt sich das Knie, als sie die Eisfläche verließ. Sie winkte mit der anderen Hand schüchtern.
Die Leute klatschten immer noch.
»Du musst noch eine Zugabe geben«, sagte Lilo eben zu dem Kind, als Nanni neben ihr auftauchte.
»Das wird sie nicht«, sagte Nanni scharf. »Sie werden es bitter bereuen, wenn Sie das Kind dazu zwingen. Ich schrecke vor einem Skandal nicht