Gabriele Reuter – Gesammelte Werke. Gabriele Reuter
die Daniel nicht … Applaudierte er auf eine nachlässige, diskrete Weise, so tauchten seine schmalen, weißen, unruhigen Hände gleichsam körperlos aus dem Dunkel der Loge hervor.
Dann hörte Agathe Bemerkungen unter ihren Nachbarn über seine Beziehungen zur Daniel.
»… Er soll ihr schon seit Jahren den Hof machen, aber sie weist ihn konsequent ab.«
»– So – so – da werden doch auch andere Dinge geredet. Eine Zeit lang war sie ganz auffällig von der Bühne verschwunden – es ist übrigens schon lange her.«
»Ja – damals hatte sie ein Halsleiden.«
»Ach – die Halsleiden der Schauspielerinnen …«
»Im übrigen hat er im letzten Sommer der Professor Wallis in Norderney rasend die Cour gemacht …«
»Lieber Gott, was will denn das besagen?«
Solche Redensarten bereiteten Agathe ein unerträgliches Weh. Wie konnten die Leute nur über ihn reden wie über einen beliebigen jungen Mann?
*
Inzwischen wurde die Begegnung mit ihm, die das Mädchen sich zu jeder Stunde fieberhaft wünschte, Eugenie zu teil. Sie erzählte ihrer Schwägerin davon, ein spöttisches Lächeln huschte um ihren Mund.
»Ich habe heute Deinen Lutz gesprochen.«
»Du –? Wo?« fragte Agathe atemlos.
»Höchst komisch war’s. Ich hole mir bei dem Musikschmidt neue Noten … Außerdem habe ich noch zwei Pakete, Muff – Schirm. Dazu mein Kleid aufzunehmen. Ich versuchte, das alles mit meinen zwei einzigen Händen festzuhalten. Wer kommt, als ich die Stufen runtersteige? Lutz! – bemerkt meine Bemühungen – lächelt. Er hat übrigens ein entzückendes Lächeln. Und denke Dir – ich Gans! Lasse meine Notenblätter unter dem Arm hervorrutschen – ihm gerade zu Füßen – alle auseinander geflattert. Er bückte sich natürlich und wir haben sie dann ganz artig vom Schnee wieder aufgesucht. – Ich dankte ihm für seine Mühe und er antwortete: ›O – bitte sehr!‹ – Wenn er dieses bitte sehr zu Dir gesagt hätte – was Agathe?«
Sie brach in Tränen aus.
»Mein Gott – geht’s Dir denn so tief?« rief Eugenie erschrocken.
»– Ich habe ihn mir um Deinetwillen ziemlich genau angesehen«, begann sie verständig. »Es ist einer von den Gefährlichen – das ist keine Frage. Aber Kind – glaubst Du denn, dass Du auch nur einen Gedanken mit dem Manne gemein hast?«
»Ich hab’ ihn lieb«, murmelte Agathe leise. Eugenie seufzte. Sie schnippte zierlich mit den Fingern ein Brosämlein von ihrer neuen Tischdecke und ihre Bewegung deutete an, sie lege nicht viel mehr Wert auf das Gefühl, von dem Agathe bewegt wurde, als auf diesen spärlichen Überrest eines genossenen und abgetragenen Mahles.
XIII.
Gegen Ende des Winters veranstaltete die Gesellschaft von M., hauptsächlich auf Frau Eugenies Betreiben, einen großartigen Kostümball. Man wollte zugleich wohltätig sein, die Einnahmen einer Roulette sollten den unter der harten Kälte leidenden Armen zu Gute kommen.
Durch Fräulein von Hennings Vermittelung gab Lutz Skizzen und Radierungen zu diesem Zwecke und erteilte aus der Ferne guten Rat. Eine Aufforderung, dem Komitee beizutreten, lehnte er schaudernd ab.
Durch ein hohes Eintrittsgeld war dafür gesorgt, dass die Öffentlichkeit des Festes nicht missbraucht werde und unerwünschte Elemente fern blieben.
Menschengewoge füllte das größte Balllokal der Stadt, man fand das Arrangement, das den Kostümfesten der Malerstädte nachgebildet war, ungeheuer originell.
Agathe tanzte mit dem Assessor Raikendorf. Aus der sich stoßenden und schiebenden Menge retteten sie sich bald und zogen es vor, nahe der Eingangstür des Saales plaudernd nebeneinander zu stehen. Agathe hatte die Technik ihres Berufes als junge Dame der Gesellschaft endlich, wenn auch schwerer als ihre Freundinnen, beherrschen gelernt.
Es kam zwar immer noch vor, dass sie sich im Ton vergriff – sie gab in offenbarer Verachtung ihres Partners zu wenig, warf ihm gleichsam nur leere Nussschalen zu, oder in belebter angeregter Stimmung enthüllte sie zu viel Persönliches, und setzte die jungen Referendare und Lieutenants, die nur auf konventionelle Antworten gefasst waren, in peinliche Verlegenheit. Sie war nun einmal keine von den einfachen Mädchen, deren inneres Wesen genau in die Schablone der frischen Tänzerin passt, und die sich ungescheut geben können, wie sie sind, ohne Erstaunen oder Missfallen zu erregen.
Das hatte der gewiegte Frauenkenner, der Assessor Raikendorf, zufällig entdeckt. Nun reizte es ihn. Man wusste schon, dass er sich gern mit Fräulein Heidling unterhielt. Diese heimlich-leidenschaftliche Opposition gegen ihre ganze Umgebung, von der das Mädchen selber noch nicht einmal die Tiefe, die Ausdehnung und die Gefahr kannte – das war sehr amüsant.
In Agathe war noch ein gehöriges Teil von der Abneigung, welche sie auf ihrem ersten Ball gegen ihn gefasst hatte, zurückgeblieben. Der zornige Hass machte sie gewandt und scharf.
Weil ihre Eltern fortwährend klagten, sie brauche zu viel für ihre Toilette, hatte sie bei einer alten Verwandten ein florentinisches Kostüm geborgt, das schon in den dreißiger Jahren von Italien nach Deutschland gebracht worden war. Verblasst in den Farben, hatte es sich doch sauber und vollständig erhalten: der dunkle Tuchrock, die rote Jacke, das aus Metall gebogene, mit vergilbter Seide überzogene Brustmieder, das volle Spitzentuch um Hals und Schultern – der silberne Haarpfeil und der eigentümliche, des Mädchens Antlitz mit zarten, weißen Schleiern umrahmende Kopfputz – sie ahnte nicht, wie ausgezeichnet der Anzug zu ihr passte, wie sie so mit ihren schönen Zügen und den tiefen braunen Augen das norditalienische Modell einer vergangenen, historisch gewordenen Kunstrichtung darstellte.
Fremd und vornehm stand sie unter den schreiend bunten mit Gold und Silber überladenen Masken.
Vor einer Weile hatte sie im Vorzimmer Lutz und Fräulein Daniel bemerkt, die sich von einigen Schauspielern verabschiedeten. Fräulein Daniel, in einfacher Gesellschaftstoilette, war augenscheinlich nur zu einem kurzen Rundgang erschienen. Lutz trug schon den Winterüberzieher und den kleinen schwarzen Hut auf dem hellen Kopf – er wollte wohl die Daniel heimbegleiten. Agathe glaubte, er sei gegangen.