Gabriele Reuter – Gesammelte Werke. Gabriele Reuter
die Schweißtropfen rannen ihr von der Stirn und Tränen über die Wangen. Instinktiv presste sie die Hand auf die rechte Seite der Brust, wo sie einen leisen Schmerz fühlte. Man sprang mit besorgten Mienen von den Stühlen. Mühsam erhob sich Agathe, um sich vor all diesen teilnehmenden Blicken zu retten. Sie spürte einen fremden, unheimlichen Geschmack auf der Zunge – da – das war Erleichterung …
Sie hielt ihr Tuch an den Mund – es färbte sich dunkelrot.
Blut …
Entsetzt, hilfesuchend sah sie ihre Mutter an. Frau Heidling stützte sie und führte sie hinweg. Mit einer ruhigen, tröstenden Stimme sagte sie: »Du legst Dich still hin – dann wird sich’s schon beruhigen. Das kommt wohl mal vor.«
Sie bettete die Tochter, hielt sie im Arm, als ein neuer Anfall kam, und hatte ein Lächeln, indem sie ihre Wangen streichelte und sagte: »Armes Kind, hast Du Dich geängstigt? Das sieht gleich so schrecklich aus. Nicht wahr? Das kommt ja so oft vor.«
Agathe lächelte auch. Ja – ja – sie wusste schon – das kam oft vor.
Alles war gut so – ganz friedevoll und gut.
Nur die Aussicht, das Erlebte jahrelang heimlich mit sich weitertragen zu müssen, hatte sie so aufgeregt und zerrissen.
Da – sie tastete mit der Hand – da unter dem rechten Schlüsselbein – wenn sie atmete, fühlte sie ein leichtes Rasseln an der Stelle. Kaum Schmerzen.
Sterben war ja gar nicht schwer – war ja ein müdes Aufgeben – ein gleichgültiges sich Abwenden von allem …
Die Augen geschlossen, ein wenig fiebernd, lag sie, nachdem der alte Sanitätsrat, der mit dem Wagen aus der Stadt geholt war, sie verlassen hatte.
Nicht reden – nichts erklären zu brauchen – ach – das war gut.
Auf Zehen schlich jemand ins Zimmer, sie kannte ihres Vaters Schritt, aber sie öffnete die Lider nicht. Er küsste sie auf die Stirn – behutsam – sie fühlte warme Tropfen über ihre Schläfe rinnen. Da quollen ihr auch die Tränen. Er wischte sie ihr fort und murmelte: »Mein gutes Kind – meine gute Kleine!«
Mama, die in einer großen weißen Schürze vor dem Bette saß, machte ihm ein stummes Zeichen, beide gingen leise, leise wieder hinaus und standen flüsternd vor der Tür.
»Der Herr Rat sagt, wenn Du hübsch vorsichtig sein willst, bist Du in vierzehn Tagen wieder munter«, erzählte Mama mit der heiteren Stimme, die so seltsam von ihrem gewöhnlichen, sorgenvollen, müden Ton abstach, und die sie nur annahm, wenn eine große Gefahr ganz nahe stand, doch durch Selbstbeherrschung und Verständigkeit vielleicht noch abgewendet werden konnte. Agathe erinnerte sich dieser besonderen, sanftheiteren Sprechweise ihrer Mutter von den Kranken- und Sterbebetten ihrer kleinen Geschwister her.
*
Wie gut es tat, so zu ruhen, umspielt von der linden Frühlingsluft, die zu den geöffneten Fenstern bald die kräftigen Gerüche der Landwirtschaft, bald die zarten Düfte des jungen Laubes an der großen Linde hereintrug. Keine Schmerzen – nur eine leichte fieberische Verwirrung des Denkens, das in halben Schlummer überging. Und alles Erlebte so ferne – aus einem früheren Dasein mit verblassten Farben herüberdämmernd.
Auf dem Tischchen neben ihr standen Blumen, Flieder und Kamelien. Cousine Mimi brachte sie täglich frisch aus dem Gewächshaus. Die kostbaren Blumen, die nur bei den seltensten Gelegenheiten geopfert wurden – das hatte so etwas Feierliches, wie letzter Liebesdienst.
Sie war doch nicht verlassen – man hätte sie gerne noch behalten. Und sie hatte ein Bedürfnis nach Zärtlichkeit …
Auch ein Bild des Heilandes hatte Mimi an ihrem Lager aufgestellt, sie wollte ja Diakonissin werden, und ihr Sinnen, ihr ganzes Wesen war von einer heiteren und bestimmten Glaubenskraft erfüllt.
Agathe sah gerne auf das edle gesenkte Haupt unter der Dornenkrone. Sie betete viel – stumm mit gefalteten Händen. Es war ihr dem Gottessohn gegenüber wie einem hohen wundervollen Menschen, von dem man viel hat erzählen hören – aber man glaubte doch niemals, von Person zu Person ihn kennen zu lernen. Und da meldet er plötzlich seine nahe Ankunft – und nun fühlt man erst, was das besagen will.
*
Eugenie schrieb einen langen, teilnehmenden Brief. Sie erzählte von einer Landpartie, die am zweiten Ostertage stattgefunden hatte.
»Es war recht schade, dass Du nicht dabei warst. Herr von Lutz fragte auch nach Dir und lässt Dir gute Besserung wünschen. Er war ganz verrückt und machte der dummen Wehrenpfennig den Hof – aber, wie jeder sehen konnte, nur zum Spaß. Die Daniel ist übrigens nach Schluss der Saison anderweitig engagiert und geht von hier fort …«
Mama las Agathe den Brief vor und sah sie liebevoll an. Ein mattes Lächeln blieb auf den abgezehrten, scharf und schmal gewordenen Zügen der Kranken.
Nun hatte sie auch diese Prüfung bestanden … Sie fühlte sich stark in aller Schwäche – sie hatte seinen Namen gehört und nach dem ersten Augenblick, in dem es ihr gewesen war, als sinke sie mit ihrem Lager hinab in ein dunkles kaltes Wasser, war sie ruhig geblieben.
Gott sei Dank – kein Neid und kein Hass auf die Daniel war mehr in ihr – und auch keine Hoffnung und kein Wunsch.
Wie das gut tat.
Auch das Glück war doch im Grunde Schmerz gewesen.
Ob sie noch viel leiden würde? So leicht konnte das Sterben doch nicht sein? Sie musste jetzt oft darüber nachdenken, besonders in der Nacht, wenn sie stundenlang nicht schlief. Es mussten noch Kämpfe kommen. Sie wollte mutig sein.
Nach den heftigen Anfällen, die sie niedergeworfen hatten, war der Husten fast verschwunden. Aber in einer Nacht, als Mama ihr zu trinken gab, weil der Mund ihr sehr trocken war, fiel er sie plötzlich wieder an. Sie setzte sich aufrecht. Ach, war das ein Schrecken. Keuchend rang sie mit dem Feinde, der sie schüttelte und ihr die Brust schmerzlich zerriss. Die Luft ging pfeifend durch ihren Hals – sie schlug mit den Armen um sich in der Erstickungsnot – ihre Mutter hielt sie aufrecht und wischte ihr, tief seufzend, die vom kalten Schweiß genässte Stirn.
Der Regierungsrat kam, eilig und flüchtig bekleidet, aus dem Nebenzimmer.
»Mein Kind – mein Kind – was ist denn nur geschehen?«
»Lasst mich doch sterben«, keuchte Agathe. »Lasst mich doch sterben – es ist ja bald vorüber. O Gott! O mein Gott!«
Jetzt hielt der Vater sie, die Mutter sank vor dem Bett auf die Knie, fasste ihre Hände und küsste sie mit lautem, leidenschaftlichem Schluchzen.