Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
haben etwas gegen die Tante«, bemerkte er.
»Sehr richtig«, erwiderte Nanni kühl. »Wenn Sie es genau wissen wollen, habe ich eine Mordswut auf sie. Sie hat das Kind gepeinigt bis zum Umfallen. Trotz der Knieverletzung musste Rubinchen heute laufen. Was sagt der Arzt dazu?« Ihre Augen blitzten ihn feindselig an.
»Ich hätte es nicht erlaubt«, sagte Dr. Belling. »Auf mich brauchen Sie doch nicht auch böse zu sein. Ich möchte dem Kind doch helfen.«
»Dann unterstützen Sie mich bitte in meinen Bemühungen, Lilo Lüdke von Rubinchen fernzuhalten.«
»Wenn sie aber darauf besteht, dass die Kleine in die Klinik kommt?«
»Dann sagen Sie, dass sie nicht transportfähig ist. Das können Sie doch.«
»Versuchen will ich es ja«, erklärte er.
Nun fand Nanni ihn schon sympathischer. Sympathisch sah er wirklich aus. Er war auch nicht so robust wie Dr. Hellmers.
»Jedenfalls freut es mich, Sie einmal persönlich kennengelernt zu haben«, sagte er verlegen. »Bisher hatte ich dazu noch keine Gelegenheit. Sie sind Krankengymnastin, wie ich hörte.«
»Ja, aber ich war ein Weilchen auswärts. Wir werden sicher noch öfter miteinander zu tun haben«, sagte Nanni. »Was kann ich noch für Rubinchen tun?«
»Wenn das Fieber steigt, machen Sie bitte Wadenwickel. Ich werde morgen früh wiederkommen. Wie war doch die Adresse von Fräulein Lüdke?«
»Hangstraße 14«, sagte Nanni. »Aber bitte Frau Lüdke!«
Sie lächelte flüchtig.
Dr. Belling musste langsam fahren, denn die Schneewehen waren noch stärker geworden. Als er zur Hangstraße 14 kam, öffnete ihm auf sein Läuten niemand. Er versuchte es mehrmals und wartete noch ein paar Minuten. Er wusste nicht, dass Lilo Lüdke währenddessen in der Bongo-Bar saß und Rubinchen völlig vergessen hatte.
*
Nanni hatte die ganze Nacht an Rubinchens Bett gewacht. Sie hatte die kleine Hand gehalten und auf die Atemzüge des Kindes gelauscht.
Als das fahle Morgenlicht in das Zimmer kroch, kam ihre Mutter. »Leg dich jetzt ein bisschen hin, Nanni«, sagte sie besorgt.
»Nein, ich warte, bis Dr. Belling kommt«, sagte Nanni.
»Dann mache ich uns einen Kaffee«, sagte Frau von Willbrecht seufzend.
Pipp hatte nur den Kopf gehoben, als sie eintrat, und ein paar Mal mit dem Schwanz auf den Vorleger geschlagen.
»Du hast wohl auch keinen Hunger?«, fragte Annemarie von Willbrecht. Pipp gähnte. Sein Kopf sank wieder auf die Vorderpfoten zurück.
»Nerven hat Lilo schon«, sagte Annemarie von Willbrecht, »aber das hat sie schon bei Hasso bewiesen.«
Sie ging aus dem Zimmer, doch Nanni folgte ihr jetzt. »Was war eigentlich der Grund, dass Hasso Schluss mit ihr gemacht hat?«, fragte sie ihre Mutter.
»Kein Mann lässt sich gern an die Kandare legen, Kindchen«, sagte die ältere Frau. »Hasso lässt sich nicht gern kommandieren, das weißt du. Mir behagt die ganze Geschichte nicht, Nanni. Sie wird uns das Haus einrennen.«
»Sie wird gar nicht hereinkommen«, erklärte Nanni energisch.
»Da bin ich nicht so sicher«, sagte Annemarie von Willbrecht seufzend.
»Ich habe gestern an Jan Campen geschrieben«, sagte Nanni, während ihre Mutter die Kaffeemaschine in Betrieb setzte. »Ich werde noch ein Telegramm hinterherschicken. Jemand muss Rubinchen doch helfen. Wir können doch nicht zuschauen, Mutti, wie dieses Kind aus Geldgier gequält und ausgenutzt wird.«
»Du siehst vielleicht zu schwarz, Nanni.«
»Nein, ich habe Verschiedenes gehört. Lilo wird mit Rubinchen auf Reisen gehen, wenn wir es nicht verhindern. Sie verhandelt schon mit einem Manager.«
»So schnell wird die Kleine nicht gesund werden. Reg dich doch nicht so schrecklich auf, Nanni. Vielleicht zahlst du nur drauf bei dieser Geschichte. Hier, trink eine Tasse Kaffee.«
Nannis Hände umschlossen die heiße Tasse, die fast ihren Händen entglitt.
»Ich werde Herrn Campen vorschlagen, dass er Rubinchen nach Sophienlust gibt«, sagte sie. »Dort wäre sie am besten aufgehoben. Ich will nicht, dass sie sich zu sehr an mich gewöhnt, das darfst du nicht denken, Mutti.«
Sie ging schnell aus der Küche und wieder zurück zu Rubinchen, die nun mit weit offenen Augen in ihrem Bett lag und ihr Ärmchen nach Nanni ausstreckte.
Nanni umfing den schmalen, bebenden Körper des Kindes liebevoll. »Geht es wieder besser?«, fragte sie flüsternd. »Kannst du dich jetzt wieder erinnern?«
»Ich kann schon, aber ich will nicht«, sagte Rubinchen. »Aber mit dir kann ich nicht fremd tun, Nanni. Hilfst du mir?«
»Ja, ich helfe dir, mein Liebling«, sagte Nanni zärtlich.
*
Gegen sieben Uhr kam Dr. Belling. »Die Nacht war ganz gut«, sagte Nanni, »aber Rubinchen kann sich an nichts erinnern. Sie erkennt nicht einmal mich.«
Er sah sie skeptisch an, sagte aber nichts. Er untersuchte das Kind.
»Eine tüchtige Erkältung wird sie schon bekommen«, stellte er fest, »aber an einer Lungenentzündung kommen wir wohl vorbei.«
Rubinchen blinzelte bloß. »Ich bin müde, so müde«, sagte sie.
»Du hast viel Zeit zum Schlafen«, erklärte er.
Sie gingen wieder aus dem Zimmer. Nanni sah ihn erwartungsvoll an.
»Was hat Lilo gesagt?«, fragte sie.
»Ich habe sie gar nicht erreicht. Es hat niemand geöffnet. Sehr merkwürdig, finden Sie nicht?«
Natürlich fand Nanni das merkwürdig, aber sie sagte noch immer nichts davon, dass sie Lilo mit Gordon Miles vor der Bongo-Bar gesehen hatte.
Nachdem Dr. Belling wieder gegangen war, duschte sich Nanni und kleidete sich um.
»Wohin willst du denn?«, fragte Frau von Willbrecht. »Du solltest lieber schlafen.«
»Ich fahre zur Post und gebe ein Telegramm an Herrn Campen auf«, erwiderte Nanni. »Schaust du nach Rubinchen, Mutti?«
Frau von Willbrecht nickte.
*
Lilo erhob sich mit schwerem Kopf, als der Wecker läutete. Es war sieben Uhr. Erst um vier Uhr morgens war sie nach Hause gekommen. Benommen taumelte sie in das Bad, um sich dann erst zu erinnern, was gestern gewesen war.
Sie hatte einen schalen Geschmack im Mund, trank ein paar Schluck kaltes Wasser und duschte sich ab. Sonst weckte sie Rubinchen immer vorher, aber beim Duschen fiel ihr ein, dass sie heute Morgen nicht trainieren wollten. So ging sie, in den Frotteemantel gehüllt, in die Küche, um Kaffeewasser aufzusetzen. Dabei wurden ihr die Ereignisse der Nacht bewusst.
Ihre Augen kniffen sich zusammen, und ihr Mund wurde noch schmaler.
Sie ging nun doch in Rubinchens Zimmer und erstarrte, als sie das Bett leer fand.
»Sabine«, rief sie gellend. »Wo bist du, Sabine?« Alles blieb still.
Sie suchte die ganze Wohnung ab, halb irr vor Schrecken. Sie riss die Schränke auf, schaute unter die Betten. Doch das Kind war nicht da. Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand Lilo Lüdke Angst.
In fliegender Hast kleidete sie sich an und rannte auf die Straße. Aber wen sollte sie fragen? Von überall schienen drohende Schatten auf sie zuzukommen. Das hatte ihr Gordon Miles eingebrockt. Seinetwegen hatte sie das Kind allein gelassen!
Wie lange war Rubinchen überhaupt schon fort? Sie hätte es nicht sagen können. Miles musste ihr helfen.
Sie stand vor dem