Gabriele Reuter – Gesammelte Werke. Gabriele Reuter
wurde –?
Der Wunsch überwältigte sie bis zur Atemlosigkeit, ähnlich jenem, der sie einst als Kind heimlich in der Nacht zur Leiche der Mitschülerin getrieben hatte.
Wenn nur jetzt niemand sie störte – fasste es nicht wieder draußen an die Klingel Eugenie? Nein – es ging vorüber.
Gott sei Dank!
Wie unsinnig, Gott zu danken für etwas, das doch unrecht war … Aber so froh ist sie lange nicht gewesen, als nun, da die Hefte und die losen Blätter im Schein der schnell entzündeten Lampe vor ihr liegen: Schwarze Hefte mit roter Schrift – rote mit schwarzen Buchstaben und seltsamen Sinnbildern geschmückt: eine Hand, die eine Fackel schwingt, ein Weib mit einer Freiheitsmütze und einem bloßen Schwert, ihr zu Füßen zerbrochene Kronen, gestürzte Kreuze, – ein Thron, durch dessen klaffende Fugen Schlangen und Würmer kriechen.
Sie las im Stehen.
Verse … Gott – solche Dichter hatten die …?
Ja, ja – tausendmal ja! Das war schön – wild, herrlich! –
*
Und wenn sie morgen, statt nach Bornau zu reisen, Martin, in die Schweiz folgte? – Ihr Vater bekam einen Brief: seine Tochter habe sich entschlossen, Sozialdemokratin zu werden und »der Sache« ihre Dienste zu widmen. Martin würde sie freudig als Genossin empfangen. Das war sicher. – Keine Liebe zwischen ihnen. Zwei Unglückliche, die dem Volke ihre gebrochenen Herzen weihten. Elend zu Elend. Das gehörte zusammen! Lutz würde dann wissen, was er verloren – sie suchen und niemals finden … Vielleicht im Zuchthaus … Vielleicht auf dem Schaffot. Dahin würde es kommen, Walter sagte es ja immer. Der Bruder zu ihrer Exekution beordert. Sie – ruhig, lächelnd, ohne Tränen. Gott! mein Gott!
Aber sie konnte so stehend nicht weiter lesen. Der Rücken tat ihr zu weh. Die Arme waren ihr wie gelähmt vom Hantieren mit den schweren Wäschestücken. – zwölf Tischtücher waren es allein gewesen.
Die Mädchen würden noch lange nicht wiederkommen, sie hatten drei Körbe mit, und außerdem fanden sie auf der Rolle immer Freundinnen, mit denen sie endlos schwatzten. Das kleine Vergnügen war ihnen zu gönnen. Dorte und Luise erschienen ihr plötzlich wie von einer heiligen Würde umleuchtet – sie waren geplagte Proletarierinnen.
Agathe legte sich behaglich auf die Chaiselongue und zog die Lampe näher. Da stand noch der Rest von dem Wein, den sie sich vorhin eingeschenkt hatte, und kleine Kuchen lagen auf einem Tellerchen. Sie war brennend durstig und aß und trank, während sie las und las – von dem Elend und dem Hunger und der Not des Volkes und ihrem Hass und dem Ringen nach Befreiung.
Die Leidenschaft, die aus den Blättern sprühte, stieg ihr zu Kopf und jagte ihr das matte Blut durch die Adern.
Einmal schrak sie jäh zusammen – sie glaubte, es überraschte sie jemand.
Die Mädchen kamen keuchend zurück, sie trieften vor Nässe, denn es regnete stark. Küchen-Dorte ging brummend in ihre Kammer. Aber Wiesing huschte noch einmal hinaus ins Dunkel, wo einer wartend in der Nähe der Haustür stand und heftige Küsse das feuchte Mädchen wärmten. Agathe fasste die Hefte und nahm die Lampe, um das ihr anvertraute Gut in ihrem Zimmer zu verbergen. Sie kam an dem großen Stehspiegel vorüber. Wie sie aussah … Sie stand still und hob die Lampe empor. Das Haar hatte sie zerwühlt, es hing ihr in losem, dicken Gelock um das heiße Gesicht, die Wangen schienen wie von der Sonne durchglüht, und ihre Augen strahlten in Begeisterung – sie war sich selbst überraschend in dieser ihr fremden, leuchtenden Schöne.
Sähe Lutz sie so!
Warum kam er nicht in dem Augenblick … Ach …! warum war das unmöglich!
Warum konnte sie nicht zu Martin?
Ein kurzer, schluchzender Schrei, und das Mädchen warf sich lang auf das kleine Sofa nieder – die Arme weit hinausgebreitet in dem hilflosen Begehren nach etwas, das sie an die Brust drücken konnte – nach der Empfängnis von Kraft, von dem befruchtenden Geistesodem, der im Frühlingssturm über die Erde strömt.
Rings um sie her standen die zierlichen, hellen Möbel still und ordentlich auf ihren Plätzen, der kleine Lampenschein glimmerte durch rosa Papierschleier auf den gläsernen und elfenbeinernen Nippsachen, den Fotografien und Kotillonandenken. Und die ganze niedliche kleine Welt – ihre Welt sah sie verwundert an. – Die ausgebreiteten Arme sanken ihr nieder, ein wildes verzweifeltes Weinen beruhigte endlich den Krampf, der sie schüttelte.
XV.
In der Charwoche fuhr Agathe nach Bornau. Während sie ihr Billet löste, stand eine kleine Dame in diskreter schwarzer Toilette neben ihr und wartete, bis der Zugang zum Schalter frei wurde. Ein grauer Gazeschleier verhüllte ihr Gesicht, doch erkannte Agathe Fräulein Daniel.
Wohin mochte sie fahren? Wenn sie nun beide in dasselbe Coupé gerieten? Ob Lutz in der Nähe war?
Er hatte sie nicht begleitet!
Das heftigste Triumphgefühl durchdrang Agathe.
Die Daniel war viel vornehmer gekleidet, als sie selbst. Und Lutz legte so großen Wert auf diese Äußerlichkeiten!
Agathe wurde vom Schaffner in ein schon fast gefülltes Damencoupé geschoben. Wo die Daniel einstieg, konnte sie nicht mehr beobachten. Sie war enttäuscht, als ihr die Sensation entging, mit der Schauspielerin zusammen zu fahren. Ihre Gedanken beschäftigten sich, eine Szene auszumalen, die zwischen ihnen hätte entstehen können, wenn die Daniel, allein mit ihr im Wagen, ihr vorgeworfen hätte, sie raube ihr Adrians Herz.
Es war schon später Nachmittag. Ehe man die Station erreichte, wo Agathe den Zug wechseln musste, hielt die Lokomotive auf offenem Felde. Wartend, miteinander flüsternd, standen die Schaffner im Regen.
Und das ist Frühling, dachte Agathe, die flach sich dehnende, braune, von blassgrünen Feldstreifen durchzogene, nebelfeuchte Landschaft betrachtend, – das soll Frühling sein. –
Sie interessierte sich nicht besonders für die Ursachen ihres unvorhergesehenen Aufenthaltes. Irgendwie musste die Sache schon in Ordnung gebracht werden und man ans Ziel kommen.
Pfeifen und langsames Weiterfahren – nach kurzer Zeit stand der Zug abermals, die Türen wurden aufgerissen.
»Aussteigen!!«
Bahnbeamte, ein paar Schutzleute wiesen den Weg und gaben Antwort.
Das Gleis war nicht